Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
neben ihm war. Damals hatte sich nur eine Gewitterwolke am Himmel gezeigt, jetzt bedeckten ihre Schatten ganz Europa. Vergebens also der Ruf nach Einheit, vergebens der Weg durch das Dunkel. Mit tragischer Gebärde blickt der Seher in die Zeit zurück und sieht in der Ferne die apokalyptischen Reiter, die Boten des Bruderkrieges.
Aber neben dem Sterbenden lächelt wissend das Kind: das ewige Leben.
Intermezzo scherzoso (»Meister Breugnon«)
»Breugnon, mauvais garçon, tu ris, n’as tu pas honte? – Que veux tu, mon ami, je suis, ce que je suis. Rire ne m’empèche pas de souffrir; mais souffrir n’empèchera jamais un bon Français de rire. Et qu’il rie ou larmoie, il faut d’abord, qu’il voie«.
Rolland, Colas Breugnon
Die Überraschung
Zum erstenmal hat dieses bewegte Leben Rast. Der große zehnbändige Johann-Christof-Roman ist vollendet, das europäische Werk getan: zum erstenmal lebt Romain Rolland außerhalb seines Werkes, frei für neues Wort, neue Gestalten, neues Werk. Sein Schüler Johann Christof ist in die Welt gegangen – als »der lebendigste Mensch, den wir kannten«, wie Ellen Key sagte –, er sammelt Freunde um sich, eine stille und immer wachsende Gemeinde, aber was er verkündet, ist für Rolland schon Vergangenheit. Und er sucht einen neuen Boten für neue Botschaft.
Wieder ist Romain Rolland in der Schweiz, dem geliebten Land zwischen den drei geliebten Ländern, das so vielen seinen Werken günstig gewesen und wo das Werk seiner Werke, der Johann Christof, begonnen und an dessen Grenze es beendet war. Heiterer, stiller Sommer schenkt ihm gute Rast: sein Wille ist ein wenig entspannt; das Wesentliche ist ja getan, lässig spielt er mit verschiedenen Plänen, schon häufen sich die Notizen für einen neuen Roman, für ein Drama aus der geistigen und kulturellen Sphäre Johann Christofs.
Wie so oft bei Romain Rolland, zögert die Hand zwischen den Plänen. Da plötzlich, wie einst vor fünfundzwanzig Jahren auf der Terrasse des Janikulus die Vision des Johann Christof, überfällt ihn jetzt inmitten einiger schlaflosen Nächte eine fremde und doch vertraute Gestalt, ein Landsmann aus Vorväterzeit und stößt alle Pläne mit seiner breiten Gegenwart um. Kurz vorher war Rolland nach Jahren wieder in seiner Heimat, in Clamecy gewesen, seine eigene Kindheit war im Anblick der alten Stadt aufgewacht, unbewußt hat das Gefühl der Heimat in ihm zu wirken begonnen und fordert von ihrem Kinde, das die Ferne geschildert, nun selbst Gestaltung. Er, der mit aller Kraft und Leidenschaft sich aus dem Franzosen zum Europäer emporgerungen und dieses Bekenntnis abgelegt vor der Welt, fühlt nun wieder rechte Lust, für sich selbst auf eine schöpferische Stunde ganz Franzose, ganz Burgunder und Niverneser zu sein. Der Musiker, der in seiner Symphonie alle Stimmen vereinigt, die stärksten Spannungen des Gefühls, sehnt sich nach einem ganz neuen Rhythmus, nach einer Entspannung in die Heiterkeit. Ein Scherzo zu schreiben, ein leichtes freies Werk nach den verantwortungsvollen zehn Jahren, wo er »die Rüstung des Johann Christof um die Seele getragen«, die immer enger ihm gegen das Herz drückt, scheint ihm nun Wollust; ein Werk ganz jenseits von Politik, von Moral, von Zeitgeschichte, göttlich verantwortungslos, eine Flucht aus der Zeit.
Über Nacht fällt der neue Gedanke über ihn her; am nächsten Tage hat er schon in froher Flucht die alten Pläne verlassen, der Rhythmus perlt in tänzerischem Fluß. Und so schreibt zu seinem eigenen freudigen Erstaunen in den wenigen Monaten des Sommers 1913 Romain Rolland seinen heiteren Roman »Colas Breugnon« (»Meister Breugnon«), das französische Intermezzo der europäischen Symphonie.
Der Bruder aus Burgund
Ein ganz fremder Geselle aus seiner Heimat und dem eigenen Blut, so glaubt zuerst Rolland, habe ihn da überfallen; wie ein Meteor sei dies Buch aus dem heitern französischen Himmel plötzlich in seine geistige Welt gestürzt. Tatsächlich: die Melodie ist anders, anders die Rhythmik, die Tonart, die Zeit. Aber hört man genauer in diesen Menschen hinein, so bedeutet im letzten auch dies ergötzliche Buch keine Abweichung, sondern nur eine archaisierende Variation von Romain Rollands Leitmotiv des Lebensglaubens; Colas Breugnon der Biedermann aus Burgund, der tapfere Holzschneider, Trinker, Lustigmacher, Farceur, dieser schnurrige Bohnenkönig ist trotz Stulpenstiefel und Halskrause ein ferner Bruder Johann Christofs über Jahrhunderte hinweg, so wie Prinz Aërt und König Ludwig zarte Vorahnen und Brüder Oliviers gewesen waren.
