Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
löste den Strick, der die Gefäße zusammenhielt und warf sie vom Schlitten. Die Wölfe waren ganz dicht hinter ihnen drein. Aber nun machten sie halt, um zu untersuchen, was da auf das Eis geworfen wurde, und der Schlitten bekam wieder einen kleinen Vorsprung.
›Wenn das nicht hilft, so kannst du doch wohl begreifen, daß ich mich freiwillig den Wölfen hinwerfe, damit du entkommen kannst,‹ sagte die Alte. Gerade als sie das sagte, war der Mann im Begriff, einen großen, schweren Braubottich vom Schlitten herunterzuwerfen. Aber während er sich noch damit abmühte, hielt er plötzlich inne, als könne er sich nicht entschließen, das Gefäß hinunterzuwerfen. In Wirklichkeit aber waren seine Gedanken von etwas ganz anderem in Anspruch genommen. ›Ein Pferd und ein Mann, die gesund und stark sind, brauchen doch ein altes Weib um ihretwillen nicht von den Wölfen auffressen zu lassen,‹ dachte er. ›Es muß doch noch einen anderen Ausweg geben. Ja, es muß einen Ausweg geben. Das Schlimmste ist nur, daß ich ihn nicht finden kann.‹
Er machte sich wieder mit dem Braubottich zu schaffen, hielt dann aber wieder damit inne und brach in ein lautes Lachen aus.
Die Alte sah ihn erschreckt an und dachte, daß er verrückt geworden sei, aber der Mann aus Heide lachte über sich selbst, weil er bisher so dumm gewesen war. Nichts war ja einfacher, als sie alle drei zu retten. Er konnte nur nicht begreifen, daß ihm das nicht gleich eingefallen war.
›Höre jetzt gut zu, was ich dir sage, Malene,‹ begann er. ›Es war brav von dir, daß du dich den Wölfen freiwillig hinwerfen wolltest. Aber das tut nicht nötig, denn nun weiß ich, wie wir alle drei gerettet werden können, ohne unser Leben aufs Spiel zu setzen. Vergiß aber nicht, daß du, was ich auch tue, ruhig auf dem Schlitten sitzen bleibst und nach Linsäll hinabfährst. Dort weckst du die Leute und sagst ihnen, daß ich hier allein mit zehn Wölfen auf dem Eise bin, und bittest sie, zu kommen und mir zu helfen.‹
Der Mann wartete nun, bis die Wölfe ganz nahe an den Schlitten herangekommen waren, dann wälzte er den großen Bottich auf das Eis, sprang selbst hinterdrein und kroch darunter.
Es war ein mächtiges Gefäß, so groß, daß es einen ganzen Weihnachtsbräu fassen konnte. Die Wölfe sprangen daran in die Höhe, sie bissen in die Reifen und versuchten, den Bottich umzustürzen. Aber das Gefäß war zu groß und zu fest. Sie konnten des Mannes, der darunter lag, nicht habhaft werden.
Der Mann aus Heide wußte, daß er in Sicherheit war, und er lag da und lachte über die Wölfe. Bald aber wurde er ernsthaft. ›Wenn ich jemals wieder in Not kommen sollte,‹ fügte er, ›so will ich an diesen Bräubottich denken. Ich will daran denken, daß ich weder mir selbst noch anderen Unrecht anzutun brauche. Es gibt immer einen dritten Ausweg, es handelt sich nur darum, ihn zu finden.‹«
Damit endete Bataki seine Erzählung. Aber Niels Holgersen hatte jetzt schon gemerkt, daß der Rabe niemals etwas erzählte, ohne eine ganz besondere Absicht damit zu haben, und je länger er ihm zuhörte, um so nachdenklicher wurde er. »Warum erzählst du mir eigentlich diese Geschichte?« fragte der Junge. – »Ach, sie fiel mir nur gerade ein, als ich hier stand und den Sonfjeld ansah,« sagte der Rabe.
Sie flogen nun weiter, den Ljusnan hinab, und als eine Stunde vergangen war, kamen sie an das Dorf Kolsätt, das hart an der Grenze von Helsingland liegt. Hier ließ sich der Rabe in der Nähe einer kleinen, niedrigen Hütte nieder, die keine Fenster, sondern nur eine Luke hatte. Aus dem Schornstein stieg ein Rauch auf, der mit Funken vermischt war, und aus dem Hause vernahm man starke Hammerschläge. »Wenn ich die Schmiede sehe,« sagte Bataki, »so muß ich unwillkürlich an etwas denken, was du wahrscheinlich nie gehört hast, nämlich daß es in alten Zeiten im Härjetal und namentlich in diesem Dorfe hier so gute Schmiede gegeben haben soll, daß man ihresgleichen im ganzen Lande nicht finden konnte.« – »Vielleicht kannst du mir auch von ihnen eine Geschichte erzählen,« meinte der Junge.
