Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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so redete, küßte sie mich immer; aber zum Großvater zu gehen, davor fürchtete sie sich sehr. Sie lehrte mich auch für den Großvater beten und betete selbst für ihn und erzählte mir noch vieles, wie sie früher mit dem Großvater gelebt habe, und wie der Großvater sie sehr liebgehabt habe, lieber als alles andere auf der Welt. Sie habe ihm abends etwas auf dem Klavier vorgespielt und ihm Bücher vorgelesen, und der Großvater habe sie geküßt und ihr viele Sachen geschenkt … alles mögliche habe er ihr geschenkt, und einmal hätten sie sich deswegen sogar erzürnt, an Mamas Namenstag. Der Großvater habe nämlich gedacht, Mama wisse noch nicht, was er ihr schenken werde; Mama habe es aber schon längst gewußt. Mama habe gern ein Paar Ohrringe haben wollen, und der Großvater habe sie immer absichtlich zu täuschen gesucht und gesagt, er werde ihr keine Ohrringe schenken, sondern eine Brosche. Und als er nun die Ohrringe gebracht und gesehen habe, daß Mama es schon wußte, daß es Ohrringe sein würden und nicht eine Brosche, da habe er sich sehr darüber geärgert, daß Mama es vorher gewußt habe, und habe einen halben Tag lang nicht mit ihr gesprochen; aber dann sei er von selbst gekommen und habe sie geküßt und um Verzeihung gebeten …« Nelly erzählte sehr eifrig, und es spielte sogar eine leichte Röte auf ihren blassen, kranken Wangen.

      Offenbar hatte ihre Mama oftmals mit ihrer kleinen Nelly von ihren früheren glücklichen Tagen gesprochen, wenn sie im Kellergeschoß in ihrem Verschlag saß und ihr Töchterchen (den einzigen Trost, der ihr im Leben geblieben war) umarmte und küßte und, sich über sie beugend, weinte. Und sie hatte dabei nicht geahnt, wie stark diese ihre Erzählungen auf das krankhaft empfindliche, früh entwickelte Gemüt des kranken Kindes wirkten.

      Aber Nelly, die sich von ihrer Erzählung hatte hinreißen lassen, kam auf einmal zur Besinnung, blickte mißtrauisch im Kreise herum und verstummte. Der Alte runzelte die Stirn und trommelte von neuem auf dem Tisch; in Anna Andrejewnas Augen schimmerten ein paar Tränen, die sie schweigend mit dem Taschentuch wegwischte.

      »Mama kam hier sehr krank an«, fügte Nelly leise hinzu. »Sie hatte heftige Brustschmerzen. Wir suchten den Großvater lange und konnten ihn nicht finden; wir selbst wohnten im Kellergeschoß, in einem Verschlag.«

      »Eine Kranke in einem Verschlag im Kellergeschoß!« rief Anna Andrejewna.

      »Ja … in einem Verschlag …« antwortete Nelly.

      »Mama war arm. Mama sagte mir«, fügte sie, lebhafter werdend, hinzu, »es sei keine Sünde, arm zu sein; eine Sünde sei es, reich zu sein und anderen Unrecht zu tun … Sie sei von Gott gestraft worden.«

      »Ihr wohntet wohl auf der Wassili-Insel? Das war wohl bei der Bubnowa, nicht wahr?« fragte der Alte, sich an mich wendend, und suchte einen gewissen lässigen Ton in seine Frage zu legen. Er fragte, als sei es ihm peinlich, so stumm dazusitzen.

      »Nein, nicht dort; zuerst wohnten wir in der Mjeschtschanskaja«, erwiderte Nelly. »Da war es sehr dunkel und feucht«, fuhr sie nach kurzem Stillschweigen fort, »und Mama wurde sehr krank; aber sie konnte damals noch gehen. Ich wusch ihr die Wäsche; sie aber weinte viel. Da wohnten auch eine alte Kapitänswitwe und ein pensionierter Beamter; der kam immer betrunken nach Hause, und jede Nacht machte er Geschrei und Lärm. Ich fürchtete mich sehr vor ihm. Mama nahm mich zu sich ins Bett und umarmte mich und zitterte manchmal selbst am ganzen Leib, wenn der Beamte schrie und schimpfte. Einmal wollte er die Kapitänswitwe prügeln; die war aber eine ganz alte Frau und ging am Stock. Meiner Mama tat sie leid, und sie trat für sie ein; da schlug der Beamte auch Mama und ich den Beamten …«

      Nelly hielt inne. Die Erinnerung regte sie heftig auf; ihre Augen funkelten.

      »Herr du mein Gott!« rief Anna Andrejewna; sie fühlte sich von der Erzählung im höchsten Grad gefesselt und ließ kein Auge von Nelly, die sich hauptsächlich an sie wandte.

