DECEMBER PARK. Ronald Malfi

DECEMBER PARK - Ronald  Malfi


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lehnte mich gegen die Seitenwand des Bushäuschens. »Wer ist Lucas Brisbee?«, fragte ich noch einmal.

      »Amanda Brisbees großer Bruder«, erklärte Peter. »Er hat vor etwa fünf Jahren seinen Abschluss in Stanton gemacht. Du kennst doch Amanda, oder?«

      »Klar«, meinte ich. Amanda Brisbee war eine Klasse unter uns. Sie war in ihrem ersten Jahr im Feldhockey-Team der Mädchen gewesen, bis sie sich ihre Haare an einer Kopfhälfte abrasierte, anfing, sich die Nägel schwarz zu lackieren, und mit den falschen Leuten abhing. Ich kannte sie hauptsächlich über gemeinsame Bekanntschaften – ich war zufällig mit den falschen Leuten befreundet –, jedoch wechselten wir nie ein Wort.

      »Dann spitzt mal die Lauscher«, leitete Peter ein, und seinem leichten Grinsen nach zu schließen, freute er sich schon darauf, die Story an den Mann zu bringen. »Vergangenen Monat hatte Lucas immer wieder unseren Geschichtsunterricht besucht, um uns vom Golfkrieg zu berichten. Er kam jeden Mittwoch in seinem Camouflage-Overall-Dingens vorbei, um darüber zu erzählen, wie es drüben im Irak so war.«

       »Er war auch einmal in Mrs. Burstroms Stunde da«, fiel Scott mit ins Gespräch. »Das war vielleicht bizarr. Er trug einen dieser Helme, wie die Typen in M*A*S*H, und man konnte sehen, wie er sich in dem Ding förmlich zu Tode schwitzte.«

      »Auf jeden Fall«, fuhr Peter fort, »tauchte er anscheinend diesen Mittwoch pünktlich wie immer auf, und marschierte in voller Montur vom Parkplatz der Zwölftklässler aus über das Football-Feld. Nur hatte er dieses Mal sein Gewehr über der Schulter hängen.«

      »Ach hör schon auf!«, tat ich ungläubig ab.

      »Das ist mein voller Ernst.«

      »Schwör bei Gott«, klinkte sich Scott mit ein.

      »Mr. Gregg war mit einer Sportklasse draußen, als es passierte«, erzählte Peter weiter. »Er befahl allen, zurück ins Gebäude zu gehen, dann sprach er mit Lucas. Die ganze Sache endete in einem Streit und Mr. Gregg musste ihn tatsächlich niederringen. Ein paar Cops tauchten auf und schafften den Kerl weg.«

      »Woher weißt du das alles?«, fragte ich ihn.

      »Jen und Michelle Wyatt. Sie waren in der Sportgruppe und sahen Lucas, als er über das Football-Feld gegangen kam, bevor Gregg sie hineinschickte. Sie sagten, dass sie das Gewehr auf seinem Rücken hatten sehen können und dass er auf sie zugestiefelt war wie ein Nazi.«

      »Das ist doch gelogen«, sagte ich und ließ meinen Blick über die Straße wandern.

      Eine kühle Dunkelheit hatte sich über die Stadt gelegt. Straßenlaternen gingen an. Die Schaufenster auf der anderen Straßenseite leuchteten wie kleine elektrische Rechtecke. Ich beobachtete die Rücklichter einer Reihe Autos, die an der nächsten Kreuzung am Fuß einer Ampel warteten.

      »Zum Teufel, das ist nicht gelogen!«, bekräftigte Peter.

      »Ich hätte in den Nachrichten davon gehört«, hielt ich weiter dagegen. »Oder zumindest von meinem Dad.«

      Peter zuckte mit den Schultern. »Erzählt dein Dad dir alles? Und überhaupt, vielleicht wurde Brisbee bisher einfach noch nicht angeklagt oder so.«

      »Vielleicht war die Waffe ja nicht geladen«, spekulierte Scott.

      »Das Schrägste an der ganzen Sache ist: Offensichtlich hat er nie auch nur einen Fuß in den Irak gesetzt«, schloss Peter. »Der Freak war überhaupt nicht einmal dem verdammten Militär beigetreten. Seit seinem Abschluss hatte er drüben in Woodlawn als Mechaniker gearbeitet – Reifen und Öl gewechselt und den ganzen Scheiß. Der Schweinepriester hat das Ganze nur erfunden.«

      »Ach komm schon«, entgegnete ich.

      »Nein, das stimmt«, fügte Scott nickend hinzu. »Ich hab es auch gehört.«

      »Ist das alles noch zu fassen?«, wandte Peter sich von uns ab. Er hatte seine Zigarette bis zum Filter heruntergeraucht. »Ein Kerl hat nicht mehr alle Nadeln an der Tanne und hält einen ganzen Monat lang Vorträge an unserer Highschool.«

      Ein Auto fuhr rasch vorbei und hupte uns zu. Den Fahrer konnte ich nicht erkennen.

