DECEMBER PARK. Ronald Malfi

DECEMBER PARK - Ronald  Malfi


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der Maschine und schenkte zwei Tassen ein, während ich meinen Teller zum Spülbecken brachte und meine Hände wusch.

      »Zieh dich warm an«, sagte sie. »Es ist kalt draußen.«

      »Mach ich.«

      »Und bitte«, fügte sie in einem etwas anderen Tonfall noch hinzu, »komm nicht zu spät nach Hause.«

      »Werde ich nicht.«

      Nachdem ich mich geduscht hatte, schlüpfte ich hastig in eine Jeans, ein Nirvana-T-Shirt und einen Kapuzenpulli. Ich war etwas kleiner als der Durchschnitt und hatte den Körperbau eines Läufers, wenn ich auch nicht unbedingt der geborene Athlet war. Meine Züge waren dunkel und klassisch mediterran – nicht wie ein Filmstar, sondern auf die nachdenkliche Art, die man mit den jugendlichen Kriminellen aus Filmen der 1950er verbindet.

      Erwachsene sagten, ich sei äußerst höflich, zuvorkommend und aufmerksam, doch würde ich mein Potential nicht voll ausschöpfen. Sie hielten mich immer für attraktiv, doch das konnte ich nicht nachvollziehen. Meine Nase war viel zu groß, mein Haar steif und wellig, wenn ich es kurz trug, und zum Fetten neigend und widerspenstig, wenn es, so wie momentan, länger war. Ich hatte relativ kleine Hände, und als ich einmal einem Arzt erzählte, dass ich Gitarre spielen konnte, schien dieser sichtlich überrascht zu sein.

      Trotz der Tatsache, dass es mir durchaus bewusst war, von einer Reihe vollblütiger Italoamerikaner abzustammen, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass ich irgendwie anders sein könnte als der Großteil der Kinder in Stanton oder gar Harting Farms – bis letztes Jahr. Die Erkenntnis traf mich kurz vor den Sommerferien, als ich in ein paar Geschäften im Ort vorbeischaute, um Bewerbungen für einen Ferienjob auszufüllen.

      In einem Laden in der Canal Street, hatte mich Mr. Berke, der speckbäuchige Inhaber mit seinem faltenzerfurchten Gesicht, gebeten, mit in sein Büro zu kommen, während er meine Bewerbung durchging. Er hatte die ganze Zeit vor sich hingebrummelt und einmal bemerkte ich sogar, wie seine Augenbrauen immer weiter in Richtung seines Haaransatzes wanderten.

      »Stimmt irgendwas nicht?«, hatte ich schwitzend vor Nervosität gefragt.

       »Oh ja.« Er legte die Bewerbung auf seinen Schreibtisch nieder, der zwischen uns in dem beengten kleinen Büro stand, und deutete auf den Abschnitt zur Nationalitätsangabe. »Du hast das Kästchen Kaukasisch angekreuzt.«

       »Bedeutet das denn nicht Weiß?«

      »Tut es. Du aber bist Italiener, oder etwa nicht?«

       »Also, äh, ja …« Mein Blick wanderte zurück auf das Papier. Gab es wohl ein Kästchen für Italoamerikanisch, das ich übersehen hatte? Doch nein, nichts dergleichen stand zur Auswahl. Als ich wieder zu Mr. Berke hochsah, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

       »Das hier bist du«, klopfte er mit dem Finger auf das Kästchen neben dem Wort Andere. »Siehst du, du fällst unter Andere.« In seinem Lächeln lag nicht die geringste Spur von Humor und es grub ihm seine Furchen nur noch tiefer ins Gesicht. »Siehst du? Siehst du, wie einfach wir das Problem aus der Welt geschafft haben?«

      »Oh«, sagte ich nur.

      Als ich eine Woche später noch einmal im Laden vorbeigesehen hatte, um mich nach dem Stand meiner Bewerbung zu erkundigen, bedachte mich Mr. Berke wieder mit demselben humorlosen Lächeln wie schon zuvor und setzte mich darüber in Kenntnis, dass er beschlossen hatte, dieses Jahr überhaupt keine Sommeraushilfe einzustellen. Natürlich glaubte ich ihm anstandslos, weshalb es mich umso mehr verwirrte, als ich Wochen später erfuhr, dass Billy Meyers, der in unserem Hauptklassenzimmer neben mir saß, nun dort arbeitete.

      Kurzzeitig hatte ich überlegt, meinem Dad von der ganzen Sache zu berichten, doch mich dann eines Besseren besonnen, da ich mich ohne Zweifel noch unangenehmer dabei gefühlt hätte, meinem Vater die Geschichte zu erzählen, als ich es tat, während ich Mr. Berke gegenüber in seinem muffigen kleinen Büro gesessen hatte. Deshalb ließ ich die ganze Angelegenheit einfach unter den Tisch fallen.

