.
zwei Sommer zurück, als ein kleines Flugzeug bei dem Versuch, einem Zusammenstoß mit der Brücke auszuweichen, ins Wasser darunter gestürzt war. Wie durch ein Wunder hatten alle Bordinsassen überlebt. Es war in den Fernsehnachrichten erschienen und auch der Caller hatte darüber berichtet. Auf den Fotos hatte es wie eine halbversunkene Wippschaukel ausgesehen, da einer der Flügel, glänzend und weiß im Sonnenlicht, schräg aus dem Wasser ragte. Das glitzernde Metall eines Propellerblattes tauchte aus der Wasseroberfläche wie die Rückenflosse eines mechanischen Hais auf.
Ich hatte gewollt, dass mein Vater mich auf die Brücke brachte, noch bevor die Aufräumarbeiten im Wasser begonnen hatten und das Flugzeug geborgen wurde, um es mit eigenen Augen von dort oben aus betrachten zu können. Er war allerdings nicht mit mir hingefahren, und so blieb mir nichts anderes übrig, als auf die Bilder aus den Nachrichten als Erinnerung zurückgreifen, um den Durst meiner Neugier an dieser Sache zu stillen.
Peter erschien neben mir. »Hey, alles klar bei dir?«
»Sicher. Warum?«
»Weiß nicht. Irgendwas scheint dich zu beschäftigen.«
Noch immer dachte ich an das tote Mädchen. Ihr Anblick hatte mir mehr zugesetzt, als ich gedacht hätte. Wenn ich mir aber Peter so ansah, belastete ihn die ganze Sache augenscheinlich nicht so sehr wie mich. »Alles bestens«, erwiderte ich und fragte mich, ob er meine Lüge wohl durchschaute.
Peter wandte sich ab und ließ seinen Blick den Strand entlangwandern.
Ich tat es ihm gleich. Im Nebelschleier schwebte gespenstisch wogend ein Lichtkegel am äußersten Ende eines der Docks umher. Etwas platschte im Wasser. Menschen bewegten sich dort draußen und der Nebel ließ ihr Lachen näher erscheinen, als es tatsächlich war. Musik drang kaum hörbar über den Strand zu uns herüber – viel zu undeutlich, um etwas davon zu erkennen. Es klang hohl und irgendwie beunruhigend. Ein Seetaucher stieß seinen Ruf aus.
Peter nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Dose. Er räusperte sich und setzte an: »Okay, ich hab nen guten Witz: Wie fängt man einen Elefanten?«
Ich stöhnte entnervt und verdrehte die Augen. Ein paar Monate zuvor hatte er sich in der Stadtbibliothek ein Buch namens 101 Elefantenwitze ausgeliehen. Diese Witze waren so dermaßen schlecht, dass sie die Bezeichnung »Witz« eigentlich gar nicht verdient hätten, doch für Peter waren sie das wohl Lustigste, was je zu Papier gebracht worden war. Er ließ keine Gelegenheit aus, eine dieser Perlen der Komik zum Besten zu geben.
»Bitte«, flehte ich, konnte mir aber das Grinsen nicht verkneifen. »Bitte nicht …«
»Man versteckt sich im Gras und imitiert den Ruf einer Erdnuss.«
»Der Hammer«, kommentierte ich voller Ironie.
Peter lachte drauf los.
»Du Rüssellutscher«, warf ich ihm entgegen.
»Nur einmal«, konterte er prustend und nun lachten wir beide. »Ich brauchte das Geld.«
»Schon gut, schon gut«, gluckste ich.
»Lutsch.« Er sah über seine Schulter auf das entfernte Bootsdock. »Los, Angie. Lass uns mal rübergehen. Ich will um keinen Preis verpassen, wie Sugar die Kuh versenkt.«
Wir traten auf unserem Weg über die schneeweißen Dünen den Strandhafer flach und je mehr wir uns näherten, desto deutlicher materialisierte sich das Dock aus dem nachlassenden Nebel heraus. Ich konnte Michael Sugarlands Stimme zuordnen, die uns, gefolgt von weiterem Gelächter, über den Strand entgegenhallte. Auch die Musik wurde langsam lauter: Was ich anfänglich für eine Kassette oder CD gehalten hatte, war in Wirklichkeit Sasha Tamblin, der auf einem Dockpfeiler saß und auf einer Akustikgitarre spielte.
Peter und ich betraten das Dock und überquerten die wettergezeichneten, verzogenen Holzplanken, die hier und da von einer rutschigen Moosschicht bedeckt waren.
»Eindringline!«, johlte Michael vom Ende des Docks herüber. Für den Augenblick hatte er einen sehr breiten und äußerst schlechten holländischen Akzent angenommen: »De Nevel ish grooshartig. Ausweisen!«
»Einwanderungsbehörde!«, rief Peter.
