Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский


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nicht gut; du bist wirklich schlecht!«

      Und ohne Hut, wie ich war, lief ich hinter dem alten Mann her. Ich wollte ihn bis ans Tor bringen und ihm wenigstens ein paar tröstende Worte sagen. Während ich die Treppe hinunterlief, glaubte ich immer noch Nellys Gesicht vor mir zu sehen, das bei meinen Vorwürfen erschreckend blaß geworden war.

      Ich holte den alten Ichmenew bald ein.

      »Das arme Mädchen hat Schweres durchgemacht; sie hat ihren eigenen Kummer, das kannst du mir glauben, Wanja; und ich fing zu ihr von dem meinigen zu reden an!« sagte er mit bitterem Lächeln. »Ich habe ihre Wunde wieder aufgerissen. Man sagt, der Satte versteht den Hungrigen nicht; aber ich füge hinzu, Wanja, auch der Hungrige versteht den Hungrigen nicht immer. Nun, adieu!«

      Ich wollte noch von etwas anderem zu reden anfangen; aber der Alte winkte mir mit der Hand ab.

      »Versuche mich nicht aufzuheitern; gib lieber acht, daß dir deine Kleine nicht davonläuft; sie sah geradeso aus«, fügte er mit einer Art von Erbitterung hinzu und entfernte sich von mir mit schnellen Schritten, indem er mit seinem Stock umherschwenkte und auf die Trottoirplatten stieß.

      Er ahnte selbst nicht, daß er richtig prophezeit hatte.

      Wie wurde mir, als ich bei der Rückkehr in meine Wohnung zu meinem Schrecken Nelly wieder nicht zu Hause fand! Ich stürzte auf den Flur hinaus, suchte sie auf der Treppe, rief, klopfte sogar bei den Nachbarn an und fragte nach ihr; ich konnte und wollte nicht glauben, daß sie wieder weggelaufen sei. Und wie hatte sie weglaufen können? Das Haus hatte nur ein Tor; sie mußte an uns vorbeigelaufen sein, während ich mit dem Alten sprach. Aber bald darauf kombinierte ich zu meiner großen Betrübnis, daß sie sich möglicherweise vorher irgendwo auf der Treppe versteckt und dort gewartet hatte, bis ich auf dem Rückweg nach oben wieder vorbeigekommen war; dann mochte sie davongelaufen sein, so daß ich ihr nicht hatte begegnen können. Jedenfalls konnte sie noch nicht weit gekommen sein.

      In starker Unruhe lief ich wieder hinaus auf die Suche; die Wohnung ließ ich für alle Fälle offen.

      Zuallererst begab ich mich zu Masslobojews. Diese traf ich nicht zu Hause, weder ihn noch Alexandra Semjonowna. Ich hinterließ für sie einen Zettel, in dem ich sie von dem neuen Unglück benachrichtigte und bat, wenn Nelly zu ihnen käme, es mich unverzüglich wissen zu lassen. Dann ging ich zu dem Arzt; dieser war ebenfalls nicht zu Hause; die Magd sagte mir, daß Nelly nach ihrem ersten Besuch nicht wieder dagewesen sei. Was sollte ich nun tun? Ich begab mich zur Bubnowa und erfuhr von der mir bekannten Sargtischlerfrau, daß die Wirtin seit dem vorhergehenden Tag wegen irgendeines Deliktes auf der Polizei in Arrest sitze, Nelly aber dort ›seit jener Zeit‹ nicht wieder gesehen worden sei. Müde und erschöpft lief ich wieder zu Masslobojews; dieselbe Antwort: es war niemand dagewesen, und auch sie selbst waren noch nicht zurückgekehrt. Mein Zettel lag auf dem Tisch. Was sollte ich anfangen?

      In tödlicher Angst machte ich mich spätabends auf den Heimweg. Ich sollte an diesem Abend bei Natascha sein; sie selbst hatte mich schon am Vormittag um meinen Besuch bitten lassen. An diesem Tag hatte ich nicht einmal etwas gegessen; der Gedanke an Nelly hatte meine ganze Seele in Unruhe versetzt.

      ›Was soll das nur bedeuten?‹ dachte ich. ›Ist das wirklich eine seltsame Folge ihrer Krankheit? Ist sie vielleicht irrsinnig oder im Begriff, irrsinnig zu werden? Aber, mein Gott, wo mag sie jetzt sein? Wo soll ich sie suchen?‹ Kaum hatte ich das überlegt, als ich plötzlich Nelly einige Schritte von mir entfernt auf der Wosnessenskibrücke erblickte. Sie stand an einer Laterne und sah mich nicht. Ich wollte zu ihr hineilen, blieb aber doch stehen. ›Was tut sie denn hier?‹ dachte ich erstaunt, und da ich wußte, daß ich sie jetzt nicht wieder verlieren würde, so beschloß ich, zu warten und sie zu beobachten. Es vergingen zehn Minuten; sie stand immer noch da und musterte die Passanten. Endlich kam ein gut gekleideter, älterer Herr vorbei, und Nelly trat an ihn heran: ohne stehenzubleiben nahm er etwas aus der Tasche und reichte es ihr hin. Sie verbeugte sich vor ihm. Ich bin nicht imstande auszudrücken, was ich in diesem Augenblick empfand. Mein Herz zog sich qualvoll zusammen, wie wenn etwas Teures, das ich geliebt und gehegt und gepflegt hatte, vor meinen Augen entehrt und beschimpft worden wäre; aber zugleich liefen mir die Tränen über die Wangen.

