Begierde. Lilly Grünberg
einfach im Raum stehen lassen, sondern sah sich genötigt, ihr ein letztes Mal zu widersprechen, ehe sich ihre Wege unwiderruflich trennten.
»Eine feste Beziehung hat doch auch gewisse Vorteile, die du völlig außer Acht lässt, zum Beispiel Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen. Und es gibt auch Männer, die das mit fantasievollen erotischen Liebesspielen vereinen und mit denen man durchaus noch nach Jahren des Zusammenseins sexuelle Abenteuer erleben kann.«
Vicky lachte schrill auf und warf den Kopf zurück. »Wenn du einem von ihnen begegnest, schick ihn bei mir vorbei. Ich würde ihn auf der Stelle heiraten und treu werden.« Sie beugte sich vor und flüsterte. »Zu was für Spielchen bist du denn bereit? Wie spannend ist dein Liebesleben? Bist du deiner Freundin treu? Oder ab und zu scharf auf einen Blowjob nebenher? Glaub mir, ich bin gut darin. Jetzt gleich, hier?«
Sie schaute sich um und machte Anstalten, unter dem Tisch zu verschwinden. Er packte verärgert über ihre Schamlosigkeit ihr Handgelenk und zischte: »Nicht, hör auf damit, du –« Er schluckte die Schlampe hinunter.
Vicky lachte schallend.
Marc beeilte sich, sein Glas auszutrinken. Ihm reichte, was er erfahren hatte, mehr als er ertragen wollte. Er war froh, dass Vicky ihn nicht weiter nach seinem Privatleben fragte, so brauchte er nicht zu lügen, denn eine Freundin hatte er derzeit überhaupt nicht. Aber das ging Vicky nun wirklich nichts an.
Marc winkte dem Ober, um zu bezahlen und kurz darauf verabschiedeten sich beide voneinander.
In dieser Nacht lag Marc lange Zeit wach. Ohne dass er es wollte, ging Vicky ihm nicht mehr aus dem Kopf. Seine Augen taxierten ihr Gesicht, ihr Dekollete, ihre Figur, die schlanken Beine. Ihre meergrünen Augen erwiderten selbstsicher und frivol seinen Blick. Je länger er über ihre Unterhaltung nachdachte, desto mehr ärgerte er sich über ihr Verhalten. Hatte sie nur gepokert oder wäre sie wirklich für einen Blowjob unter den Tisch gekrochen? Ob sie wohl tatsächlich gut darin war? Er zuckte erschrocken zusammen. Was für ein Gedanke!
Er sprang aus dem Bett und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. An Schlaf war nicht zu denken. Dabei war Vicky früher ein vollkommen unbescholtenes Geschöpf gewesen, ein ehrliches und natürliches Mädchen bis – er weigerte sich, den Gedanken zuende zu führen. Ohne Ziel wanderte er mit dem Bierglas in der Hand auf und ab. Das Ein-Zimmer-Appartement, das er bei seinen seltenen Besuchen in Frankfurt bewohnte, bot nur wenig mehr Ablenkung als Radio und Fernseher. Nun, er würde sowieso nicht lange bleiben. Noch ein paar Kundentermine in Frankfurt und Köln, dann ging es zurück nach Hause – nach Italien.
Vickys Jugendfreund
Marc war gestresst. Den ganzen Tag über hatte er gebüffelt wie ein Wahnsinniger. Jetzt war sein Genick steif und in seinen Schläfen pochte es. Er rieb sich die Augen und sah dann auf die Uhr. Bereits Mitternacht vorbei. Er streckte die Arme in die Höhe und dehnte sich. Die Prüfung rückte unaufhaltsam näher. Noch zwei Wochen, dann würde sich zeigen, ob er genügend und das Richtige gelernt hatte. Mit diesem Diplom würde sich sein Traum erfüllen lassen, nach Italien zu gehen und dort seine kreativen Ideen zu Geld zu machen.
Sein Handy vibrierte. Er schaute auf das Display und lächelte. Vicky. Niemals hätte er geglaubt, dass man eine Stiefschwester derart ins Herz schließen könnte. Aber Vickys unbeschwerte fröhliche Art war wohltuend. Italien. Er war hin und hergerissen zwischen seinem Wunsch, dort zu arbeiten, und dem Schmerz, Vicky zurückzulassen. Wenn sie mit der Schule fertig war, würde er sie zu sich holen.
Als hätte er geahnt, dass sie genau jetzt ihre SMS schicken würde, hatte er im richtigen Augenblick aufgehört zu lernen. Die Info war knapp. Bitte hol mich ab.
Marc knipste die Schreibtischlampe aus und rannte polternd die alte Holztreppe hinunter. Wieder einmal waren sie am Wochenende alleine. Manchmal würde er schon gerne wissen, wohin seine Eltern dauernd fuhren. Vielleicht hatten sie heimlich ein Wochenendhaus gemietet? Aber eigentlich war er froh, wenn er sie nicht sehen musste. Für das geile Herumgetue fand er nur ein Wort passend: ätzend.
