Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
aller war Romain Rolland gewesen: prophetisch schildern die letzten Kapitel des Johann Christof schon den zukünftigen Massenwahn. Nicht einen Augenblick hatte er sich der eitel-idealischen Hoffnung hingegeben, die Tatsache (oder der Schein) unserer Kultur, unserer Humanität, unserer durch zweitausend Jahre Christentum erhobenen Menschlichkeit würde einen zukünftigen Krieg humaner machen. Der Historiker wußte zu gut, daß schon in der ersten Hitze der Kriegsleidenschaft der ganze dünne Firnis von Kultur und Christentum bei allen Nationen abspringen und die nackte Bestialität des Menschen erscheinen würde, den vergossenes Blut immer wieder zum Tiere macht. Er verhehlte sich nicht, daß dieser geheimnisvolle Blutdunst auch die zartesten, die gütigsten, die wissendsten Seelen betäuben und verwirren kann: all dies, der Verrat der Freundschaft zwischen Freunden, die plötzliche Solidarität zwischen den entgegengesetzten Charakteren vor dem Idol des Vaterlandes, das Hinschwinden der Gewissensüberzeugung vor dem ersten Anhauch der Tat, stand schon im Johann Christof mit Feuerlettern als ein Menetekel hingeschrieben.
Aber doch: auch dieser Wissendste aller hat die Wirklichkeit unterschätzt. Mit Grauen sieht Rolland schon nach den ersten Tagen, um ein wie Unendliches dieser Krieg mit seinen Kampfmitteln, seiner materiellen und geistigen Bestialität, seinen Dimensionen und seinen Leidenschaften alles Gewesene und jede Ahnung übertrifft. Und vor allem, daß noch nie so sinnlos der Haß der europäischen Völker (die doch seit tausend Jahren miteinander unablässig zusammen oder gegeneinander Krieg führen) aufeinander in Wort und Tat getobt hat wie in diesem zwanzigsten Jahrhundert nach Christi Geburt. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatte die Gehässigkeit so breite Schichten ergriffen, nie hatte sie bestialischer unter den Intellektuellen gewütet, nie war aus so vielen Brunnen und Röhren des Geistes, aus den Kanälen der Zeitungen, den Retorten der Gelehrten so viel Öl ins Feuer gegossen worden. Alle schlechten Instinkte haben sich gleichsam gesteigert an den Millionenmassen: auch die freien Empfindungen, die Ideen militarisieren sich, die gräßliche maschinelle Organisation der weithintreffenden Mordwaffen findet widerliches Widerspiel in den Organisationen der nationalen Telegraphenbureaus, die Lügen über alle Länder und Meere in Funken hinspritzen. Zum erstenmal wird die Wissenschaft, die Dichtung, die Kunst, die Philosophie dem Krieg ebenso hörig gemacht wie die Technik; auf den Kanzeln und Kathedern, in den Forschungssälen und Laboratorien, in den Redaktionen und Dichterstuben wird nach einem einzigen unsichtbaren System nur Haß erzeugt und verbreitet. Die apokalyptische Ahnung des Sehers ist übertroffen.
Eine Sintflut von Haß und Blut, wie sie selbst diese alte, mit Blut bis in die untersten Tiefen getränkte Erde Europas nie gekannt hat, überschwemmt ein Land nach dem andern. Und Romain Rolland gedenkt des tausendjährigen Mythus: er weiß, man kann eine verlorene Welt, eine verworfene Generation nicht von ihrem eigenen Wahn erretten. Man kann nicht mit einem Hauch menschlichen Mundes, mit nackten irdischen Händen einen Weltbrand auslöschen. Man kann nur zu hindern suchen, daß andre Öl in diese Flammen schütten, diese Frevler zurückpeitschen mit Hohn und Verachtung. Und man kann eine Arche bauen, um aus der Sintflut das geistig Kostbarste der selbstmörderischen Generation einer späteren zu übermitteln, sobald die Wogen des Hasses wieder gesunken sind. Man kann ein Zeichen aufrichten über die Zeit, an dem sich die Gläubigen erkennen, einen Tempel der Eintracht inmitten der blutigen Felder der Völker und doch hoch über ihnen.