      Ja, Tränen über die arme Nelly, obwohl ich gleichzeitig von heftiger Entrüstung erfüllt war; sie hatte nicht aus Not gebettelt; niemand hatte sie im Stich gelassen und den Launen des Schicksals preisgegeben; sie war nicht von grausamen Verfolgern weggelaufen, sondern von ihren Freunden, die sie geliebt und für sie gesorgt hatten. Sie wollte anscheinend jemanden durch ihre argen Streiche in Erstaunen oder in Schrecken versetzen; es war, als prahle sie vor jemand damit! Aber etwas Geheimnisvolles reifte in ihrer Seele heran … Ja, der Alte hatte recht: sie hatte Schweres erlitten; ihre Wunde konnte nicht vernarben, und sie suchte absichtlich durch dieses geheimnisvolle Verhalten und durch dieses Mißtrauen gegen uns alle diese ihre Wunde aufzureißen; es war, als fände sie selbst einen Genuß in ihrem Schmerz, in diesem Egoismus des Leidens, wenn man sich so ausdrücken kann. Diese Erneuerung des Schmerzes und der dadurch erzielte Genuß waren mir verständlich: diesen Genuß bereiten sich viele Erniedrigte und Beleidigte, die vom Schicksal niedergetreten sind und sich der Ungerechtigkeit desselben bewußt sind. Aber über welche Ungerechtigkeit von unserer Seite konnte sich Nelly beklagen? Sie wollte uns anscheinend durch ihre argen Streiche, ihre Launen und wilden Exzentrizitäten in Angst und Schrecken versetzen; es war, als prahle sie tatsächlich vor uns damit … Aber nein! Sie war jetzt allein; niemand von uns sah, daß sie bettelte. Fand sie wirklich so ganz für sich allein einen Genuß darin? Wozu hatte sie Almosen nötig? Wozu wollte sie das Geld gebrauchen?

      Nachdem sie die Gabe empfangen hatte, ging sie von der Brücke weg und trat an die hell erleuchteten Fenster eines Ladens. Hier machte sie sich daran, ihre Beute zu zählen; ich stand zehn Schritte von ihr entfernt. Sie hatte eine ziemliche Menge Geld in der Hand; offenbar hatte sie gleich vom Vormittag an gebettelt. Das Geld fest in der Hand haltend, ging sie über die Straße hinüber und trat in einen Kramladen. Ich begab mich sofort an die Tür des Ladens, die weit offen stand, und blickte hinein, was sie da wohl tun werde.

      Ich sah; daß sie Geld auf den Ladentisch legte und daß man ihr eine Tasse gab, eine einfache Teetasse, sehr ähnlich derjenigen, die sie vorher zerschlagen hatte, um mir und dem alten Ichmenew zu zeigen, wie schlecht sie von Charakter sei. Die Tasse kostete vielleicht fünfzehn Kopeken, vielleicht noch weniger. Der Kaufmann schlug sie in Papier, band einen Bindfaden herum und reichte sie Nelly hin, die eilig mit zufriedener Miene den Laden verließ.

      »Nelly!« rief ich, als sie dicht bei mir war. »Nelly!«

      Sie fuhr zusammen, erblickte mich, die Tasse glitt ihr aus den Händen, fiel auf das Pflaster und zerbrach. Nelly war blaß; aber als sie mich ansah und erkannte, daß ich alles gesehen hatte und wußte, errötete sie auf einmal; in dieser Röte bekundete sich ein unerträgliches, qualvolles Gefühl der Scham. Ich nahm sie bei der Hand und führte sie nach Hause; es war nicht weit zu gehen. Wir redeten unterwegs kein Wort. Als wir nach Hause gekommen waren, setzte ich mich hin; Nelly stand vor mir, in Gedanken versunken und verlegen, blaß wie vorher, mit niedergeschlagenen Augen. Sie war nicht imstande, mich anzusehen.

      »Nelly, du hast gebettelt?«

      »Ja«, flüsterte sie und ließ den Kopf noch tiefer sinken.

      »Du wolltest Geld zusammenbringen, um für die heute zerschlagene Tasse eine andere zu kaufen?«

      »Ja …«

      »Aber habe ich dir denn etwa wegen dieser Tasse Vorwürfe gemacht und dich gescholten? Siehst du denn wirklich nicht, Nelly, wieviel Schlechtigkeit, selbstzufriedene Schlechtigkeit in deiner Handlungsweise steckt? Ist das recht von dir? Schämst du dich wirklich nicht?«

      »Ich schäme mich«, flüsterte sie mit kaum vernehmbarer Stimme, und ein Tränchen rollte über ihre Wange.

      »Du schämst dich …« wiederholte ich. »Nelly, liebe Nelly, wenn ich dir etwas zuleide getan habe, so verzeihe mir und laß uns wieder gute Freunde sein!«

      Sie sah mich an; die Tränen stürzten ihr aus den Augen, und sie warf sich an meine Brust.

      In diesem Augenblick trat Alexandra Semjonowna eilig ins Zimmer.

      »Was! Ist sie zu Hause?


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