DECEMBER PARK. Ronald Malfi

DECEMBER PARK - Ronald  Malfi


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erst der Fund von Courtney Coles Leiche versetzte die Bewohner von Harting Farms wirklich in Panik. In den Zeitungen und Fernsehnachrichten hieß es, dass der Tod des Cole-Mädchens womöglich mit den drei anderen Vermisstenfällen der vorherigen zwei Monate in Verbindung stünde und alle vier Vorfälle durchaus das Werk eines Einzelnen sein könnten.

      »Die denken, es war ein Serienmörder?«, fragte ich meinen Großvater.

      »Alles nur Sensationshascherei«, tat mein Großvater ab und sah in seinem Fernsehsessel ein wenig aufgerührt aus. Der Fernseher tauchte uns in gespenstisch blauen Schein. »Boulevardjournalismus und Panikmache, um die Öffentlichkeit aufzuwühlen. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Verkauft Zeitungen und steigert die Einschaltquoten. Mehr steckt nicht dahinter.«

      Während die Abendnachrichten für gewöhnlich en masse von Schießereien und Morden in Baltimore und D.C. berichteten, war Harting Farms ein ruhiger bürgerlicher Vorort, dessen allwöchentlicher Polizeibericht höchstens Graffiti an den Wänden des örtlichen Generous Superstore oder einer gelegentlichen Vandalenrunde Briefkasten-Baseball zu erwähnen hatte. Mord war etwas, dass unsere Gemeinde mehr als unerwartet traf, und der Vorfall löste eine Vielzahl verschiedenster Reaktionen aus.

      Für den Anfang gründete die Gemeinde die Courtney-Cole-Gedächtnisstiftung und wählte einen Vorsitzenden. Niemand schien jedoch so recht den Zweck der Stiftung zu kennen, abgesehen davon, die Spendengelder für die Beerdigung des Mädchens zu verwenden, und es dauerte auch nicht lange, bis mein Großvater der Organisation vorwarf, die aufrichtigen und trauernden Gemeindemitglieder auszubeuten.

      Die Elks, bei denen Courtneys Eltern und Großeltern Mitglieder waren, pflanzten eine Blautanne zum Andenken des Mädchens auf dem Rasen ihres Kapitelhauses, und eine bronzene Gedenktafel, in die ihr Name und ein Zitat eines halbberühmten einheimischen Dichters eingraviert waren, wurde an der Mauer bei den Beichtstühlen von St. Nonnatus angebracht.

      Obwohl Courtney niemals einen Fuß in unsere Schule gesetzt hatte, stellte die Stanton School in einem Glasschaukasten im Hauptfoyer ein Schwarzes Brett zu ihrem Andenken aus, an dem zahlreiche Fotos des Mädchens hefteten, die größtenteils aus verschiedenen Zeitungen ausgeschnitten waren, sowie jene Artikel, die über ihren Tod berichteten. Die ganze Aufmachung war wirklich geschmacklos und die rosa-weiße Blumengirlande, die unter dem größten Foto hing, machte alles nur noch schlimmer und verpasste der Collage einen völlig unpassenden hawaiianischen Flair.

      Unsere Schule brachte jeden Monat unter der Regie von Miss McGruders Kurs im kreativen Schreiben einen Newsletter mit Gedichten und Kurzgeschichten heraus. In diesem Jahr wich die Halloween-Ausgabe von ihrer üblichen Sammlung an Spukgeschichten und Gedichten über abgetrennte Köpfe und knopfäugige, vom Grab zurückkehrende Zombies ab. Stattdessen trieften die Seiten vor übertriebener Sentimentalität über in eisiger Wintersluft welkende Blumen und Schmetterlinge, die in einer leuchtenden Farbexplosion schillernder Flügel aus ihren Kokons hervorbrechen.

      Natürlich zog die Tragödie auch eine ordentliche Portion Galgenhumor nach sich. Das Geschmackloseste, wenn auch Originellste, tauchte in Form eines Limericks an der Wand einer der Toilettenkabinen auf:

      Piper einst wurde ein Mann genannt,

      Der mit einem Mädchen davongerannt;

      Tot war das Mädel,

      Ein Loch tief im Schädel,

      Wie von einer Kugel hineingebrannt.

      Das wohl Verstörendste war jedoch der Umlauf eines vermeintlichen Liebesbriefes, den Courtney einem Jungen auf der Stanton gegeben hatte. Dem Datum nach, das der Verfasser oben an den Rand der ersten Seite gekritzelt hatte, war er etwa eine Woche vor ihrem Tod geschrieben worden. Ob dieser Brief nun echt war oder nicht, tat der unglaublichen Wirkung, ihn mit den eigenen Augen zu sehen, ihn in den eigenen Händen zu halten, keinen Abbruch.

