Begierde. Lilly Grünberg
sich trennten. Sein Vater machte keinen Hehl daraus, dass er wechselnde Geliebte hatte, und Marc schwankte damals zwischen der Bewunderung des Vaters als toller Hecht und dem Mitleid für die gekränkte Mutter. Gerade zu dieser Zeit hätte er selbst dringend ein starkes Vorbild gebraucht, eine männliche Führungsperson, die ihm mit gutem Beispiel voranging und ihn auf das Leben vorbereitete. Oh ja, sein Vater und seine Stiefmutter bereiteten ihn durchaus auf das vor, was ihn erwarten würde. Aber anders als es wünschenswert gewesen wäre. Doch das begriff er alles erst später, als er das Verhalten seines Vaters analysierte und verurteilte. Die Streitereien, die seine Eltern lautstark ausfochten, ehe seine Mutter letztlich auszog, gellten ihm noch nachts in den Ohren, als er längst im Bett lag, der Streit vorbei war und das Haus in tiefer Stille versunken.
Zu seinem noch größeren Entsetzen verzichtete seine Mutter auf das Sorgerecht und ließ Marc bei seinem Vater zurück. Sollte das die viel gepriesene Mutterliebe sein? Er fühlte sich im Stich gelassen.
Doch nicht genug des Dramas. Zwei Wochen nach dem Auszug seiner Mutter stellte Marcs Vater ihm seine künftige Stiefmutter vor – und Victoria, genannt Vicky, seine vier Jahre jüngere Stiefschwester. Ein wenig pummelig und leichenblass, mit weit abstehenden kastanienroten Locken und zusammengepressten Lippen, hinter denen sie die Drähte ihrer Zahnspange verbarg.
Es stellte sich bald heraus, dass Vicky noch viel schockierter von dem plötzlichen Zusammenschluss zur Patchworkfamilie war als er selbst, und das linderte Marcs zunächst ablehnende Haltung. Als er eines Nachts auf Toilette gegangen war, hatte er sie durch die angelehnte Zimmertür schluchzen gehört. Einen Moment lang hatte er gehorcht, und war dann doch erstmal in sein Zimmer zurückgekehrt. Aber es ließ ihm keine Ruhe.
Niemanden interessierte es, ob es Vicky gut ging, ob und wie sie mit dem Umzug zurecht kam. Er empfand Mitgefühl. In seinen Augen war sie noch ein kleines unbeholfenes Mädchen. Plötzlich fühlte er sich mit seinen sechzehn Jahren viel erwachsener.
Er war wieder aufgestanden und leise in ihr Zimmer gegangen, hatte Vicky mit seinem »Pssst, was ist denn los«, beinahe zu Tode erschreckt. Aber nachdem er sie einfach in den Arm genommen und getröstet hatte, beruhigte sie sich schnell und das Eis zwischen ihnen war gebrochen. Bis dahin hatte jeder den anderen ignoriert, als ob dieser an der veränderten Situation mitschuldig wäre.
Den Rest der Nacht hatten sie leise miteinander geredet, zeitweise Arm in Arm zusammen unter die Decke gekuschelt und am Frühstückstisch vor Müdigkeit fast synchron gegähnt. Aber nicht einmal das war ihren Eltern aufgefallen. Plötzlich gab es Geheimnisse, die sie zu einer Zweiergemeinschaft verband.
Ab da verbrachten sie viel Zeit miteinander und Marc sah es als seine Aufgabe an, sich nachmittags um Vicky zu kümmern und ihr, wenn nötig, bei den Hausaufgaben zu helfen. Da er noch nie ein Freund von Fußball und anderen Freizeitaktivitäten gewesen war, sich nur selten mit Freunden traf, fiel es gar nicht auf, wie viel Zeit er mit Vicky verbrachte.
Endlich erreichte er sein Ziel. Das Taxi hielt in zweiter Reihe neben dem dicht gefüllten Parkstreifen. Die zu spät eingeschaltete Warnblinkanlage entlockte dem nachfolgenden Fahrzeug ein wütendes Hupen. Der Taxifahrer winkte beschwichtigend in den Rückspiegel und stellte in aller Ruhe die von Marc gewünschte Quittung aus.
Das Notariat lag im zweiten Stock eines mehrstöckigen Geschäftshauses. Marc strich sich die vom Regen feuchten Haare nach hinten und prüfte den Sitz seiner Krawatte, ehe er eintrat. Er nannte der Empfangsdame seinen Namen und wurde sogleich in das Büro des Notars gebeten. Einer der Plätze am Schreibtisch war von einer Frau mit langen gelockten Haaren besetzt, die sich nun schwungvoll umdrehte, aufsprang und ihn zu seiner Verblüffung überschwänglich umarmte, links und rechts seiner Wangen einen Kuss andeutete, den intensiven Duft eines sportiven Parfums verbreitend.
»Marc. Ich freue mich ja so, dich zu sehen«, säuselte sie in sein Ohr.
Er murmelte irgendetwas wie »ganz meinerseits«, reichte dann dem Notar die Hand zur Begrüßung und setzte sich.
