Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
verschwenden unerhörte Quantitäten von Kraft, indem sie, jeder für sich, den ganzen Zeitkampf auskämpfen, aber sie lassen sich nicht organisieren, nicht zusammenspannen. Wird ihre Tatkraft auch von ihrer Vernunft gelähmt, so bleibt sie doch frei in ihren Gedanken, und so bleiben sie einerseits befähigt, alles Revolutionäre mit der religiösen Inbrunst des Einsamen zu durchdringen, andererseits ihren Glauben immer wieder revolutionär zu erneuern. Diese ihre Konsequenz ist ihre Rettung, denn sie bewahrt sie vor der Ordnung, die sie starr macht, vor der Mechanisierung, die vereinheitlicht. Johann Christof begreift, daß die lärmende Jahrmarktsbude nur da ist, um die Gleichgültigen anzulocken und den wahrhaft Tätigen ihre schöpferische Einsamkeit zu lassen. Er sieht, daß dieser Lärm als Anfeuerung zur Arbeit für das französische Temperament Bedürfnis ist, daß die scheinbare Inkonsequenz in den Gedanken eine rhythmische Form beständiger Erneuerung ist. Sein erster Eindruck war, wie der so vieler Deutscher, die Franzosen seien fertig. Nach zwanzig Jahren erkennt er, daß er richtig gesehen und sie immer fertig waren, um immer neu anzufangen, daß in diesem scheinbar widerspruchsvollen Geist eine geheimnisvolle Ordnung waltet, eine andere wie im deutschen Wesen, und eine andere Freiheit. Und der Weltbürger, der keiner Nation mehr die Prägung seiner eigenen aufzwingen möchte, sieht lächelnd und froh die ewige Verschiedenheit der Rassen, aus denen sich, wie aus den sieben Farben des Spektrums, das Licht der Welt, die wundervolle Vielfalt des ewig Gemeinsamen, der ganzen Menschheit zusammenfügt.
Das Bildnis Deutschlands
Auch Deutschlands Bild ist in diesem Romane doppelt gesehen: und umgekehrt wie Frankreich mit den Augen eines Deutschen und aus der Perspektive eines Franzosen, zuerst von innen aus der Heimat, dann von außen aus der Ferne. Und ebenso wie in Frankreich sind hier zwei Welten unsichtbar übereinander geschichtet, eine laute und eine leise, eine falsche und eine wahre Kultur, das alte Deutschland, das sein Heldentum im Geistigen, seine Tiefe in der Wahrheit suchte, und das Neue, das berauscht ist von seiner Kraft und die große Vernunft, die in philosophischer Formung einst die Welt verändert, nun mißbraucht zu einer praktischen und geschäftlichen Tüchtigkeit. Nicht, daß der deutsche Idealismus erloschen wäre, der Glaube an eine reinere, schönere, von den Mischformen des Irdischen befreite Welt – im Gegenteil, seine Gefahr ist, daß er sich zu sehr verbreitet hat, allgemein und flach geworden ist. Das große deutsche Gottvertrauen hat sich praktisch gemacht und verirdischt in nationalen Zukunftsgedanken, sentimental in der Kunst und veräußerlicht im billigen Optimismus Kaiser Wilhelms. Dieselbe Niederlage, die Frankreichs Idealismus vergeistigte, hat als Sieg den deutschen materialisiert. »Was hat das siegreiche Deutschland der Welt gebracht?« fragt Christof einmal und entgegnet sich selber: »Das Blitzen der Bajonette, eine Tatkraft ohne Großherzigkeit, einen brutalen Wirklichkeitssinn, Gewalt mit Gier nach Vorteil vereinigt: Mars als Geschäftsreisenden.« Mit Schmerz erkennt Christof, daß Deutschland an seinem Siege verdorben ist, mit wahrhaftem Schmerz – denn »man steht seinem eigenen Lande anspruchsvoller gegenüber als einem anderen und leidet tiefer unter seiner Schwäche« – und der ewige Revolutionär haßt das Lärmende dieses Selbstgefühls, den militärischen Hochmut, den brutalen Kastengeist. Und im Zusammenstoß mit dem militärischen Deutschland, im Konflikt mit dem Sergeanten auf dem Tanzplatz des elsässischen Dorfes, bricht elementar der Haß des Künstlers, des Freiheitsmenschen gegen die Disziplin, gegen die Brutalisierung des Gedankens heraus. Er muß fliehen aus Deutschland, weil er hier nicht genug Freiheit fühlt.
