Begierde. Lilly Grünberg
machte die Tür hinter sich zu und flüsterte verschwörerisch: »Welche Lüge hat sie dir denn aufgetischt? Bist du immer noch ihr gutgläubiges Brüderchen? Tja, es ist schwer, Veränderungen zu akzeptieren, gel? Vicky ist kein kleines Mädchen mehr, Marc.«
Ihre Nähe war ihm unangenehm. Er fühlte, wie in seinen Handflächen der Schweiß ausbrach.
»Kam dir ihr Auftritt nicht merkwürdig vor? Welche Geschichte hat sie dir als Erklärung aufgetischt?«
Marc schluckte nervös. »Sie hat mir genau das Gegenteil erzählt. Dass dieser Chris ihr die Bluse zerrissen und sich ihr aufgedrängt hätte, und dann hat er ihr auch noch Bier drüber gekippt, weil er betrunken …«
Micky begann zu prusten. »Entschuldige bitte, aber ein Junge, der einem Mädchen an die Wäsche will, das sich so unschuldig und wohlerzogen gibt wie Vicky, der wird doch wohl nicht wie ein Tollpatsch vorgehen. Da kann er sich ja gleich ausrechnen, dass er keinen Erfolg haben wird. Wieso sollte er also dumm sein, ihr Bier drüberkippen oder die Bluse zerreißen?«
Es widerstrebte Marc, ihr Recht zu geben, deswegen schwieg er. Zweifel an Vickys Darstellung waren berechtigt. Wenn er sich als Freund für Vicky interessieren würde, dann würde er in der Tat ganz anders vorgehen, viel romantischer, sie langsam einwickeln und verführen, bloß nichts dem Zufall überlassen und riskieren … Er holte tief Luft.
»Ach du meine Güte, ich muss jetzt wirklich los, sonst komme ich noch zu spät – also, war schön, mal mit dir zu plaudern. Ciao.«
Ehe Marc aus der dumpfen Erstarrung, die ihn befallen hatte, wieder zu sich kam, war Micky bereits ausgestiegen und klackerte auf ihren hochhackigen Sandaletten Richtung Schulhof davon. Ihr viel zu kurzer Glockenrock wippte dabei hin und her.
Eine halbe Stunde später ging auf Marcs Handy eine SMS ein.
Hi Marc, wusste gar nicht, dass du sooo süß bist. Hast du heute Nachmittag Zeit für mich? Micky.
Marc war hin- und hergerissen. Wenn er sich mit Micky treffen würde, würde sie ihm bestimmt noch mehr über Vicky erzählen. Es könnte interessant sein. Andererseits, stimmte das alles überhaupt oder hatte sie alles erfunden?
Er simste zurück: Sorry, keine Zeit, muss lernen.
Ihre Antwort war knapp und unzweideutig: Langweiler.
Das Handy dudelte die eingestellte Melodie eines italienischen Schlagers aus den 1960er Jahren und riss Marc abrupt aus seinen düsteren Erinnerungen.
»Pronto?«
Ein italienischer Wortschwall überfiel sein Ohr. »Signor Braun, como sta? – wie geht es Ihnen? Haben Sie Ihre Schwester getroffen … kaltes Wetter? … alles erledigt? … zurück?«
Marc hielt den Hörer einige Zentimeter von seinem Ohr weg, bis sich der verbale Erguss ein wenig beruhigte, dann unterbrach er Isabella, seine Assistentin. »Es ist alles in Ordnung. Wie sieht es in der Firma aus, gibt es irgendwelche Probleme?«
Isabellas Stimme verlor ein wenig von ihrer sprudelnden Fröhlichkeit, als sie antwortete. »Nein, Signor Braun, es ist alles in Ordnung. Ich wollte nur hören, wie es Ihnen geht und wann Sie zurückkommen.«
»Hm, wahrscheinlich in drei bis vier Tagen, ich weiß es noch nicht.«
»Va bene, un momento, Signor del Carmine wollte Sie auch noch sprechen, un momento, ich verbinde …«
Eine schwungvolle Melodie überbrückte die Wartezeit.
»Marco!«
Zum Glück hatte Marc das Handy nicht dicht an sein Ohr gepresst. Er kannte Antonios Art zur Begrüßung so laut in den Hörer zu brüllen, als müsste er die vielen Kilometer Entfernung durch Lautstärke kompensieren. Danach sprach er zum Glück in normaler Lautstärke weiter.