      »Damals ging Mama aus«, fuhr Nelly fort, »und nahm mich mit. Das war am Tag. Wir gingen immer auf den Straßen umher bis zum Abend, und Mama weinte und ging immer weiter und führte mich an der Hand. Ich war sehr müde; auch hatten wir den ganzen Tag über nichts gegessen. Mama aber redete mit sich selbst, und zu mir sagte sie immer: ›Bleibe arm, Nelly, und wenn ich sterbe, so höre auf niemanden und auf nichts. Geh zu keinem Menschen; bleib allein und arm und arbeite, und wenn du keine Arbeit hast, dann bitte um Almosen, aber zu ihnen gehe nicht!‹ Als es schon ganz dämmrig war, überschritten wir eine große Straße; auf einmal rief Mama: ›Asorka, Asorka!‹, und ein großer Hund, ohne Haare, kam zu Mama gelaufen und winselte und stürzte auf sie zu; Mama aber erschrak heftig, wurde blaß, schrie auf und warf sich vor einem hochgewachsenen alten Mann auf die Knie, der an einem Stock ging und zur Erde blickte. Und dieser hochgewachsene alte Mann war der Großvater, und er war so hager und hatte so schlechte Kleider an. Da sah ich den Großvater zum erstenmal. Der Großvater war ebenfalls sehr erschrocken und war ganz blaß geworden, und als er sah, daß Mama ihm zu Füßen lag und seine Knie umfaßte, da riß er sich los und stieß Mama von sich und stampfte mit dem Stock auf die Steine und ging schnell von uns weg. Asorka blieb noch bei uns und heulte immer und leckte Mama; dann lief er zum Großvater hin, faßte ihn am Rockschoß und wollte ihn zurückziehen; aber der Großvater schlug ihn mit dem Stock. Asorka wollte wieder zu uns laufen; aber der Großvater rief ihn; da lief er dem Großvater nach und heulte immer. Mama aber lag da wie tot; um uns herum sammelten sich Leute; auch die Polizei kam. Ich schrie immer und suchte Mama aufzuheben. Endlich stand sie auf, blickte um sich und folgte mir. Ich führte sie nach Hause. Die Leute sahen uns noch lange nach und schüttelten alle die Köpfe …«

      Nelly hielt inne, um Atem zu schöpfen und Kraft zu sammeln. Sie war sehr blaß; aber in ihrem Blick funkelte eine feste Entschlossenheit. Es war deutlich, daß sie entschlossen war, nun auch alles, alles zu sagen. Sie hatte in diesem Augenblick sogar etwas Herausforderndes an sich.

      »Nun ja«, bemerkte Nikolai Sergejewitsch mit unsicherer Stimme und in gereiztem, scharfem Ton; »nun ja, deine Mutter hatte ihren Vater schwer gekränkt, und er hatte sie verdientermaßen verstoßen …«

      »Das hat Mama zu mir auch gesagt«, fiel Nelly ebenfalls in scharfem Ton ein; »und als wir damals nach Hause gingen, sagte sie immer: ›Das ist dein Großvater, Nelly; ich habe mich gegen ihn schwer vergangen, und er hat mich verflucht; dafür bestraft mich Gott jetzt.‹ Und jenen ganzen Abend und die ganzen folgenden Tage sagte sie immer dasselbe. Aber sie redete, als ob sie von sich selbst nichts wüßte …«

      Der Alte schwieg.

      »Und wie seid ihr denn dann in die andere Wohnung gekommen?« fragte Anna Andrejewna, die immer noch leise weinte.

      »Mama wurde noch in derselben Nacht recht krank, und die Kapitänswitwe fand die Wohnung bei der Bubnowa, und am dritten Tag zogen wir um und die Kapitänswitwe mit uns; und nach dem Umzug wurde Mama ganz bettlägerig und lag drei Wochen lang krank, und ich pflegte sie. Das Geld war uns völlig ausgegangen; die Kapitänswitwe und Iwan Alexandrowitsch halfen uns.«

      »Das ist der Sargtischler, bei dem sie wohnten«, fügte ich zur Erklärung hinzu.

      »Als aber Mama wieder vom Bett aufstand und zu gehen anfing, da erzählte sie mir auch von Asorka.«

      Nelly hielt inne. Der Alte schien sich darüber zu freuen, daß das Gespräch auf Asorka überging.

      »Was hat sie dir denn von Asorka erzählt«, fragte er. Er beugte sich in seinem Lehnstuhl weiter nach vorn, als ob er sein Gesicht noch mehr verbergen und uns nur von unten sehen wolle.

      »Sie redete immer zu mir vom Großvater«, antwortete Nelly; »in ihrer Krankheit sprach sie dauernd von ihm, und auch wenn sie irreredete, war er der Gegenstand. Als sie nun in der Genesung war, da erzählte sie mir, wie sie früher gelebt hatte … und da erzählte sie auch von Asorka. Es hatten nämlich einmal am Fluß vor der Stadt Jungen diesen Asorka an einem Strick hinter sich hergeschleppt, um ihn zu ertränken, und Mama hatte ihnen Geld gegeben und ihnen Asorka abgekauft. Als der Großvater Asorka erblickt hatte, hatte er furchtbar über ihn gelacht. Aber Asorka war wieder entlaufen. Mama hatte angefangen zu weinen; der Großvater war darüber ganz erschrocken gewesen und hatte gesagt, er wolle demjenigen, der Asorka wiederbringe, hundert Rubel geben. Am dritten Tag wurde er wiedergebracht; der Großvater bezahlte die hundert Rubel und gewann seitdem Asorka lieb. Mama aber liebte ihn so, daß sie ihn sogar mit in ihr Bett nahm. Sie erzählte mir, Asorka sei


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