Er startete den alten Opel Escort, den ihm sein Patenonkel zum Führerschein geschenkt hatte. Nichts Besonderes und ganz gewiss nicht sein Traumauto, aber Patenonkel Peter hatte wenigstens Wort gehalten und ihm auch noch die Versicherung für das erste Jahr bezahlt, eine Aufgabe, die er eher von seinen Eltern erwartet hatte.
Eltern. Welch ein Hohn. Er hatte wohl irgendwelche Erzeuger. Aber Eltern? Es schien ihm, als sei das eine halbe Ewigkeit her. In dem Maße, wie das Interesse seines Vaters für seine Mutter abflaute und er sich mit Geliebten herumtrieb, schien auch das Interesse seiner eigenen Mutter an ihm, ihrem einzigen Kind nachzulassen. Als ob er an dem Zerbrechen ihrer Ehe schuld wäre. Natürlich hatte sie ihm erklärt, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte, dass sie einfach nur sehr unglücklich gewesen sei und sich deshalb vielleicht mehr zurückgezogen hatte, als für ihn als Kind verständlich war. Dennoch begriff Marc bis heute nicht, warum sie ihn beim Vater zurückgelassen hatte. Er war gar nicht um seine Meinung gefragt worden.
Sobald er sich der Innenstadt näherte, wurde der Verkehr dichter. Samstagnacht schien die halbe Stadt unterwegs zu sein. Marc seufzte und drehte das Radio lauter. Mal wieder richtig unterwegs sein, Spaß haben – diese Sehnsucht wurde immer größer. Aber er hätte es sich niemals verziehen, wenn er sich den Abschluss durch Faulheit vermasselte und damit seinen Traum. Dieses halbe Praktikumsjahr in Italien hatte viel verändert. Zusammen mit Antonio, seinem italienischen Studienkollegen, hatte er das zum Innenarchitektur-Studium gehörende Praktikumssemester in der Firma von Antonios Vater absolviert. Einer renommierten Fabrik, die Möbel im klassisch-antiken Stil herstellte. Teuer und begehrt. Allerdings nicht das, was Antonio und Marc sich vorstellten. Immerhin hatte sich der alte Del Carmine von ihren Inspirationen für neues Design überzeugen lassen und ihnen nach bestandenem Diplom seine Unterstützung zur Gründung einer eigenen Firma zugesagt. Seither gab es Träume, die Marc kaum zu träumen wagte.
Außerdem – er musste schließlich auch ein gutes Vorbild für Vicky sein, die jetzt mitten im Abitur stand und nur ausnahmsweise an diesem Abend ausgehen durfte, weil ihre beste Freundin Michaela, genannt Micky, ihren achtzehnten Geburtstag feierte. Da durfte Vicky natürlich nicht fehlen.
Vicky. Das schüchterne, ein wenig pummelige Stiefschwesterchen hatte damals bei ihrem Einzug ziemlich Angst vor dem neuen großen Stiefbruder gehabt. Während er die Pubertät gerade hinter sich gebracht hatte, stand Vicky diese Entwicklung noch bevor. Mit zusammengekniffenen Lippen war sie vor ihm gestanden, um ihre Zahnspange zu verbergen. Doch diese Zeit war längst vorbei. Inzwischen war aus ihr ein hübsches Mädchen geworden, das mit seinen nixengleichen, wässrig grünen Augen wohl manchem ihrer Klassenkameraden schlaflose Nächte bereitete.
Unwillkürlich verglich Marc jede Freundin, die er bisher gehabt hatte, mit seiner Schwester. Ja Schwester, nicht Stiefschwester. Vicky war die Schwester, die er sich schon früher gewünscht hätte – obwohl es eine Zeit gab, zu der er Mädchen blöd fand. Er grinste. Wie dumm man doch als kleiner Junge war, wenn man noch keine Ahnung von Frauen hatte! Wäre Vicky nicht zufällig seine Schwester, hätte er sie am liebsten zur Freundin gehabt. Nein, verbesserte er sich, zur Geliebten. Denn eine Freundin war sie ihm auf jeden Fall. Vielleicht war dies der Grund, warum er es nicht lange mit seinen Freundinnen aushielt. Niemals empfand er diese Vertrautheit und Nähe, die ihn mit Vicky verband. Sie waren Seelenverwandte, brauchten sich nur anzuschauen und wussten, was der andere dachte und wie es ihm gerade ging. Sie hatten doch nur sich, und sie redeten viel miteinander, über alles. Warum sie im Gegensatz zu ihren Klassenkameradinnen noch keinen Freund hatte, verstand er allerdings nicht. Es gab bestimmt genügend Bewerber, aber mehr als Kino oder Party feiern kam für Vicky nicht in Frage. Wenn er sie fragte warum, erwiderte sie, die Jungs seien alle so oberflächlich und albern, einfach zu jung für sie. Mit keinem könne sie so vorbehaltlos über alles reden wie mit ihm, was Marc natürlich schmeichelte und weitere Rückfragen zu diesem Thema meistens im Keim erstickte.
Das Handy vibrierte. Bin da. Warte draußen.