Hier wie immer ist das gleiche Motiv unterstes Fundament des Romans: wie ein Mensch, wie ein schöpferischer Mensch (andere zählen bei Rolland nicht im höchsten Sinn) mit dem Leben und vor allem mit der Tragik des eigenen Lebens fertig wird. Auch das Buch von Colas Breugnon ist ein Künstlerroman wie der Johann Christof, nur ist hier ein neuer Typus des Künstlers gestaltet, der im Johann Christof nicht mehr möglich war, weil er schon unserer Zeit entschwunden ist. Colas Breugnon soll den undämonischen Künstler darstellen, der nur Künstler ist durch Treue, Fleiß und Leidenschaft, der aus dem Handwerk, aus dem täglichen bürgerlichen Beruf erwächst und den nur seine Menschlichkeit, sein Ernst und seine biedere Reinheit zur hohen Kunst erheben. In ihm hat Rolland an alle namenlosen Künstler gedacht, die in den Kathedralen Frankreichs anonym die Steinfiguren schufen und die Portale, die kostbaren Schlösser, die schmiedeeisernen Gewinde, an all die Unbekannten und Namenlosen, die nicht ihre Eitelkeit und ihren Namen mit in den Stein hämmerten, aber irgend etwas anderes in ihr Werk fügten, das heute selten geworden ist: die reine Freude am Schaffen. Schon einmal, im Johann Christof, hatte Romain Rolland zu einem kleinen Hymnus auf das bürgerliche Leben der alten Meister angesetzt, die ganz aufgingen in ihrer Kunst und einem stillen Bürgerberufe, und von fern auf die bescheidene Gestalt, das enge Leben Sebastian Bachs und der Seinen gedeutet. Schon dort hatte er auf die »humbles vies héroïques« hingewiesen, auf die unscheinbaren Helden des Alltags, die namenlos und ungekannt Sieger bleiben über das unendliche Schicksal. Und einen solchen will er hier erschaffen, damit in den vielen Bildern des Künstlers, Michelangelo, Beethoven, Tolstoi und Händel und all den ersonnenen Gestalten nicht auch jener fehle, der in Freude schafft; der nicht den Dämon in sich trägt, aber einen Genius der Rechtlichkeit und sinnlicher Harmonie, der nicht daran denkt, die Welt zu erlösen, sich tief in die Probleme der Leidenschaft und des Geistes einzuwühlen, sondern der einzig nur seinem Handwerk jenes Höchste an Reinheit entringt, das Vollendung ist und damit das Ewige. Dem modernen Nervenkünstler ist der sinnlich-natürliche Handwerkskünstler entgegengesetzt, Hephaistos, der göttliche Schmied, dem pythischen Apollo und Dionysos. Der Kreis solch eines Zweckkünstlers bleibt naturgemäß ein enger, aber wesenhaft ist immer nur: daß ein Mensch seine Sphäre ausfüllt.
Doch Colas Breugnon wäre kein Künstler Rollands, wenn nicht auch er mitten in den Kampf des Lebens gestellt wäre und nicht auch an ihm gezeigt würde, wie der wahrhaft freie Mensch immer stärker ist als sein Schicksal. Auch dieser kleine muntere Bürger hat sein gerüttelt Maß an menschlicher Tragik. Sein Haus verbrennt mit allen seinen Werken, die er in dreißig Jahren geschaffen, seine Frau stirbt, der Krieg verheert das Land, Neid und Bosheit verstümmeln seine letzten Kunstwerke, und schließlich wirft ihn noch Krankheit in irgendeinen Winkel. Nichts bleibt ihm als »die Seelen, die er geschaffen«, seine Kinder, sein Lehrjunge und ein Freund gegen seine Peiniger, das Alter, die Armut, die Gicht. Aber dieser burgundische Bauernsohn hat eine Kraft gegen das Schicksal, die nicht geringer ist als der elementare deutsche Optimismus Johann Christofs und der unerschütterliche geistige Glaube Oliviers: er hat seine freie Heiterkeit. »Leiden hindert mich niemals zu lachen und Lachen hindert mich nie, gleichzeitig zu weinen«, sagt er einmal; ein Epikuräer, ein Schlemmer, ein Trinker, ein Faulenzer im Genuß, wird dieser heimliche Held ein Stoiker, ein Bedürfnisloser im Unglück. »Je weniger ich habe, desto mehr bin ich«, scherzt er hinter seinem verbrannten