Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
Ein Land muß wie jedes Erlebnis von innen aufgebaut werden, Worte bilden nur ein Kartenhaus. »Die Wahrheit ist bei allen Völkern gleich, aber jedes Volk hat seine Lüge, die es seinen Idealismus nennt. Jedes Wesen atmet ihn ein von der Wiege bis zum Tod, er wird ihm zur Lebensnotwendigkeit. Nur einige Genies können sich in heroischen Kämpfen befreien, während derer sie allein sind im freien Weltall ihrer Gedanken.« Erst muß man sich frei machen von jedem Vorurteil, um frei urteilen zu können. Es gibt keine andere Formel, gibt keine psychologischen Rezepte: man muß einströmen wie bei jeder Schöpfung in die Materie, sich hingeben in Vertrauen. Es gibt nur eine Wissenschaft, von den Völkern sowohl wie von den Menschen: die des Herzens und nicht die der Bücher. Nur solches Erkennen von Seele zu Seele bindet die Völker: was sie trennt ist das ewige Mißverstehen, daß sie einzig ihren Glauben für richtig halten, ihr Wesen für das einzig gemäße, daß sie den Hochmut haben, die einzig richtigen zu sein. Einzig der Nationalismus, das kollektive Selbstgefühl, die »große europäische Hochmutspest«, die schon Nietzsche »die Krankheit des Jahrhunderts« nennt, entfremdet gewaltsam die Nationen von den Nationen. Wie Bäume im Walde, Stamm an Stamm, wollen sie jeder für sich stehen, indes sich in der Tiefe die Wurzeln und in der Höhe die Kronen berühren. Das Volk, die Tiefe, das Proletariat, fühlt keinen Gegensatz, weil es allmenschlich fühlt – erstaunt erkennt Johann Christof an Sidonie, dem bretonischen Dienstmädchen, »wie sehr sich die anständigen Menschen in Frankreich und Deutschland gleichen«. Und die besten wieder, die Höhe, die Elite, Olivier, Grazia, sie leben längst in jener reinen Sphäre Goethes, »wo man das Schicksal fremder Nationen wie sein eigenes empfindet«. Die Gemeinsamkeit ist eine Wahrheit, der Haß eine Lüge der Völker, Gerechtigkeit ist die einzig wahre Bindung zwischen Menschen und Nationen: »Wir sind alle, alle Völker, Schuldner einer des andern. Tun wir also Schuld und Pflicht zusammen.« Von allen Nationen hat Johann Christof gelitten, von allen ward er beschenkt, von allen ward er enttäuscht, von allen gesegnet. Immer reiner erkennt er ihr Bildnis. Am Ende der Wanderschaft sind sie dem Weltbürger nur Heimat der Seele, und der Musiker in ihm träumt von erhabenem Werk, von der großen europäischen Symphonie, wo alle Stimmen der Völker sich aus Dissonanzen lösen und steigern in die letzte, die höchste Harmonie der Menschheit.
Das Bildnis Frankreichs
Das Bildnis Frankreichs in dem großen Roman ist deshalb bedeutungsvoll, weil hier ein Land in doppelter Optik gesehen ist: von außen und von innen, aus der Perspektive eines Deutschen und mit den Augen eines Franzosen, und weil Christofs Urteil nicht nur ein Sehen, sondern ein Sehen-Lernen bedeutet.
In allem und jedem ist der Gedankenweg des Deutschen absichtlich typisch gedacht. In seiner kleinen Heimatstadt hat er noch keine Franzosen gesehen, und sein nur von Begriffen genährtes Gefühl ist das einer jovialen, ein wenig herablassenden Sympathie. »Die Franzosen sind gute Kerle, aber schlapp«, das ist ungefähr sein deutsches Vorgefühl: marklose Künstler, schlechte Soldaten, verlogene Politiker, kokottenhafte Weiber, aber gescheit, amüsant und freigeistig. Etwas in ihm sehnt sich dumpf aus der deutschen Ordnung und Nüchternheit dieser demokratischen Freiheit entgegen. Die erste Begegnung mit einer französischen Schauspielerin, Corinna, irgend einer Wahlverwandten von Goethes Philine, scheint das leichtfertige Urteil zu bestätigen, aber schon bei der zweiten Begegnung mit Antoinette spürt er ein anderes Frankreich. »Sie sind so ernst«, staunt er das stille, schweigsame Mädchen an, das sich hier in der Fremde mit Stundengeben in protzigen Parvenüfamilien plagt. Ihr Wesen will sich durchaus nicht reimen mit dem althergebrachten Vorurteil, eine Französin müsse unbedingt leichtfertig, übermütig und erotisch sein. Zum erstenmal stellt ihm Frankreich das »Rätsel seiner doppelten Natur« dar, und dieser erste Anruf aus der Ferne wird geheimnisvolle Lockung; er spürt die unendliche Vielfalt fremden Wesens, und wie Gluck, wie Wagner, wie Meyerbeer, wie Offenbach flüchtet er hinüber aus der Enge der deutschen Provinz in die Traumheimat der wahren Weltkunst, nach Paris.