Innerhalb der entsetzlichen Organisationen der Generalstäbe, der Technik, der Lüge, des Hasses träumt Rolland von einer andern Organisation: von einer Gemeinschaft der freien Geister Europas. Die führenden Dichter, Gelehrten, sie sollen die Arche sein, die Bewahrer der Gerechtigkeit in diesen Tagen des Unrechts und der Lüge. Während die Massen, betrogen von den Worten, in blindem Hasse gegeneinander wüten, sie, die einander nicht kennen, könnten die Künstler, die Dichter, die Gelehrten Deutschlands, Frankreichs, Englands, sie, die doch seit Jahrzehnten an gemeinsamen Entdeckungen, Fortschritten, Ideen schaffen, sich zusammentun zu einem Tribunal des Geistes, das mit wissenschaftlichem Ernste alle Lügen zwischen ihren Völkern ausroden und über ihre Nationen miteinander hohe Zwiesprache führen würde. Denn daß sich die großen Künstler, die Forscher, mit den Verbrechen des Krieges nicht identifizieren würden, nicht ihre Gewissensfreiheit verschanzen hinter einem bequemen »right or wrong – my country«, war Rollands tiefste Hoffnung. Seit hunderten von Jahren schon hatten – mit wenigen Ausnahmen – die geistigen Menschen das Widrige des Krieges erkannt. Aus dem mit mongolischer Herrschgier ringenden China ruft vor fast tausend Jahren schon Li Tai Pe sein stolzes
»Verflucht der Krieg! Verflucht das Werk der Waffen! Es hat der Weise nichts mit ihrem Wahn zu schaffen.«
Und dieses »Es hat der Weise nichts mit ihrem Wahn zu schaffen« schwingt als unsichtbarer Kehrreim durch alle Äußerungen der geistigen Menschen des europäischen Zeitalters. In lateinisch geschriebenen Briefen – der Sprache, die ihre übernationale Gemeinschaft symbolisch bekundet – tauschen die großen humanistischen Gelehrten mitten im Kriege ihrer Länder Kümmernis und philosophische Tröstung über den Mordwahn der Menschen aus; für die Deutschen des 18. Jahrhunderts spricht Herder am deutlichsten, als er sagt: »Vaterländer gegen Vaterländer im Blutkampf ist der ärgste Barbarismus«; Goethe, Byron, Voltaire, Rousseau begegnen einander in einer Verachtung der sinnlosen Schlächtereien. So müßten auch heute, meint Rolland, die führenden Intellektuellen, die großen unbeirrbaren Forscher, die menschlichsten unter den Dichtern, alle in einem gemeinsamen Jenseits vom einzelnen Irrtum ihrer Nationen stehen. Auf allzu viele, die sich so ganz von der Leidenschaft der Zeit loszulösen vermöchten, wagt er freilich nicht zu hoffen, aber geistige Dinge erhalten ihr Gewicht nicht von der Zahl: ihr Gesetz ist nicht das der Armeen. Auch hier gilt Goethes Wort: »Alles Große und Gescheite existiert nur in der Minorität. Es ist nie daran zu denken, daß die Vernunft populär werde. Leidenschaften und Gefühle mögen populär werden, aber die Vernunft wird immer nur ein Besitz einiger Vorzüglicher sein.« Diese Minorität kann aber durch Autorität zur spirituellen Macht werden. Und vor allem, sie kann ein Bollwerk gegen die Lüge sein. Kämen – etwa in der Schweiz – führende freie Menschen aller Nationen zusammen, und kämpften sie gemeinsam gegen jede Ungerechtigkeit, auch die ihres eigenen Vaterlandes, so wäre endlich der in allen Ländern gleich geknechteten und geknebelten Wahrheit ein Asyl, eine Freiheit geschaffen, Europa hätte einen Fußbreit Heimat, die Menschheit einen Funken Hoffnung. In Rede und Gegenrede könnten hier die Besten einer den andern aufklären, und diese wechselseitige Erhellung vorurteilsfreier Männer wäre Licht über der Welt.
In diesem Sinn greift Rolland zum erstenmal zur Feder. Er schreibt an den Dichter, den er in Deutschland um seiner Güte und Menschlichkeit willen am meisten verehrt, ein offenes Wort. Und zur gleichen Stunde an Deutschlands gehässigsten Feind, an Emile Verhaeren. Beide Arme streckt er aus, zur Rechten und zur Linken, um das Entfernteste zu vereinen und wenigstens in dieser reinsten Sphäre des Geistes einen ersten Versuch geistiger Auseinandersetzung zu schaffen, indessen auf den Schlachtfeldern heiße Maschinengewehre die Jugend Frankreichs, Deutschlands, Belgiens, Englands, Österreichs und Rußlands in gleichem, knatterndem Takte hinmähen.
Die Zwiesprache mit Gerhart Hauptmann
Romain Rolland war Gerhart Hauptmann nie persönlich begegnet. Er kannte seine Werke und liebte darin die leidenschaftliche Teilnahme an allem Menschlichen, die tiefe Güte, die jede einzelne Gestalt wissend durchdringt. Einmal in Berlin hatte er versucht ihn in seiner Wohnung aufzusuchen: Gerhart Hauptmann war damals abwesend. Auch im geschriebenen Wort waren sie einander fremd.
Doch wählt Rolland gerade Hauptmann zur Aussprache als den repräsentativen Dichter Deutschlands, als den Schöpfer der »Weber« und weil Hauptmann sich in einem Aufsatz mit seiner Verantwortung vor das kämpfende Deutschland gestellt hatte. Er schreibt ihm am 29. August 1914, dem Tage, da das stupide Telegramm des Wolff-Bureaus, eine tragische Wirklichkeit in lächerlicher Abschreckungsabsicht übertreibend, meldete: »Die an Kunstschätzen reiche Stadt Löwen ist vom Erdboden vernichtet.« Der Anlaß zu einem Ausbruch der Entrüstung war gewiß gegeben, aber Rolland sucht sich zu bezwingen; »Ich gehöre nicht, Gerhart Hauptmann«, hebt er an, »zu jenen Franzosen, die Deutschland als das Land der Barbaren betrachten. Ich kenne die geistige und moralische