Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
Aber obwohl viele zurückgeblieben waren, setzte doch noch eine große Schar frischen Mutes die Wanderung fort. Und der Sonnenkopf rollte die ganze Zeit vor dem Zuge her und rief: »Vorwärts! Vorwärts! Niemand braucht bange zu sein, solange ich dabei bin!«
Der Zug ging mit derselben Geschwindigkeit weiter. Bald war er oben in Norrland angelangt, aber jetzt half es nichts mehr, wieviel auch die Sonne bat und ermunterte. Der Apfelbaum wollte nicht weiter, auch der Kirschbaum nicht und der Hafer blieb stehen. Die Fisch schwärme in den Gräben lichteten sich. Der Junge wandte sich an die Zurückbleibenden: »Warum wollt ihr nicht mit? Warum laßt ihr die Sonne im Stich?« fragte er. – »Wir wagen es nicht. Wir sind bange vor dem großen Versteinerer, der da oben in Lappland wohnt,« antworteten sie.
Bald hatte der Junge die Empfindung, als seien sie ganz hoch oben in Lappland angelangt, und hier wurden die wandernden Scharen beständig dünner. Der Roggen, die Gerste, die Erdbeere, die Blaubeere, die Erbsen, die Johannisbeerbüsche waren bis hierher mitgekommen. Das Elentier und die Kuh waren Seite an Seite gewandert, aber jetzt blieben sie alle zurück. Die Menschen gingen noch eine Strecke weiter mit, aber dann blieben auch sie stehen. Die Sonne würde fast ganz allein geblieben sein, wenn nicht neue Reisegenossen hinzugekommen wären. Weidensträuche und eine Menge anderes Gestrüpp schlossen sich dem Zuge an, ebenso Lappen und Renntiere, Bergeulen und Füchse und Schneehühner.
Jetzt hörte der Junge etwas, das ihnen entgegenkam. Es waren dies eine Menge Flüsse und Bäche, die mit gewaltigem Sausen und Brausen daherstürzten. »Warum habt ihr es so eilig?« fragte er.– »Sie fliehen vor dem großen Versteinerer, der hoch oben auf den Bergen wohnt,« entwertete das Schneehuhn.
Da sah Niels Holgersen auf einmal, daß sich vor ihnen eine hohe, finstere Mauer mit gezackter Mauerkrone auftürmte. Beim Anblick dieser Mauer schienen alle zurückzuweichen, schnell aber wendete die Sonne ihr strahlendes Antlitz der Mauer zu und goß ihr Licht darüber aus. Da stellte es sich heraus, daß keine Mauer ihnen im Wege stand, sondern daß sich die allerschönsten Berge vor ihnen erhoben, einer hinter dem anderen. Die Gipfel röteten sich im Sonnenschein, die Abhänge lagen hellblau mit goldenen Streifen da. »Vorwärts! Vorwärts! Keine Gefahr, solange ich dabei bin!« rief die Sonne und rollte an den steilen Bergwänden hinauf.
Aber auf dem Wege den Berg hinan wurde die Sonne von der tapferen jungen Birke, der starken Fichte und der standhaften Tanne verlassen. Hier verließen auch das Renntier, der Lappe und der Weidenbusch sie. Als sie schließlich den Gipfel des Berges erreicht hatte, war in ihrem Gefolge niemand mehr als der kleine Niels Holgersen.
Die Sonne rollte in eine Schlucht hinein, in der die Wände mit Eis bedeckt waren, und Niels Holgersen wollte ihr auch da hinein folgen, aber er kam nicht weiter als bis an den Eingang der Schlucht, denn da sah er etwas Fürchterliches. Ganz tief im Innersten der Schlucht saß ein alter Troll; sein Körper war aus Eis, sein Haar aus Eiszapfen und sein Mantel aus Schnee. Vor dem Troll lagen mehrere schwarze Wölfe, die sich aufrichteten und den Rachen aufsperrten, sobald die Sonne sich blicken ließ. Und aus dem einen Wolfsrachen stieg die bittere Kälte hervor, aus dem anderen kam der beißende Nordwind und aus dem dritten die schwarze Finsternis. »Da haben wir wohl den großen Versteinerer!« dachte der Junge. Er war sich klar darüber, daß er am besten tun würde, wenn er floh, aber er war so neugierig zu sehen, wie die Begegnung zwischen dem Troll und der Sonne ablaufen würde, daß er stehen blieb.
Der Troll rührte sich nicht, sondern starrte nur die Sonne mit seinem ekelhaften Eisgesicht an, und die Sonne stand ebenfalls still und lachte und strahlte nur. So ging es eine Weile weiter, und der Junge meinte hören zu können, daß der Troll zu seufzen und zu klagen begann. Der Schneemantel glitt zu Boden und die drei fürchterlichen Wölfe heulten nicht mehr so schrecklich. Plötzlich aber rief die Sonne: »Jetzt ist meine Zeit vorbei!« und rückwärts rollte sie aus der Schlucht heraus. Da ließ der Troll seine drei Wölfe los, und auf einmal kamen der Nordwind, die Kälte und die Finsternis aus der Schlucht herausgestürzt und machten Jagd auf die Sonne. »Weg mit ihr! Weg mit ihr!« rief der Troll. »Jagt sie so weg, daß sie nie wiederkommt! Wir wollen sie lehren, daß Lappland mir gehört!«
Aber als Niels Holgersen hörte, daß die Sonne aus Lappland verjagt werden sollte, erschrak er so, daß er mit einem Schrei erwachte.
