DECEMBER PARK. Ronald Malfi
Truppen nach Saudi-Arabien entsandt hatte – darunter mein großer Bruder Charles – hatte mein Großvater noch einmal seine eigenen Memorabilien aus dem Zweiten Weltkrieg durchstöbert. Unsere Familie machte Scherze über seinen Entschluss, sich im Alter von achtundsiebzig Jahren neben meinem Bruder verpflichten zu wollen.
Unter den gesammelten Gegenständen aus seiner Militärzeit im Südpazifik fanden sich neben anderen Dingen mehrere Schächtelchen mit Orden und Medaillen, ein Aschenbecher aus Patronenhülsen verschiedener Größen, zusammengesetzt zu einer Miniaturnachbildung einer B-29 Superfortress, und, das wohl eindrucksvollste Stück der Sammlung, ein Samuraischwert, das mein Großvater der Leiche eines japanischen Soldaten abgenommen hatte, der in Neuguinea gefallen war.
»Ich habe ihn direkt aus dem Baum geschossen«, hatte mir mein Großvater mehr als nur einmal geschildert, »und dieses Schwert fiel mit ihm. Es steckte mit der Klinge voran im Erdboden und federte dort nach wie eine Stimmgabel.«
Es war ein imposantes, stattliches Schwert, das nur so glänzte. Bunte Edelsteine waren in das Heft eingesetzt und die filigrane Insigne eines Drachen mit Tigerkopf in die Schwertscheide geätzt.
Nach dem Krieg hatte mein Großvater über mehrere Jahre hinweg immer wieder ein Schreiben nach dem anderen von einem Anwalt aus New York erhalten, den mein Großvater prompt als »Juristenschleimer« abstempelte und welcher die Familie Takahashi bei ihrem mehrfachen Gesuch um die Rückgabe des Schwertes an die Familie des toten japanischen Soldaten vertrat. Es war ein Familienerbstück, und die Takahashis wollten bereitwillig jedweder Preisforderung nachkommen, nur damit das Schwert sicher und unbeschadet auch wieder in den Besitz der Familie zurückkehren konnte. Ich hatte die Briefe selbst gesehen, sie waren auf dem exklusiven Briefpapier einer Kanzlei mit Absenderadresse aus Manhattan verfasst und höflich und wohlwollend gegenüber meinem Großvater formuliert. Doch mein Großvater hatte sich geweigert, sich ihre Angebote auch nur ansatzweise durch den Kopf gehen zu lassen.
Nachdem sie sich schließlich der Tatsache gebeugt hatten, dass mein Großvater ein sturer alter Esel war, bekam er noch einen allerletzten Brief von der Familie Takahashi. Ich hatte den Brief auch gelesen. Alles, was darin stand, waren die Hinweise und Anleitung für die sachgemäße Reinigung, Aufbewahrung und Pflege des Samuraischwertes. Wenn sie es schon nicht zurückbekamen, dann würden sie wenigstens sicherstellen, dass man es ordentlich behandelte.
Doch es war nicht das Schwert oder gleichermaßen interessante Gegenstände, die mein Großvater an diesem Tag im August in der Garage ausgrub. Was er hervorholte, war ein abgegriffenes Fotoalbum mit Ledereinband, das von Gummibändern zusammengehalten wurde. Es war voller Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Krieg und dem Jahr, das er als Strandwächter in Australien verbracht hatte. Er ging mit dem Album in den Vorgarten, zerriss die Fotografien und ließ sie wie Konfetti in eine der Metallmülltonnen rieseln.
Zu dieser Zeit und in meiner Naivität versuchte ich, diesem einfachen Akt irgendeine größere symbolische Bedeutung zuzuschreiben, doch kam ich beim besten Willen nicht darauf, was es hätte sein können. Ich konnte einfach nicht umhin, meinen Großvater zu fragen, weshalb er seine Fotografien vernichtet hatte. Mit der Nüchternheit eines Mathematikers gab er mir zur Antwort, dass ihn die Berichterstattungen über die zunehmenden Spannungen im Mittleren Osten jeden Abend in den Nachrichten lediglich daran erinnerten, dass er noch einen Haufen alten Krempel in der Garage herumliegen hatte und es schon längst höchste Zeit war, all das Zeug loszuwerden. Das Ganze war also nicht symbolträchtiger gewesen als ein Frühjahrsputz.
Wir saßen beim Abendessen am Küchentisch, während der Fernseher im Wohnzimmer weiter vor sich hinbrabbelte. Meine Großmutter hatte die Vorhänge der Küchenfenster aufgezogen für den Fall, dass mein Vater von der Arbeit nach Hause kam. Für gewöhnlich lief es so ab, dass meine Großmutter, sobald sie die Scheinwerfer seines Wagens in die Einfahrt biegen sah, aufstand, meinem Vater das Essen auf den Teller gab und diesen in perfektem Timing mit dem Geräusch der aufgesperrten Haustür auf den Tisch stellte. Mein Vater wusch sich dann immer die Hände in der Küchenspüle und setzte sich noch in Hemd und Krawatte an den Tisch, um mit uns zu Abend zu essen.