Aber gerade von Frankreich aus beginnt er wieder die Größe Deutschlands zu erkennen – »in einer fremden Umgebung war er freieren Geistes«, dieses Wort gilt von ihm und von jedem – gerade an der Unordnung der Franzosen, an ihrer skeptischen Resignation lernt er die deutsche Tatkraft schätzen und das Lebenskräftige seines Optimismus, den hier das alte Volk der Träumer dem Volk des Geistes entgegensetzt. Freilich, er täuscht sich nicht darüber, daß dieser neudeutsche Optimismus nicht immer echt ist, und der Idealismus entartet zu einem gewaltsamen Willen, zu idealisieren. Er sieht es an seiner Jugendgeliebten, der banalen Provinzfrau, die in ihrem Mann einen Übermenschen vergöttert und von ihm als Inbegriff der Tugend gefeiert wird, sieht es in dem reinsten Deutschen, dem er begegnet, dem alten Musikprofessor Peter Schulz, diesem zärtlichen Symbol der musikalischen Vergangenheit, sieht selbst in den großen Meistern, daß – Curtius zitiert ausgezeichnet das wundervolle Goethewort – »in den Deutschen das Ideelle gleich sentimental wird«. Und seine leidenschaftliche Wahrhaftigkeit, die unerbittlich geworden ist an der französischen Klarheit, wehrt sich gegen diesen unklaren Idealismus, der Kompromisse schließt zwischen dem Wahren und dem Gewollten, der die Macht rechtfertigt mit Kultur, den Sieg mit der Kraft, und er setzt ihm stolz den eigenen Optimismus entgegen, der das Leben »erkennt und dennoch liebt« und zur Tragödie sein brausendes Hurra ruft. In Frankreich fühlt er die Fehler Frankreichs, in Deutschland die Deutschlands, und er liebt beide Länder eben um ihres Gegensatzes willen. Jedes leidet an schlechter Verteilung seiner Werte: in Frankreich ist die Freiheit zu allgemein, zu sehr verbreitet und schafft das Chaos, indes die Einzelnen, die Elite, ihren Idealismus rein bewahren; in Deutschland wiederum ist der Idealismus zu breit in die Masse gedrungen, hat sich versüßlicht zu Sentimentalität, verwässert zu einem merkantilen Optimismus, während nur eine ganz kleine Elite in Einsamkeit sich ihre volle Freiheit erhalten hat. Beide leiden sie an der Überspannung des Gegensatzes, des Nationalismus, der, wie Nietzsche sagt, »in Frankreich den Charakter, in Deutschland den Geist und Geschmack verdorben hat«. Könnten die beiden Völker in Annäherung und Durchdringung einander finden, so würden sie beglückt Christofs eigenes Erlebnis erfahren, der, »je reicher er war an germanischen Träumen, um so mehr der lateinischen Klarheit bedurfte«. Olivier und Christof, der Bund der Freundschaft, träumen von einer Verewigung ihres Gefühls im heimatlichen Volke, und über eine finstere Stunde des Bruderzwistes der Nationen ruft der Franzose dem Deutschen das heute noch unerfüllte Wort entgegen: »Hier unsere Hände! Trotz aller Lügen und allem Haß wird man uns nicht trennen. Wir haben einander zur Größe unseres Geistes, unserer Rasse nötig. Wir sind die beiden Schwingen des Okzidents. Wenn die eine zerbricht, ist auch der Flug der anderen zerstört. Möge der Krieg kommen. Er wird unsere verschlungenen Hände nicht lösen, wird den Aufschwung unserer Bruderseelen nicht hemmen.«
Das Bildnis Italiens
Als ein Alternder, ein Müdgewordener, lernt Christof dann das dritte Land der zukünftigen europäischen Einheit kennen, Italien. Nie hat es ihn gelockt. Auch hier hält ihn, wie seinerzeit von Frankreich, jene verhängnisvolle, vorurteilhafte Formulierung zurück, mit der sich die Nationen so gerne gegenseitig herabsetzen, um ihr eigenes Wesen durch Herabminderung der andern als einzig richtiges zu empfinden. Aber nur eine Stunde in Italien, und schon sind seine Vorurteile hingeschwunden in einer dämonischen Trunkenheit: das Feuer jenes nie gekannten Lichtes der italienischen Landschaft fällt über ihn hin, durchdringt und formt seinen Körper und befähigt ihn gleichsam atmosphärisch zum Genießen. Einen neuen Rhythmus des Lebens spürt er mit einemmal, nicht soviel stürmische Kraft wie in Deutschland, nicht soviel nervöse Beweglichkeit wie in Frankreich, aber diese »Jahrhunderte alte Kultur und Zivilisation« betäubt mit ihrer Süße den Barbaren. Der bisher aus der Gegenwart immer nur in die Zukunft blickte, er spürt mit einemmal den ungeheuren Reiz der Vergangenheit. Während die Deutschen ihre Form noch suchen, die Franzosen die ihre in ununterbrochenem Wechsel wiederholen und erneuern, lockt ihn hier ein Volk, das seine Tradition schon klar und gebildet in sich trägt und das nur seiner Vergangenheit, seiner Landschaft treu sein muß, um die subtilste Blüte seines Wesens zu erfüllen: die Schönheit.
Freilich sein Lebenselement vermißt Christof hier: den Kampf. Über allem Leben hegt hier ein leiser Schlaf, eine süße Müdigkeit, die verweichlicht und gefährdet. »Rom atmet den Tod, es hat zu viele Gräber.« Das Feuer, das Mazzini und Garibaldi entfachten und in dessen Glut das einige Italien gehämmert wurde, lodert zwar noch in einzelnen Seelen, auch hier gibt es einen Idealismus, aber er ist anders wie der deutsche, anders wie der französische, er ist noch nicht auf das Weltbürgerliche bezogen,