Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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er selbst war fest davon überzeugt, daß er die Wahrheit sprach und unfehlbar übermorgen aus Moskau zurückkehren werde – aber warum weinte er dann so und verging fast vor Schmerz? Endlich schlug es elf. Ich konnte ihn nur mit Mühe zum Aufbruch überreden. Der Zug nach Moskau ging Punkt zwölf ab. Es blieb ihm nur noch eine Stunde Zeit. Natascha hat mir selbst nachher gesagt, sie könne sich nicht daran erinnern, wie sie ihn zum letzten Male angesehen habe. Ich erinnere mich, daß sie ihn bekreuzte und küßte und dann, das Gesicht in den Händen verbergend, in das Zimmer zurückstürzte. Ich aber mußte Aljoscha ganz bis zu seiner Equipage bringen; sonst wäre er bestimmt wieder umgekehrt und nie die Treppe hinuntergekommen.

      »Meine ganze Hoffnung beruht auf Ihnen«, sagte er zu mir beim Hinuntersteigen. »Mein Freund Wanja! Ich habe mich gegen dich nicht so benommen, wie ich es hätte tun sollen, und bin deiner Liebe niemals wert gewesen; aber sei mir bis zum Ende ein Bruder: liebe sie, verlaß sie nicht, schreib mir alles, möglichst ausführlich und eingehend, schreib möglichst eingehend, damit recht viel darin steht! Übermorgen bin ich wieder hier, bestimmt, ganz bestimmt! Aber dann, wenn ich weg sein werde, dann schreib!«

      Ich half ihm beim Einsteigen in den Wagen. »Auf übermorgen!« rief er mir, schon im Fahren, zu. »Bestimmt!«

      Mit stockendem Herzschlag kehrte ich nach oben zu Natascha zurück. Sie stand mit verschränkten Armen mitten im Zimmer und blickte mich ganz fremd an, als ob sie mich nicht erkenne. Ihr Haar hatte sich unordentlich verschoben; ihr Blick war trüb und unstet. Mawra stand ganz fassungslos in der Tür und sah sie voller Angst an. Auf einmal funkelten Nataschas Augen auf. »Ah, du bist es! Du!« schrie sie mich an. »Du bist jetzt der einzige, der hiergeblieben ist. Du hast ihn gehaßt! Du hast es ihm nie verzeihen können, daß ich ihn liebte. Jetzt stellst du dich wieder bei mir ein! Was willst du? Bist du gekommen, um mich wieder zu trösten, um mich zu überreden, ich möchte zu meinem Vater gehen, der sich von mir losgesagt und mich verflucht hat? Das wußte ich schon gestern, schon seit zwei Monaten! Aber ich will nicht, ich will nicht! Ich selbst verfluche sie! … Geh weg, geh weg, ich mag dich nicht sehen! Weg, weg!«

      Ich sah, daß ich eine Rasende vor mir hatte und daß mein Anblick sie in sinnlose Wut versetzte; ich sagte mir, daß es nicht anders hatte kommen können, und hielt es für das beste, hinauszugehen. Ich setzte mich auf die Treppe, auf die oberste Stufe, und wartete. Manchmal stand ich auf, öffnete die Tür, rief Mawra zu mir und befragte sie; Mawra weinte.

      So vergingen anderthalb Stunden. Ich kann nicht schildern, welche Qualen ich in dieser Zeit durchmachte. Mein Herz war von grenzenlosem Schmerz zerrissen und wollte fast sterben. Auf einmal öffnete sich die Tür, und Natascha kam auf die Treppe herausgelaufen, in Hut und Mantel. Sie war wie von Sinnen und sagte mir später selbst, daß sie sich kaum daran erinnere und nicht wisse, wohin sie habe laufen wollen und was sie vorgehabt habe.

      Ich hatte nicht Zeit gehabt, von meinem Platz aufzuspringen und mich irgendwo vor ihr zu verstecken, als sie mich plötzlich erblickte und überrascht vor mir regungslos stehenblieb. »Es kam mir plötzlich zum Bewußtsein«, erzählte sie mir später, »daß ich Wahnsinnige, ich Grausame dich hatte von mir wegtreiben können, dich, meinen Freund, meinen Bruder, meinen Retter! Und als ich sah, daß du Armer, den ich so gekränkt hatte, auf meiner Treppe saßest und nicht fortgingst und wartetest, bis ich dich wieder rufen würde – o Gott, wenn du wüßtest, Wanja, wie mir da ward! Es war mir, als stieße mir jemand ein Messer ins Herz …«

      »Wanja, Wanja!« rief sie und streckte mir die Hände entgegen. »Du hier!…«

      Sie fiel in meine Arme.

      Ich fing sie auf und trug sie ins Zimmer. Sie war ohnmächtig. ›Was soll ich tun?‹ dachte ich. ›Sie wird ein Nervenfieber bekommen; das ist sicher!‹ Ich beschloß, zum Arzt zu eilen; wir mußten der Krankheit vorbeugen. Ich konnte schnell hinfahren; bis zwei Uhr war mein alter Deutscher gewöhnlich zu Hause. Ich fuhr zu ihm, nachdem ich Mawra beschworen hatte, keine Minute, keine Sekunde von Nataschas Seite zu weichen und sie nirgends hinzulassen. Gott half mir: wäre ich einen Augenblick später gekommen, so hätte ich meinen Alten nicht mehr angetroffen. Er hatte seine Wohnung bereits verlassen und begegnete mir auf der Straße. Sofort, ehe er noch hatte von seinem Erstaunen zu sich kommen können, nahm ich ihn in meine Droschke, und wir fuhren zu Natascha zurück.