»Freilich, denn ich habe gehört, daß damals ein Schmied aus dem Härjetal zwei andere Meisterschmiede, einen aus Dalarna und einen aus Värmland, zu einem Wettstreit im Nagelschmieden herausgefordert hat. Die Herausforderung wurde angenommen, und die drei Schmiede trafen hier in Valfäst zusammen. Der Dalekarlier machte den Anfang. Er schmiedete ein Dutzend Nägel, die alle ausgezeichnet waren und nicht besser gemacht werden konnten. Nach ihm kam der Värmländer. Auch er schmiedete ein Dutzend Nägel, die ganz ausgezeichnet waren, und dazu kam noch, daß er nur halb soviel Zeit dazu gebrauchte wie der Dalekarlier. Als die Männer, die Schiedsrichter in dem Wettstreit sein sollten, das sahen, sagten sie zu dem Schmied aus dem Harjetal, er könne den Versuch, es besser als der Dalekarlier oder schneller als der Värmländer zu machen, nur gleich aufgeben. ›Nein, ich ergebe mich nicht. Es wird sich schon eine Art und Weise finden lassen, wie ich mich auszeichnen kann,‹ sagte der Mann aus dem Harjetal. Er legte das Eisen auf den Ambos, ohne es zuvor in die Esse zu legen, hämmerte es warm und schmiedete einen Nagel nach dem anderen, ohne weder Kohlen noch einen Blasebalg zu gebrauchen. Nie hatte man einen Schmied den Hammer mit größerer Meisterschaft führen sehen, und der Schmied aus dem Härjetal wurde als der beste im ganzen Lande erklärt.«
Bataki schwieg, aber der Junge wurde noch nachdenklicher. »Was bezweckst du eigentlich mit der Erzählung?« fragte er. – »Ach, die Geschichte fiel mir nur gerade ein, als ich die alte Schmiede sah,« antwortete der Rabe ganz gleichgültig.
Die beiden Reisenden stiegen nun wieder in die Luft empor, und der Rabe flog mit dem Knaben südwärts nach dem Kirchspiel Lillhärdal, das auf der Grenze von Dalarna liegt. Dort ließ er sich auf einem bewaldeten Hügel oben auf einem Bergrücken nieder. »Ob du wohl eigentlich weißt, auf was für einem Hügel du stehst?« fragte Bataki. Nein, der Junge mußte einräumen, daß er das nicht wußte. – »Es ist ein Grabhügel,« sagte Bataki. »Er ist über einem Mann errichtet, der Harjulf hieß, und der sich als erster hier im Härjetal niederließ und das Land zu bebauen begann.« – »Vielleicht kannst du auch von ihm eine Geschichte erzählen?« meinte der Junge.
»Ich habe nichts weiter von ihm gehört, als daß er wohl ein Norweger gewesen ist. Zuerst stand er im Dienst eines norwegischen Königs, aber mit dem entzweite er sich, so daß er landesflüchtig wurde. Dann zog er zu dem schwedischen König, der in Upsala wohnte und trat bei ihm in Dienst. Als aber eine Weile vergangen war, begehrte er die Schwester des Königs zum Gemahl, und als der König ihm eine so vornehme Braut nicht geben wollte, entfloh er mit ihr. Er hatte es nun dahin gebracht, daß er nicht in Norwegen und auch nicht in Schweden wohnen konnte, und ins Ausland konnte er nicht ziehen. ›Aber es muß wohl noch einen dritten Ausweg geben,‹ dachte er und zog mit seinen Dienern und seinen Schätzen gen Norden durch Dalarna, bis er an die großen, wilden Wälder kam, die sich nördlich von Dalarna ausbreiteten. Dort ließ er sich nieder, baute Häuser, machte den Wald urbar und wurde so der erste, der sich in dieser Gegend des Landes niederließ.«
Als Niels Holgersen diese Geschichte hörte, wurde er noch nachdenklicher als zuvor. »Was für einen Zweck hast du nur damit, mir dies alles zu erzählen?« sagte er noch einmal. Lange schwieg Bataki, drehte und wandte aber den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Da wir beide jetzt hier allein sind,« sagte er endlich, »so will ich die Gelegenheit benutzen und dich nach etwas fragen. Hast du jemals genauen Bescheid darüber erhalten, was der Kobold, der mit dir verhandelte, als Bedingung aufstellte, daß du wieder ein Mensch werden könntest?« – »Ich habe nie von einer anderen Bedingung gehört, als daß ich den weißen Gänserich wohlbehalten nach Lappland hinauf und wieder nach Schonen zurückbringen sollte.« – »Hab’ ich mir’s doch gedacht!« rief Bataki aus. »Denn das letztemal, als wir uns sahen, nahmst du den Mund so voll und sagtest, es gäbe nichts Häßlicheres, als einen Freund, der sich auf uns verließ; im Stich zu lassen. Du solltest doch Akka einmal nach der Bedingung fragen. Du weißt, sie ist daheim bei euch gewesen und hat mit dem Kobold gesprochen.« – »Davon hat Akka nichts gesagt,« erwiderte der Junge. – »Sie hielt es vielleicht für dich für das beste, wenn du nicht wüßtest, wie die Worte des Kobolds lauteten. Sie will dir natürlich lieber helfen als dem Gänserich Martin.« – »Es ist doch sonderbar, Bataki, daß du mir das Herz immer so schwer und sorgenvoll machen mußt,« sagte der Junge. – »Wohl möglich, daß es den Anschein hat,« meinte der Rabe, »aber diesmal glaube ich wirklich, daß du mir dankbar sein mußt, denn ich will dir nur sagen, daß die Worte des Kobolds lauteten,