      »Vielleicht hat sie ja auch gar niemand umgebracht. Vielleicht war es nur ein Unfall.« Doch schon während ich diese Worte sprach, glaubte ich kein einziges davon. Vor meinem geistigen Auge sah ich immer noch ihren eingeschlagenen Schädel und den fahlen, fischbauchfarbenen Ton ihrer Haut.

      »So wird es wohl sein«, stimmte mir Peter zwar zu, klang selbst aber auch nicht gerade überzeugt davon.

      Scott warf einen Blick auf seine Uhr. »Wird langsam spät.«

      »Ja.« Peter schnippte seinen Zigarettenstummel auf den Boden.

      Ich stellte meinen Jackenkragen auf. »Also, bis dann Jungs. Ich muss für meine Großmutter noch ein paar Besorgungen machen.«

      »Sollen wir mitkommen?«

      »Nein, schon in Ordnung. Trotzdem danke.«

      »Hey!« Peter kniff mich in den Unterarm. »Du kommst heute Abend, klar?«

      Ich seufzte.

      »Vielleicht gibt dir dein Dad ja ne kleine Verlängerung«, meinte er. »Ist ja nicht so, als würden wir die ganze Nacht fort sein.«

      »Das wird lustig«, versprach Scott.

      Ich schob meine Hände in die Taschen. »Mal sehen.«

      »Cool.« Peter grinste mich an. Dann drehte er sich um und schob Scott auf den Gehweg. Sie warteten auf eine Verkehrslücke, bevor sie eilig über den Governor Highway liefen. Ich verlor sie aus den Augen, als sie im Schatten eines unbeleuchteten Parkplatzes verschwanden.

       Ich bewegte mich parallel zur Straße, bis ich an die Fußgängerkreuzung kam und darauf wartete, dass die Ampeln umschalteten. Pastore’s Deli war ein kleiner familienbetriebener Lebensmittelladen am Ende einer Ladenzeile. Er befand sich auf der anderen Straßenseite gegenüber des Generous Superstore, dem bombastischen Einkaufszentrum mit dem Slogan Komfort ist König! Trotzdem war meine Großmutter schon seit meiner Kindheit Stammkundin bei Pastore’s und ich erinnerte mich nur zu gerne zurück an Mr. Pastore, wie er mich mit Boar’s-Head-Wurstscheiben und Stinkekäsestückchen fütterte, während meine Großmutter ihren Einkauf erledigte.

      Für gewöhnlich war er recht menschenleer, doch an diesem Abend bemerkte ich einen leichten Tumult vor dem Laden. Mehrere Erwachsene standen bei ihren Autos auf dem Parkplatz und unterhielten sich angeregt. Mit gesenktem Kopf schob ich mich an ihnen vorbei und betrat den Laden.

      »Hallo, Angelo.« Mr. Pastore linste mich über die Zweistärkenbrille hinweg an, die er auf seiner Nasenspitze sitzen hatte. Er war ein dunkelhäutiger älterer Herr mit weißen Haarbüscheln über den Ohren. Vor dem Tresen stand ein Mann, den ich nicht kannte, und es schien, als hatte meine Ankunft ihre Unterhaltung gestört.

      »Hi, Mr. Pastore«, grüßte ich ihn zurück und zog den Reißverschluss meiner Jacke auf. In dem kleinen Laden herrschte eine Bullenhitze wegen eines zu hoch aufgedrehten Heizgerätes über der Ladentür.

      Am hinteren Ende des Ladens holte ich einen Leib vorgeschnittenes italienisches Brot und widmete mich dann dem Süßwarenregal, das die Wand säumte. Pastore’s hatte immer die besten Süßigkeiten – das Zeug, das man anderswo sonst nur schwer auftreiben konnte: Astro Pops, große Sugar Daddies, Fruchtgummischnüre und schwarze Lakritz-Drops, Jujubes, Candy Buttons auf weißen Papierstreifen, Fruchtgummilippen, Gummifläschchen mit flüssiger Füllung, Traubenzuckerflöten, Erdnusskrokant, Ocean-City-Kaubonbons und exotische Jelly Beans. Nach einiger Überlegung fiel meine Wahl schließlich auf einen großen Sugar Daddy und eine Packung Trident-Kaugummi, um meinen Raucheratem zu überdecken.

      Ich ging zum Tresen, wo Mr. Pastore wie üblich bereits den Rest der Bestellung meiner Großmutter vorbereitet hatte.

      Er unterhielt sich mit gedämpfter Stimme mit dem Unbekannten. Zwischenzeitlich blickte er mich einmal flüchtig über die Schulter des Mannes hinweg an und lächelte gezwungen.


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