Zur Antwort bombardierte uns Michael mit einer Reihe Buh-, Jaul- und Schlachtrufen in seinem missratenen Pseudo-Holländisch.
Scott Steeple stand bei den Lambeth-Zwillingen auf halber Höhe des Docks. Sie sahen Sasha Tamblin dabei zu, wie er einen Song von Pearl Jam auf seiner Gitarre spielte.
Sasha hatte dunkle Haut, eine niedrige Stirn und dichte schwarzen Locken. Sein Profil war streng und scharfkantig, seine Augen klein, schwarz und tiefliegend. Er konnte wirklich gut Spielen und Singen – viel besser als ich. Jonathan Lambeth sagte etwas zu ihm und Sasha lachte, wobei seine perfekt weißen Zähne aufblitzten.
Sasha nickte Peter und mir zu, als wir uns zu Scott gesellten. »Hey«, begrüßte er uns und schlug mit seiner Hand den letzten Akkord an.
»Hey, Sasha«, grüßte ich zurück.
Sasha blickte hinunter auf seine Finger, die auf dem Griffbrett ausgespreizt waren. Er griff einen C-Dur-Akkord und schlug diesen einmal an. Dann wechselte er zu einem kräftigen G-Akkord und zupfte die Saiten, während sein kleiner Finger auf dem hohen E weiter das Griffbrett hinaufrutschte. In diesem Stil spielte er ein paar Takte und zog an seinen Seiten im Bending auf einmalige Art und Weise einen langen, breiten Ton auf dem G.
»Das ist echt cool«, sagte ich anerkennend. »Hast du das geschrieben?«
»Nein, das ist Dave Matthews«, verriet Sasha.
»Wer ist das?«
»Noch nichts von der Dave Matthews Band gehört? Ist ziemlich gut. Folkig, aber … modern, denke ich. Originell. Sie haben einen Hornisten und eine Geige mit dabei.« Er spielte etwas weiter, ohne dabei auf seine Hände zu sehen. »Was hörst du so?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Nirvana, Pearl Jam, Stone Temple Pilots, Soundgarden.« Ich stand auch auf Metallica, U2, Nine Inch Nails, Jesus Jones, Van Halen und die Talking Heads; zur Abwechslung hörte ich noch Springsteen und Mellencamp und hegte eine geheime Liebesbeziehung mit Jerry Lee Lewis, Buddy Holly, Creedence Clearwater Revival, John Lennons Solo-Aufnahmen und, wie ein schmutziges kleines Geheimnis … ABBA.
»Cool.« Sasha ging nun leichten Fingers in die Anfangsakkorde von Metallicas Nothing Else Matters über.
Michael Sugarland stand am Ende des Docks, hatte seine blasse, haarlose Hühnerbrust prahlerisch aufgeplustert und seine winzigen Brustwarzen sahen aus wie zwei Insektenstiche. In all den Jahren, die ich ihn bereits kannte – und das war fast schon mein ganzes Leben lang – hatte sich seine unscheinbare Knabenstatur keine Spur verändert. Seine Rippen zeichneten sich unter der straffen Haut seiner Brusthöhle ab und sein Nabel stand von seinem Bauch hervor wie der Daumen eines Anhalters. Sein sandfarbenes Haar war stets akkurat geschnitten, fein säuberlich gekämmt und rechts gescheitelt.
Michael stütze sich mit einem Ellenbogen auf den Kopf des gewaltigen Keramikrindes neben ihm. Die lebensgroße Kuh war abwechselnd mit blauen und goldenen Streifen bemalt. Michael hatte das glänzende, rosa Halbrund ihres Euters abgerissen und umschloss es nun wie eine Schüssel mit beiden Händen, als wäre er Oliver Twist, der um einen Nachschlag Haferbrei bat. Als Peter und ich auf ihn zukamen, setzte er sich das Euter auf den Kopf und grinste uns entgegen wie ein Halloween-Kürbis.
»Mr. Sugar, der Popelschlucker«, begrüßte ihn Peter. »So wie du angezogen bist, fängst du dir noch ne saftige Lungenentzündung ein, du Vollidiot.«
Michael trug nichts außer geblümten Badeshorts und einer Swatch-Armbanduhr. Meines Wissens besaß Michael Sugarland nicht ein einziges Kleidungsstück, das nicht mindestens schon ein Jahrzehnt zuvor aus der Mode gekommen war.
Peter deutete auf die Keramikkuh: »Und wie zu Henker hast du dieses Ding hierher befördert?«
Michael salutierte uns und stand stramm. Vor Kälte klapperten ihm die Zähne in seinem Schädel. »D-d-darf ich nicht s-s-sagen, S-S-Sir. Top s-s-secret, S-S-Sir.«