      In der Naturwissenschaftsstunde tippte mir jemand auf die Schulter und reichte mir die gefalteten Blätter aus liniertem Notizbuchpapier nach vorne, als würde er mir die Schriftrollen vom Toten Meer präsentieren. Ich las mir die ersten paar Zeilen durch und mit wachsendem Unbehagen wurde mir klar, dass der Brief wirklich echt sein musste, weil er einfach zu unscheinbar, zu banal war, als dass es eine Fälschung hatte sein können. Wäre dem so gewesen, hätte der Schreiber irgendeine unterschwellige Andeutung von Courtneys Tod oder die Ironie einer aufrichtigen Liebeserklärung eingeflochten, nur wenige Tage, bevor ihr das Leben ausgelöscht werden sollte. Die Handschrift war typisch mädchenhaft mit runden, geschwungenen Buchstaben, der Ton einfach und aufrichtig. Ich konnte den Brief nicht zu Ende lesen und reichte ihn meinem pickelgesichtigen Banknachbarn Mark Browmer weiter, in der Hoffnung, irgendjemand würde mehr Mut aufbringen können und ihn wegwerfen, noch bevor der Tag zu Ende war.

      Auch das Harting Farms Police Department bekam die Auswirkungen zu spüren. Chief Barber erschien im Fernsehen und teilte mit, dass es keinerlei Beweise gebe, die belegten, dass Courtneys Ermordung in irgendeiner Weise etwas mit dem Verschwinden der anderen drei Jugendlichen zu tun hatte. Unzufrieden mit Barbers Stellungnahme, waren die Eltern der anderen Jugendlichen häufig in den Nachrichten, um ihre eigene Meinung kundzutun.

      Wie jeder andere Außenstehende bekam ich diese Anspannung weitestgehend nur aus der Ferne mit – doch sie kam schon bald zu mir nach Hause. An den Tagen, an denen es mein Vater rechtzeitig zum Abendessen nach Hause schaffte, saß er meist schweigend am Tisch und redete nur, wenn er angesprochen wurde. Doch selbst dann noch klang es wie eine fremdartige und kehlige, schwer verständliche Sprache. Abends setzte er sich dann auf die Veranda hinter dem Haus, manchmal mit einem Glas Wein oder einer Tasse Kaffee, und rauchte eine Zigarette nach der anderen.

      Mein Vater blieb bis spät in die Nacht auf und wanderte rastlos über die Holzdielen im oberen Flur, wie ein Geist, der verdammt war, auf ewig herumzuspuken. In diesen Nächten konnte ich nicht schlafen und ich hörte in regelmäßigen Abständen das knarzende Geräusch seiner Schritte, die vor meiner Zimmertür zum Stehen kamen. Ich blieb schweigend im Bett liegen, starrte an die Zimmerdecke und hielt die Luft an, während ich darauf wartete, dass er seinen Gang wieder fortsetzte.

      Einmal hörte ich, wie die Dusche anging, und ich musste daran denken, wie er in den ersten Monaten, nachdem wir erfahren hatten, dass mein Bruder Charles im Irak gefallen war, oftmals mitten in der Nacht zum Duschen aufgestanden war. Ich brauchte nicht lange, um dahinterzukommen, dass das laufende Wasser in Wirklichkeit nur ein geräuschvoller Vorwand war, um die Trauer meines Vaters in einem Haus mit dünnen Wänden zu übertönen.

      In dieser Nacht wurde mir klar, dass es nicht allein um das tote Mädchen ging; auch nicht um den Piper, oder wer auch immer dort draußen sein Unwesen trieb, oder all den Arbeitsstress meines Vaters. Nicht für ihn und auch für mich nicht.

      Mein Vater war nach dem Tod meines Bruders ein anderer Mensch geworden. Alles an ihm schien in eine Form der Halbexistenz abzudriften. Sein Schlafzimmer glich einem Zimmer, wie man es vielleicht in einem Motel vorfinden würde. Die Gegenstände darin waren rein funktional: ein Bett, eine Kommode, eine Lampe auf einem Nachttisch, ein Wecker, ein Schrank voller dunkler Anzüge, ein Spiegel und ein paar Toilettenartikel auf einer anderen Kommode. Seine Schuhe stellte er mit noch darin zusammengeknäuelten Socken in einer Reihe am Fußende des Bettes auf. Manchmal ließ er einen abgegriffenen Taschenbuchkrimi mit sensationsgierigem Cover und knalligem foliengeprägten Titel auf dem Nachttisch liegen. Die Luft im Raum war immer abgestanden, als wären die Fenster und die Tür hermetisch vom Rest der Welt abgeriegelt worden.

      Das einzig Emotionale waren die beiden Bilderrahmen auf dem Nachttisch neben seinem Bett, einer davon mit einem Foto meiner Mutter, die starb, als ich drei war. Die wenigen Erinnerungen, die ich an sie hatte, waren verschwommen und ungenau, wie jemandes Silhouette hinter einem Plastikduschvorhang. Das andere Bild zeigte Charles in seiner Militäruniform. Er sah erschreckend jung aus, und wenn man genau genug hinsah, konnte man die Stellen an seinem Kinn erkennen, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte.

       Meine eigenen Fotos von Charles bewahrte ich in einem Album im obersten Regal meines Schlafzimmerschrankes unter einem Stapel Comicheften und Ausgaben der Zeitschrift MAD auf. In den ersten Monaten nach Charles’ Tod hatte ich oft einen Blick in das Album geworfen,


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