Und als er sich wieder ein wenig besonnen hatte, sah er, daß er auf dem Grunde des großen Felsentals lag. Wo aber war Gorgo, und wie sollte er ausfindig machen, wo er selber war?
Er richtete sich auf und sah um sich. Da fiel sein Blick auf ein wunderliches Gebäude aus Fichtenzweigen, das auf einen Felsenabsatz stand. »Das ist gewiß so ein Adlerhorst, wie Gorgo…«
Er dachte den Gedanken nicht zu Ende. Statt dessen riß er seine Mütze vom Kopf, schwenkte sie in der Luft und schrie: »Hurra!« Er begriff jetzt, wohin ihn Gorgo geführt hatte. Hier war das Tal, in dem die Adler auf dem Felsenabsatz und die Wildgänse unten im Grunde wohnten. Er war am Ziel! Im nächsten Augenblick würde er den Gänserich Martin und Akka und alle die Reisekameraden wiedersehen.
Am Ziel.
Niels Holgersen ging ganz leise umher und suchte nach seinen Freunden. Tiefe Stille herrschte im ganzen Tal. Die Sonne war noch nicht über die Felswände hinaufgelangt, und der Junge sah, es war noch so früh am Tage, daß die Wildgänse noch nicht aufgewacht waren. Kaum hatte er einige Schritte gemacht, als er stehen blieb und lächelte, denn er sah etwas, das gar schön war. In einem kleinen Nest am Boden lag eine Wildgans und schlief, und neben ihr stand der Gänserich. Er schlief auch, aber offenbar hatte er sich so dicht neben sie gestellt, um gleich zur Hand zu sein, falls eine Gefahr im Anzug sein sollte.
Der Junge ging weiter, ohne sie zu stören und lugte zwischen die kleinen Weidenbüsche hinein, die den Erdboden bedeckten. Es währte nicht lange, bis er ein neues Gänsepaar entdeckte. Es gehörte nicht zu seiner Schar: es waren fremde, aber er freute sich doch so sehr, daß er eine Melodie vor sich hinzusummen begann, nur weil er wilde Gänse angetroffen hatte.
Er guckte in ein neues Weidengestrüpp hinein, und dort sah er schließlich ein Paar, das er kannte. Es war ganz sicher Neljä, die auf Eiern lag, und der Gänserich, der neben ihr stand, war Kolme. Ja, so war es! Ein Irrtum war ausgeschlossen
Der Junge hatte die größte Lust, sie zu wecken, aber er ließ sie schlafen und ging weiter.
Im nächsten Gestrüpp sah er Viisi und Kuusi und nicht weit davon fand er Aksi und Kaksi. Sie schliefen alle vier, und der Junge ging vorüber, ohne sie zu wecken.
Als er in die Nähe des nächsten Gestrüppes kam, glaubte er etwas Weißes zwischen den Büschen hindurchschimmern zu sehen, und das Herz begann vor lauter Freude laut in seiner Brust zu klopfen. Ja, es war, wie er erwartet hatte. Da drinnen lag Daunfein noch so niedlich auf Eiern und neben ihr stand der weiße Gänserich. Der Junge glaubte, ihm sogar im Schlaf ansehen zu können, wie stolz er war, hier in den lappländischen Bergen zu stehen und Wache bei seiner Frau zu halten.
Aber auch den weißen Gänserich wollte Niels Holgersen nicht wecken, so ging er denn weiter.
Er mußte ziemlich lange suchen, bis er auf weitere Wildgänse stieß. Aber da entdeckte er auf einem kleinen Hügel etwas, das einem grauen Erdhaufen glich. Und als er an dem Fuß des Hügels angelangt war, sah er, daß der graue Erdhaufe nichts Geringeres war als Akka von Kebnekajse, die dort ganz wach stand und sich umsah, als halte sie Wache über das ganze Tal.
»Guten Tag, Mutter Akka,« sagte der Junge. »Wie schön, daß Ihr wach seid! Wartet, bitte, ein wenig, ehe Ihr die anderen weckt, denn ich möchte gern mit Euch allein sprechen.«
Die alte Führergans stürzte von dem Hügel herunter, zu dem Knaben hin. Zuerst packte sie ihn und schüttelte ihn, dann strich sie ihm mit dem Schnabel am ganzen Körper auf und nieder, und schließlich schüttelte sie ihn noch einmal. Sie sagte aber nichts, denn er hatte sie ja gebeten, die anderen nicht zu wecken.
Däumling küßte die alte Mutter Akke auf beide Wangen, und dann fing er an zu erzählen, wie er nach Skansen gebracht und dort gefangen gehalten war.
»Und