»Comme sta?«
»Va bene, bestens, alles in Ordnung. Und wie läuft’s bei euch?«
»Ah, nichts Besonderes, alles nach Plan. Aber deswegen rufe ich nicht an. Du, ich muss dir unbedingt was erzählen, sonst platze ich. Ich habe eine Anzeige gelesen, die klingt wirklich interessant, vollkommen anders, das musst du dir anhören.«
Marc verdrehte die Augen. Er ahnte, was kommen würde. Seit Monaten befand sich Antonio auf Freiersfüßen, bedrängt von seinem Vater, endlich für die nächste Generation zu sorgen, aber auch selbst beseelt von dem Gedanken, die Frau fürs Leben zu finden und zu heiraten. Antonio war sogar ziemlich romantisch veranlagt und bereit, die von ihm Angebetete auf alle erdenklichen Arten zu verwöhnen. Aber obwohl er durchaus attraktiv war, regelmäßig Sport machte und auf sein Äußeres achtete, hatte er noch nicht die Richtige gefunden.
In dieser Hinsicht erging es ihm ähnlich wie Marc. Interessierte junge Damen gab es genug, aber ihnen war in der Regel nur an Geld, Prestige und Party feiern gelegen. Heiraten ja, Kinder nein. Nach wenigen Monaten stellte sich ein schales Gefühl ein, weil die gemeinsame Substanz für tägliche Gespräche und ein gefühlvolles Miteinander fehlte. Es gab eben auch einen Alltag, nicht nur Dolce far niente.
Mehrere Heiratsannoncen und Blinddates hatten eine Enttäuschung nach der anderen ergeben, was Antonio aber nicht daran hinderte, einen Tag später das Thema von neuem anzupacken. Wie immer holte er bei seiner Erzählung weit aus …
An dem Tag, an dem Micky ihm eine andere Darstellung von dem gegeben hatte, was auf der Party geschehen war, hatte er seine Stiefschwester am Nachmittag zur Rede gestellt und gefragt, welches denn nun die Wahrheit sei. Vicky hatte nichts darauf erwidert, sich weder verteidigt noch zugestimmt. Sie hatte ihn nur mit großen Augen angesehen, sich dann abrupt umgedreht und war schnurstracks in ihrem Zimmer verschwunden.
An den darauf folgenden Tagen hatten sie sich kaum gesehen. Vicky ging ihm so weit wie möglich aus dem Weg und Marc wertete dies als Schuldeingeständnis. Wenige Wochen später hatte er sein Diplom in der Tasche und zog nach Italien, nun ohne das lang empfundene Bedauern, Vicky zurück zu lassen.
Irgendwie hatte er erwartet, Vicky hätte in der Zwischenzeit etwas dazu gelernt, wieder zu den Wurzeln ihres ursprünglich liebenswerten Wesens zurück gefunden, einen netten Freund an ihrer Seite. Doch stattdessen flatterte sie ganz offensichtlich wie ein Schmetterling von einem zum anderen und spielte mit den Männern, ähnlich wie schon ihre Mutter es getan hatte. Wie viele verheiratete oder zumindest in einer festen Beziehung liierte Männer sie wohl schon verführt und anschließend verstoßen hatte? Marcs Stirn zog tiefe Furchen. Ihr fehlte eindeutig ein Mann mit starker Hand, der ihr nichts durchgehen ließe. Manchmal fragte er sich, wie es wohl früher gewesen war, als die Frauen den Männern gehorchen mussten und nichts selbst bestimmen durften. Andererseits – wahrscheinlich war es recht eintönig gewesen, nur selten von Liebe und fantasievollem Sex belebt. Er seufzte. Gab es überhaupt das, was man sich so im Allgemeinen als Glück vorstellte? Er hatte mal daran geglaubt, gehofft, er würde ein Mädchen kennenlernen, das so wie seine Stiefschwester zu Anfang war, eine liebenswürdige, warmherzige Freundin. Nein, zügellose Verführerinnen wie Vicky brauchten einen Mann mit starker Hand und festem Willen, dann würde sogar sie möglicherweise eine unterhaltsame, wenn auch vielleicht anstrengende Geliebte sein. Doch er war nicht dafür geschaffen, ihr Erzieher zu sein. Sie war erwachsen und auf sich gestellt, und er musste sie möglichst bald wieder aus seinen Gedanken verbannen.
Erschrocken zuckte Marc zusammen. Er hatte sich von seinen düsteren Gedanken ablenken lassen. Antonios Stimme erforderte wieder seine Konzentration. Er hatte sich in Fahrt geredet und war dabei lauter geworden, ganz mit dem sprühenden südländischen Temperament, das Marc liebte und manchmal auch fürchtete – wenn sie um ein Design stritten und sich nicht so schnell einig wurden.
»… ist es etwas ganz anderes. Ich spüre das, glaube mir, das ist keine normale Heiratsannounce – warte, ich lese dir mal den Text vor …«
Diesmal hörte Marc genau zu. Diese Heiratsvermittlungsanzeige klang in der Tat ein wenig anders als die vielen, die Antonio ihm in seiner verzweifelten Suche nach einer Ehefrau schon vorgelegt hatte – und sie klang dabei auch vielversprechender. Dass es so