      Ja, Gott half mir! In der halben Stunde meiner Abwesenheit hatte sich bei Natascha etwas zugetragen, was ihr hätte den Tod bringen können, wenn ich mit dem Arzt nicht noch rechtzeitig eingetroffen wäre. Nach meinem Weggehen war noch nicht eine Viertelstunde vergangen, als der Fürst ins Zimmer trat. Er hatte die Seinigen soeben zum Bahnhof gebracht und war von dort direkt zu Natascha gefahren. Diesen Besuch hatte er vielleicht schon lange vorher beschlossen und überlegt. Natascha selbst erzählte mir später, daß sie im ersten Augenblick über das Kommen des Fürsten nicht einmal verwundert gewesen sei. »Mein Geist war gestört«, sagte sie.

      Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie mit freundlichen, teilnahmsvollen Blicken an.

      »Meine Liebe«, sagte er seufzend, »ich verstehe Ihren Kummer; ich wußte, wie schwer Ihnen in diesem Augenblick ums Herz sein mußte, und hielt es daher für meine Pflicht, Sie zu besuchen. Trösten Sie sich, wenn Sie es vermögen, wenigstens mit dem Bewußtsein, daß Sie durch Ihren Verzicht auf Aljoscha sein Glück geschaffen haben. Aber Sie wissen das besser als ich, da Sie sich ja zu dieser Handlung der Großmut entschlossen haben…‹

      »Ich saß da und hörte ihn reden«, erzählte mir Natascha; »aber am Anfang verstand ich ihn wirklich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich ihn starr und unverwandt ansah. Er ergriff meine Hand und drückte sie in der seinigen. Das war ihm anscheinend eine sehr angenehme Empfindung. Ich aber war meines Geistes so wenig mächtig, daß ich gar nicht auf den Gedanken kam, ihm meine Hand zu entreißen.«

      »Sie haben eingesehen«, fuhr er fort, »daß Aljoscha, wenn Sie seine Frau geworden wären, möglicherweise in der Folgezeit eine Abneigung gegen Sie empfunden hätte, und haben genug edlen Stolz besessen, um den Entschluß zu fassen… aber ich bin ja nicht hergekommen, um Sie zu loben. Ich wollte Ihnen nur versichern, daß Sie nie und nirgends einen besseren Freund finden werden als mich. Ich empfinde Teilnahme für Sie und bedaure Sie. Ich habe wider meinen Willen bei dieser ganzen Angelegenheit mitwirken müssen; aber – ich habe meine Pflicht erfüllt. Ihr schönes Herz wird das verstehen und sich mit dem meinigen aussöhnen. Es war mir schmerzlicher als Ihnen; das können Sie mir glauben.«

      »Genug, Fürst!« sagte Natascha. »Lassen Sie mich in Ruhe!«

      »Gewiß; ich werde sehr bald wieder gehen«, erwiderte er; »aber ich liebe Sie wie eine Tochter und bitte um die Erlaubnis, Sie besuchen zu dürfen. Sehen Sie mich jetzt für Ihren Vater an, und erlauben Sie mir, Ihnen nützlich zu sein!«

      »Ich habe nichts nötig; verlassen Sie mich!« unterbrach ihn Natascha wieder.

      »Ich weiß, daß Sie stolz sind… Aber ich spreche aufrichtig, von Herzen. Was beabsichtigen Sie jetzt zu tun? Sich mit Ihren Eltern zu versöhnen? Das wäre ja eine sehr gute Handlungsweise; aber Ihr Vater ist ungerecht, stolz und despotisch; verzeihen Sie mir, daß ich das sage; aber es ist so. In Ihrem Elternhaus werden Ihrer jetzt nur Vorwürfe und neue Qualen warten… Sie müssen unabhängig bleiben, und es ist meine Pflicht, meine heilige Pflicht, jetzt für Sie zu sorgen und Ihnen beizustehen. Aljoscha hat mich beschworen, Sie nicht zu verlassen und Ihr Freund zu sein. Aber auch außer mir gibt es noch Leute, die Ihnen außerordentlich ergeben sind. Ich meine, Sie werden mir erlauben, Ihnen den Grafen N. vorzustellen. Er besitzt ein vorzügliches Herz und ist ein Verwandter von uns, ja man kann sogar sagen der Wohltäter unserer ganzen Familie; er hat viel für Aljoscha getan. Aljoscha hat ihn sehr verehrt und geliebt. Er ist ein sehr vielvermögender Mann, von großem Einfluß, schon sehr bejahrt, und Sie können ihn als junges Mädchen unbedenklich empfangen. Ich habe ihm bereits von Ihnen gesprochen. Er kann Ihre Verhältnisse ordnen und wird Ihnen, wenn Sie wollen, eine schöne Stelle bei einer seiner Verwandten verschaffen. Ich habe ihm schon vor längerer Zeit unsere ganze Angelegenheit offen und unverhohlen vorgetragen, und in der Güte und dem Edelmut seines Herzens bittet er mich jetzt selbst, ich möchte ihn Ihnen möglichst bald vorstellen. Er ist ein Mann, der für alles Schöne Sympathie empfindet, glauben Sie mir das, ein freigebiger, achtungswerter alter Herr, der das Verdienst zu schätzen weiß


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