Das erste Gefühl bei der Ankunft ist Unordnung, und dieser Eindruck verläßt ihn nicht mehr. Er ist der erste und letzte, der stärkste, gegen den sich der Deutsche in ihm immer wieder wehrt, daß hier eine starke Kraft durch Mangel an Disziplin zersplittert wird. Sein erster Führer auf dem Jahrmarkt ist einer jener falschen »echten Pariser«, also einer jener Leute, die sich pariserischer gebärden als alle Pariser, ein eingewanderter deutscher Jude, Sylvain Kohn, der sich hier Hamilton nennt, und in dessen Händen alle Fäden des Kunstbetriebes zusammenlaufen. Er zeigt ihm die Maler, die Musiker, die Politiker, die Journalisten – enttäuscht wendet sich Johann Christof ab. Er spürt in ihren Werken nur einen unangenehmen »Odor di femina«, eine parfümierte, überladene, stickige Luft. Er sieht das Lob, die Pomade über die Stirnen der Einfältigen triefen, hört nur Geschrei und Anpreisung und Lärm, ohne ein wirkliches Werk zu sehen. Einiges freilich scheint ihm Kunst, aber es ist eine zarte, überfeinerte, dekadente Kunst, einzig aus Geschmack, nie aus Kraft gestaltet, innerlich brüchig durch Ironie, überklug, überfeinert, eine hellenistische, eine alexandrinische Literatur und Musik, Atem eines schon sterbenden Volkes, schwüle Blüte einer welkenden Kultur. Nur ein Ende sieht er und keinen Anfang, und der Deutsche in ihm hört schon das »Rollen der Kanonen, das dieses schwache Griechenland zerschmettern wird«.
Er lernt gute, er lernt schlechte Menschen kennen, eitle und dumme, stumpfe und beseelte, aber nicht einen einzigen in diesen Gesellschaften und Salons von Paris, der ihm Zutrauen zu Frankreich gibt. Der erste Bote kommt aus einer Ferne: es ist Sidonie, das bäurische Dienstmädchen, das ihn während seiner Krankheit pflegt. Hier erkennt er mit einem Male, wie ruhig und unerschütterlich, wie fruchtbar und stark die Erde ist, der Humus, aus dem alle diese fremden eingepflanzten Pariser Blumen ihre Kraft saugen: das Volk, das starke knochige, ernste, französische Volk, das seine Erde bebaut und sich um den Jahrmarktsbudenlärm nicht kümmert, das die Revolutionen gemacht hat mit seinem Zorn und die Napoleonischen Kriege mit seiner Begeisterung. Von diesem Augenblick an fühlt er, daß es ein wirkliches Frankreich geben müsse, das er nicht kennt, und einmal in einem Gespräch fragt er Sylvain Kohn: »Wo ist denn Frankreich hier?« Stolz antwortet Sylvain Kohn: »Frankreich, das sind wir!« Johann Christof lächelt bitter, er weiß, daß er es lange suchen muß, denn sie haben es gut versteckt.
Da endlich kommt jene Begegnung, die für ihn Schicksalswende und Erkenntnis ist, er lernt Olivier, den Bruder Antoinettes kennen, den wahren Franzosen. Und wie Dante, von Virgil belehrt, durch immer neue Kreise des Erkennens wandert, so entdeckt er, geführt von seiner »seelenkundigen Intelligenz«, mit Staunen, daß hinter diesem Vorhang von Lärm, hinter diesen schreienden Fassaden eine Elite in der Stille arbeitet. Er sieht das Werk von Dichtern, deren Namen nie genannt werden in den Tageszeitungen, sieht das Volk, die vielen stillen, anständigen Menschen, die abgesondert von dem Getümmel ihr Werk tun, jeder für sich. Er erkennt den neuen Idealismus eines Frankreich, das an der Niederlage seelisch stark geworden ist. Zorn und Erbitterung ist sein erstes Gefühl bei dieser Entdeckung. »Ich verstehe euch nicht«, schreit er den sanften Olivier an, »ihr lebt in dem schönsten Land, seid wundervoll begabt, habt den menschlichsten Sinn und wißt damit nichts anzufangen. Ihr laßt euch von einer Handvoll Lumpen beherrschen und mit Füßen treten. Steht doch auf, tut euch zusammen, fegt euer Haus rein!« Der erste, der natürlichste Gedanke des Deutschen ist Organisation, der Zusammenschluß der guten Elemente, der erste Gedanke des Starken der Kampf. Aber gerade die Besten in Frankreich beharren darauf, abseits zu bleiben: irgendeine geheimnisvolle Klarheit einerseits, eine leichte Resignation andererseits, jener Tropfen Pessimismus in der Klugheit, den Renan am sinnfälligsten ausdrückt, schreckt sie vom Kampf zurück. Sie wollen nicht handeln, und das allerschwerste ist, sie zu veranlassen, gemeinsam zu handeln: »sie sind zu klug, sie sehen den Rückschlag vor dem Kampf«, sie haben nicht den deutschen Optimismus, und darum bleiben sie alle isoliert und einsam, die einen aus Vorsicht, die anderen aus Stolz. Irgend etwas von einem »Stubenhockergeist« ist in ihnen, und Johann Christof sieht es am besten im eigenen Haus. In jedem Stockwerk wohnen anständige Leute, die sich wundervoll miteinander verständigen könnten, aber sie schließen sich gegeneinander ab. Zwanzig Jahre gehen sie auf den Treppen aneinander vorüber, ohne sich zu kennen oder sich umeinander zu kümmern und so ahnen sich die besten unter den Künstlern nicht.
Da