Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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gewesen wäre, sie so aufzunehmen und zu empfinden wie später in dem Augenblick der letzten überwältigenden Traurigkeit und Verzweiflung. Jetzt war der geeignete Augenblick noch nicht da.

      Ich hätte noch an diesem Tag zu Ichmenews gehen können, und es trieb mich auch dazu; aber ich tat es doch nicht. Ich hatte die Empfindung, daß es dem alten Mann peinlich sein werde, mich zu sehen; er konnte sogar denken, ich sei absichtlich infolge der Begegnung so bald gekommen. Ich ging erst zwei Tage darauf zu ihnen; der Alte war in trüber Stimmung, empfing mich aber ziemlich ungezwungen und redete immer von geschäftlichen Dingen.

      »Sag doch mal, zu wem gingst du denn damals, so hoch oben; du erinnerst dich wohl, wir trafen uns – wann war es doch gleich? – vorgestern, meine ich«, fragte er auf einmal in lässigem Ton, wandte aber doch die Augen von mir weg zur Seite.

      »Es wohnt da ein Freund von mir«, antwortete ich, ebenfalls seitwärts blickend.

      »Soso! Und ich suchte meinen Schreiber Astafjew; es war mir dieses Haus bezeichnet worden … aber ich hatte mich geirrt … Nun, also ich sagte dir von meinem Prozeß: das Gericht hat dahin entschieden, daß …« usw.

      Er wurde ganz rot, als er von seinem Prozeß zu reden anfing.

      Ich erzählte das alles noch an demselben Tag seiner Frau, um ihr eine Freude zu machen, und bat sie unter anderem, ihm jetzt nicht mit besonderem Ausdruck ins Gesicht zu sehen, nicht zu seufzen, keine Anspielungen zu machen, kurz, in keiner Weise zu zeigen, daß sie von seinem letzten ungewöhnlichen Schritt Kenntnis habe. Die alte Frau war so erstaunt und erfreut, daß sie mir zuerst nicht einmal glauben wollte. Ihrerseits erzählte sie mir, sie habe ihrem Mann bereits Andeutungen über die Waise gemacht; aber er habe geschwiegen, obwohl er sie doch früher immer selbst gebeten habe, das Mädchen ins Haus zu nehmen. Wir beschlossen, sie solle ihn am folgenden Tag geradezu, ohne alle Vorreden und Andeutungen, darum bitten. Aber am folgenden Tag befanden wir uns beide in schrecklicher Angst und Unruhe.

      Die Sache war die, daß Ichmenew am Vormittag mit einem Beamten gesprochen hatte, der in seinem Prozeß tätig gewesen war. Der Beamte hatte ihm mitgeteilt, er habe ein Gespräch mit dem Fürsten gehabt; der Fürst werde zwar Ichmenewka für sich behalten, beabsichtige aber, ›infolge gewisser Familienverhältnisse‹, den Alten zu entschädigen und ihm die zehntausend Rubel herauszugeben. Von dem Beamten kam der Alte geradenwegs zu mir gelaufen; er war in furchtbarer Erregung; seine Augen funkelten nur so vor Wut. Er rief mich (ich wußte nicht recht, warum) aus der Wohnung auf die Treppe heraus und verlangte energisch, ich solle unverzüglich zum Fürsten gehen und ihm eine Forderung zum Duell überbringen. Ich war so überrascht, daß es lange dauerte, bis ich mich gefaßt hatte. Ich wollte ihm vernünftig zureden; aber der alte Mann geriet in eine solche Wut, daß ihm übel wurde. Ich lief in die Wohnung hinein, um ein Glas Wasser zu holen; aber als ich zurückkam, fand ich ihn nicht mehr auf der Treppe.

      Am anderen Tag begab ich mich zu ihm; aber er war nicht mehr zu Hause; er war für ganze drei Tage verschwunden.

      Am dritten Tag erfuhren wir alles. Von mir war er geradenwegs zum Fürsten geeilt, hatte ihn aber nicht zu Hause angetroffen und einen Brief dagelassen; in dem Brief hatte er geschrieben, er habe die von ihm dem Beamten gegenüber getane Äußerung erfahren; er halte dieselbe für eine tödliche Beleidigung und den Fürsten für einen gemeinen Menschen und fordere ihn aus diesen Gründen zum Duell; er warne ihn dabei vor einer Ablehnung der Forderung, da er ihn in diesem Fall öffentlich beschimpfen werde.

      Anna Andrejewna erzählte mir, er sei bei seiner Rückkehr nach Hause so aufgeregt und angegriffen gewesen, daß er sich sogar habe zu Bett legen müssen. Gegen sie sei er sehr zärtlich gewesen, habe aber auf ihre Fragen nur wenig geantwortet, und es sei augenscheinlich gewesen, daß er mit fieberhafter Ungeduld auf irgend etwas wartete. Am anderen Morgen sei ein Brief mit der Stadtpost gekommen; nachdem er ihn gelesen, habe er aufgeschrien und sich an den Kopf gefaßt. Sie, Anna Andrejewna, sei halbtot gewesen vor Angst. Aber er habe sogleich Hut und Stock ergriffen und sei davongelaufen.