Die Sitzung mit dem Notar war kurz. Dieser verlas das Testament, das die Eltern gemeinsam verfasst hatten. Den beiden Stiefgeschwistern Victoria Rossmann – sie hatte ihren Nachnamen bei der Heirat der Eltern behalten – und Marc Braun wurde das nach dem Tod des zweiten Elternteils verbliebene Vermögen zu gleichen Teilen zugesprochen.
Marc hatte als Erbteil nicht viel erwartet. Als sein Vater vor zwei Jahren nach einem Unfall auf der Autobahn verstorben war, erfreute sich seine Stiefmutter bester Gesundheit und er war sicher, sie würde lange genug leben, um alle Ersparnisse zu verprassen. Mit ihrem plötzlichen Ableben als Folge eines Herzinfarkts war nicht zu rechnen gewesen.
Seine Aufmerksamkeit galt nur zur Hälfte dem Notar. Verstohlen musterte er seine Stiefschwester von der Seite. Aus dem unscheinbaren Teenager von einst war eine attraktive junge Dame geworden, die mit elegant übereinander geschlagenen Beinen den Notar anlächelte. Ihre Figur hatte angenehme frauliche Rundungen angenommen, ihr Gesicht hingegen ein wenig des weichen Babyface verloren, an das er sich erinnerte. Sie war schlank, aber nicht mager. Ihre weißliche Haut hatte ihr als Kind diverse Spitznamen eingebracht, von denen Käsekuchen und Blasskäfer die bei weitem charmantesten gewesen waren. Es war ein Erbe ihres Vaters, dessen Haut nicht nur blass, sondern auch mit Sommersprossen übersät war, übertroffen nur noch von den feuerroten Haaren. Vickys kastanienbraunes Haar, das ihr Gesicht in üppigen großen Locken umrahmte, glich dem ihrer Mutter. Jetzt, als erwachsene Frau, gab ihr die vornehme Blässe das gewisse Extra, einen Hauch von Eleganz und ließ sie ein wenig geheimnisvoll wirken.
Ab und an nickte Vicky, als verstünde sie den Inhalt des notariellen Kauderwelschs, in dem das Testament abgefasst war. Sie hat also ihre schauspielerischen Talente, mit denen sie schon früher fast jeden um den Finger wickelte, nicht verlernt. Ganz im Gegenteil, dachte Marc bitter.
Seine Stiefschwester trug ein schwarzes Kostüm mit kragenloser Jacke, darunter eine weiße Bluse mit tiefem V-Ausschnitt, der Stoff leicht transparent. Der Spitzenstoff ihres BHs zeichnete sich darunter ab, dazu trug sie hauchdünne schwarze Strümpfe und Highheels. Diese Kleidung ließ sie ein wenig älter und reifer wirken, als sie in Wirklichkeit war.
Die fein gemusterte Abschlussborte ihrer Strümpfe schaute ein kleines Stück unter ihrem viel zu kurzen Rock hervor und Marc beobachtete, dass der Notar nervös immer wieder auf Vickys Schenkel starrte. Irrte er sich, oder rutschte der Rocksaum noch ein kleines Stück höher, nur weil Vicky etwas ihre Position verändert hatte? Wenn ja, dann war es die raffinierteste Masche, scheinbar unabsichtlich mehr Bein zu zeigen, die er seit langem beobachtet hatte.
Sie öffnete die flache schwarze Handtasche, die auf ihren Beinen lag, entnahm ihr ein Notizbuch und schrieb ein paar Zeilen auf einen Zettel. Ihre Hand verdeckte den Text. Marc hätte zu gerne gewusst, was sie Wichtiges zu notieren hatte.
In diesem Augenblick beendete der Notar seinen Vortrag, fragte knapp, ob sie beide das Erbe annehmen würden, und als sie nickten, reichte er ihnen ein Formular zur Unterschrift. Damit war die Sitzung beendet.
Marc schüttelte dem Notar die Hand, bedankte sich und wandte sich zur Tür. Im Augenwinkel nahm er wahr, wie Vicky den Zettel, den sie aus ihrem Notizbuch herausgerissen hatte, dem Notar reichte. Dann stolzierte sie mit einem selbstbewussten, fast als arrogant zu bezeichnenden Gesichtsausdruck an Marc vorbei, der auf sie wartete und ihr die Tür aufhielt.
»Gehen wir noch zusammen etwas trinken? Wir haben uns ja solange nicht mehr gesehen.« Vicky griff nach Marcs Arm und hängte sich bei ihm ein. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen. In den Pfützen spiegelten sich Passanten, Straßenlaternen, Schaufensterscheiben und Autos. Der Verkehr war noch genauso dicht wie eine halbe Stunde zuvor.
»Du siehst übrigens gut aus, mit der gebräunten Haut und deinen schwarzen Haaren gehst du sicher fast schon als Italiener unter ihresgleichen durch, oder?« Sie erwartete wohl keine Antwort, sondern plapperte munter weiter, während sie ihren Stiefbruder zielstrebig in ein kleines, nahe gelegenes Restaurant dirigierte. Ohne ihn nach seinen Wünschen zu fragen, bestellte sie bei dem herbeieilenden Ober eine Karaffe Rotwein, zwei Gläser und Mineralwasser.
Marc zog die Stirn in Falten. »Übernimmst du immer die Regie?«
Vicky