       Ich holte meine Nikes aus dem Schrank und schnürte sie mir auf dem Bett zu. Mein Zimmer war meinen Leidenschaften gewidmet; die Wände voller Poster alter Universal-Filmmonster und den modernen Psychopathen, wie Jason Voorhees und Freddy Krueger. Eine Nachtleuchtfigur der Kreatur aus Der Schrecken vom Amazonas stand auf meiner Kommode, umgeben von Star-Wars-Figuren, die sie wie irgendeinen Abgott zu beschützen schienen.

       Ein paar Videokassetten stapelten sich unter meinem Nachttisch. Filme wie Der weiße Hai, Gremlins und Jäger des verlorenen Schatzes neben ein paar alten Springsteen-Plattenalben und Kassetten. In einer Ecke lehnte eine Fender-Akustikgitarre an der Wand neben einem Poster von John Lennon mit seinem Markenzeichen – der Brille mit den runden Gläsern.

       Vor allem jedoch war mein Zimmer das reinste Bücherparadies. Ich hatte jede Menge von Stephen King, Dean Koontz, Robert McCammon, Peter Straub und Ray Bradbury, da Horrorgeschichten meine Favoriten waren. Es fanden sich aber auch nicht wenige Klassiker in der Masse, wie Daniel Defoes Robinson Crusoe, Victor Hugos Der Glöckner von Notre-Dame, Stokers Dracula, Mary Shelleys Frankenstein und eine beachtliche Romansammlung von Robert Louis Stevenson in Festeinband.

      Auf meinem Schreibtisch stand eine alte Olympia-De-Luxe-Schreibmaschine, die mit ihrem meeresgrün-ecru-farbenen Metallgehäuse an das zweifarbige Chassis eines 1950er Chevrolets erinnerte. Hin und wieder blieben ein paar Tasten stecken und der Buchstabe O neigte gerne dazu, Löcher in das Papier zu stanzen, falls man etwas zu energisch tippte, doch die De Luxe war mein wertvollster Besitz. Sie bedeutete mir sogar noch mehr als mein Fahrrad.

       Sorgfältig neben die Schreibmaschine gelegt, befand sich der jüngste Artikel aus dem Caller, der Lokalzeitung von Harting Farms, in dem mein Name als Gewinner ihres Wettbewerbs im kreativen Schreiben in schlichten fetten Lettern gedruckt stand. Mit Büroklammer an den Artikel geheftet hing ein an mich adressierter brauner Umschlag mit einem Scheck über fünfzig Dollar, und neben dem Zeitungsartikel lag meine dreizehn-seitige, einzeilig formatierte Siegergeschichte mit dem Titel: Angeln nach Chessie. Sie handelte von dem Versuch zweier Brüder an der Chesapeake Bay, Chessie, die Chesapeake-Version des Monsters von Loch Ness, zu fangen. Leider glückt der Fang nicht, doch sehen die beiden am Ende der Geschichte die riesigen grauen Buckel des Monsters aus dem Wasser ragen.

       Es war eine recht einfache Story und offensichtlich genau, wonach der Caller gesucht hatte; doch die Geschichte, die ich eigentlich hatte einreichen wollen, war eine Horrorgeschichte mit dem Titel »Angst«. Darin ging es um einen Jungen, der entdeckte, dass zwischen dem Erdgeschoss und ersten Stock seines Zuhauses eine Parallelwelt existierte. Der Eingang zu dieser anderen Dimension befand sich in einem Wäscheschrank, und der Junge als Protagonist der Geschichte fand heraus, dass dort ein Monster lebte, das diese Welt beherrschte und kleine Kinder aus seiner Nachbarschaft verschlang. Am Ende trat der Junge dem Monster schließlich gegenüber und vernichtete es.

      Ich hatte die Geschichte für perfekt gehalten und sie voller Stolz und Erfolgsgefühl meiner Großmutter zum Lesen vorgelegt.

       Während sie meinen Schreibstil wirklich gut fand, war sie jedoch der Meinung gewesen, dass der Caller sich wohl eher Einsendungen von etwas bekömmlicherer Natur erhoffte. »Mit anderen Worten: Keine toten Kinder«, hatte sie gesagt, was aber keineswegs kritisch, sondern nur wohlwollend gemeint gewesen war.

       Meine Schreibtischschubladen waren voller solcher Geschichten über Werwölfe und Vampire, Geister und Kobolde – ein paar davon schamlos von anderen Storys abgekupfert, die ich gelesen hatte, wenngleich ich nur Handlung und Stil nachempfinden wollte, um zu lernen, wie es dem Autor so bemerkenswert gelungen war, den Leser zu fesseln. Andere Geschichten stammten wiederum gänzlich aus meiner Feder – den Untiefen meiner eigenen Kreativität entsprungen. Vergangenes Frühjahr hatte ich mir die neueste Ausgabe des Writer’s Market zugelegt und erst vor kurzem begonnen, Post-it-Zettel auf einige der Seiten zu kleben, die detaillierte Informationen zu Einsendungsrichtlinien für diverse Genre-Zeitschriften enthielten.

      Ich wollte nichts sehnlicher, als Schriftsteller werden.

      Als ich zum Aufbruch bereit war, hatten sich meine Großeltern bereits ins Wohnzimmer zum Fernsehen zurückgezogen. Ich gab beiden von


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