      Der Brief war vom Fürsten. Trocken, kurz und höflich erklärte er Ichmenew, daß er für das, was er zu dem Beamten gesagt habe, niemandem Rechenschaft schulde. Obwohl er Ichmenew wegen des verlorenen Prozesses sehr bedauere, könne er doch dem im Prozeß Unterlegenen nicht die Berechtigung zuerkennen, seinen Gegner zum Duell zu fordern. Die ihm angedrohte öffentliche Beschimpfung anlangend, bitte er Herrn Ichmenew, sich darüber keine Sorge zu machen, da eine öffentliche Beschimpfung nicht stattfinden werde und nicht stattfinden könne; sein Brief werde sofort gehörigen Ortes vorgelegt werden, und die benachrichtigte Polizei werde gewiß imstande sein, die erforderlichen Maßregeln zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung zu treffen.

      Mit dem Brief in der Hand stürzte Ichmenew sogleich zum Fürsten. Der Fürst war wieder nicht zu Hause; aber der Alte erfuhr von dem Lakaien, daß der Fürst jetzt wahrscheinlich beim Grafen N. sei. Ohne sich lange zu besinnen, lief er zum Grafen. Der Portier des Grafen hielt ihn an, als er die Treppe hinaufsteigen wollte. In maßloser Wut schlug ihn der Alte mit dem Stock. Sogleich wurde er gepackt, vor die Haustür geschleppt und der Polizei übergeben, die ihn zur Wache brachte. Dem Grafen wurde der Vorfall gemeldet. Aber als der anwesende Fürst dem alten Wüstling erklärte, dies sei eben jener Ichmenew, der Vater eben jener Natalja Nikolajewna (der Fürst hatte dem Grafen schon öfter ›auf diesem Gebiet‹ gute Dienste geleistet), da lachte der vornehme Herr nur und ging vom Zorn zur Milde über: er gab Anweisung, Ichmenew laufenzulassen; aber die Entlassung desselben erfolgte seitens der Polizei erst am dritten Tag. Dabei wurde, wahrscheinlich auf Anordnung des Fürsten, dem Alten mitgeteilt, der Fürst selbst habe den Grafen gebeten, gegen ihn Gnade walten zu lassen.

      Der Alte kehrte in einem an Wahnsinn grenzenden Zustand nach Hause zurück, warf sich aufs Bett und lag eine ganze Stunde lang da, ohne sich zu bewegen; endlich erhob er sich und erklärte zu Anna Andrejewnas Schrecken feierlich, daß er seine Tochter ›auf ewig‹ verfluche und ihr seinen väterlichen Segen versage.

      Anna Andrejewna war aufs äußerste erschrocken; aber sie mußte dem Alten Beistand leisten, und selbst fast ohne Besinnung, wartete und pflegte sie ihn diesen ganzen Tag und fast die ganze Nacht über, benetzte ihm den Kopf mit Essig und legte ihm Eis auf. Er hatte Fieberhitze und redete irre. Ich verließ die beiden erst nach zwei Uhr nachts. Aber am anderen Morgen stand Ichmenew auf und kam gleich an demselben Tag zu mir, um Nelly endgültig zu sich zu nehmen. Aber über die Szene, die sich zwischen ihm und Nelly abspielte, habe ich schon berichtet; diese Szene erschütterte ihn aufs tiefste. Nach Hause zurückgekehrt, legte er sich wieder ins Bett. All dies trug sich am Karfreitag zu, auf welchen die Zusammenkunft Katjas und Nataschas angesetzt war, am Tag vor Aljoschas und Katjas Abreise aus Petersburg. Bei dieser Zusammenkunft war ich zugegen; sie fand am frühen Vormittag statt, noch bevor der Alte zu mir kam und noch bevor Nelly ihren ersten Fluchtversuch unternahm.

      Sechstes Kapitel

      Aljoscha war schon eine Stunde vor der Zusammenkunft gekommen, um Natascha zu benachrichtigen. Ich meinerseits kam gerade in dem Augenblick, als Katjas Equipage vor der Haustür vorfuhr. Bei Katja war die alte Französin, die auf vieles Bitten hin und nach langem Zaudern endlich eingewilligt hatte, sie zu begleiten und sie sogar allein zu Natascha hinaufgehen zu lassen, aber nur, wenn Aljoscha dabei sei; sie selbst wollte unten im Wagen warten. Katja rief mich heran, und ohne aus dem Wagen zu steigen, bat sie mich, Aljoscha zu ihr zu rufen. Natascha fand ich in Tränen: Aljoscha und sie, beide weinten. Als sie hörte, daß Katja bereits da sei, stand sie von ihrem Stuhl auf, wischte sich die Tränen ab und stellte sich in großer Aufregung der Tür gegenüber hin. Sie war an diesem Morgen ganz weiß gekleidet. Ihr dunkelblondes Haar war glatt zurückgekämmt und hinten in einen festen Knoten zusammengebunden. Diese Haartracht gefiel mir an ihr immer besonders gut. Als Natascha sah, daß ich bei ihr bleiben wollte, bat sie mich, ebenfalls dem Besuch entgegenzugehen.

      »Bis jetzt ist es mir nicht möglich gewesen, zu Natascha zu kommen«, sagte Katja zu mir, während wir die Treppe hinaufstiegen. »Ich wurde so beobachtet; es war schrecklich. Ganze vierzehn Tage habe ich gebraucht, um Madame Albert zu überreden; endlich hat sie eingewilligt. Und Sie, Sie, Iwan Petrowitsch, sind nicht ein einziges Mal zu mir gekommen! Schreiben konnte ich Ihnen auch nicht, und ich hatte auch keine Lust dazu, da man ja in einem Brief dem anderen doch nichts klarmachen kann. Und wie sehr verlangte mich


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