Da mein Vater an solchen Abenden wie diesem, wenn er zu einem Einsatz gerufen wurde, jedoch nur selten vor Tagesanbruch nach Hause kam, würde er dieses Mal auch nicht rechtzeitig zum Abendessen erscheinen, doch die Vorhänge blieben zur Seite geschoben und meine Großmutter weiter wachsam, da sie niemand war, der so einfach mit einer Tradition brach.
»Wie war es in der Schule?«, erkundigte sie sich.
»Ganz okay.«
»Nichts Interessantes zu erzählen?«
Da nie auch nur ansatzweise irgendetwas Interessantes passierte, erzählte ich also Peters Geschichte über Lucas Brisbee, der mit Uniform und Gewehr in unsere Schule gekommen war und dann von einem Sportlehrer auf dem Schulparkplatz hatte überwältigt werden müssen.
Meine Großmutter schüttelte fassungslos den Kopf. »Wer macht denn so etwas?«
»So was passiert doch ständig, Flo«, tat mein Großvater ab. »Das ist nichts Neues. Man hört nur noch von Jugendlichen, die Waffen mit zur Schule nehmen, in den Klassenzimmern herumballern und Bomben in ihren Garagen bauen.«
»So war es auch wieder nicht«, wandte ich ein.
»Behauptet wahrscheinlich, er würde unter einem Kriegstrauma leiden«, spöttelte mein Großvater.
»Aber er war doch nicht einmal im Krieg! Das ist ja gerade das Ding an der ganzen Geschichte. Er hatte die ganze Zeit drüben in Woodlawn gelebt.« Trotz meiner anfänglichen Skepsis während Peters Erzählung, bemerkte ich nun, dass ich die Geschichte nicht nur mit so viel Spannung und Glaubwürdigkeit, wie ich aufbringen konnte, nacherzählt hatte, sondern sie inzwischen auch noch in jeder Hinsicht selbst glaubte.
»Wie im Vietnam«, fuhr mein Großvater fort, ohne mich weiter zu beachten. »Dieses ganze Agent-Orange-Fiasko. Jeder sucht ständig nach irgendwelchen Ausflüchten, danach, die Schuld für die eigenen Probleme bei anderen zu suchen. Denkt ihr, es gab damals im Südpazifik nicht genug, über das man sich hätte beschweren können? Beschwere ich mich etwa? Und wenn man nicht dem Krieg die Schuld geben kann, dann sucht man sie eben bei den eigenen Eltern, der Erziehung – oder der Musik, die man hört.«
»Aber er war doch gar nicht im Krieg!«, wiederholte ich nachdrücklich. »Er …«
»Wer?« Mein Großvater zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. Er machte ein Gesicht wie jemand, den man mit einer komplexen Rechenaufgabe überrumpelt hatte. »Wen meinst du?«
»Den Typ, der in meine Schule gekommen ist.«
»Was ist das für ein Kerl?«, fragte er, obwohl sich sein Mundwinkel schon zu einem Lächeln kräuselte – er hatte mich also nur aufgezogen.
Ich lachte. »Vergiss es einfach.«
Ein Paar Scheinwerfer kamen die Worth Street entlang, woraufhin meine Großmutter prompt von ihrem Stuhl aufsprang und aus dem Fenster sah. Selbst nachdem es längst offensichtlich war, dass es sich nicht um meinen Vater handelte, beobachtete sie weiter aufmerksam die Straße.
»Ich gehe heute Abend noch ein wenig raus«, verkündete ich schließlich.
»Ja? Wohin denn?«, fragte meine Großmutter.
»Zu Peter.« Es war eine Lüge. Ich mochte meine Großeltern nicht anlügen, doch ich konnte ihnen unmöglich erzählen, dass wir alle runter zu den Docks wollten, um Michael Sugarland dabei zuzusehen, wie er die Homecoming-Kuh versenkte.
»Soll ich dich hinfahren?«, bot mein Großvater an. Er war immer besorgt, wenn ich nachts alleine unterwegs war, sogar schon vor den jüngsten Vermisstenfällen.
»Nein, schon in Ordnung. Ich nehme das Rad.«
Trotz der Tatsache, dass ich bereits fünfzehneinhalb und somit alt genug für meinen Lernführerschein war, hatte mein Vater die alleinige Entscheidung gefällt, dass ich noch immer viel zu wenig Verantwortungsbewusstsein für irgendetwas dergleichen hatte. Ich wusste genau, dass mir noch ein gänzlich neuer Kampf bevorstehen würde, wenn ich erst einmal sechzehn war und