Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
Lebens: »Ich fürchte so sehr den Krieg, ich fürchte ihn schon lange. Er ist ein Alpdruck für mich gewesen und hat meine Kindheit vergiftet«, das ist plötzlich aus dem prophetischen Angsttraum eines Einzigen Wahrheit für hundert entsetzte Millionen Menschen geworden. Daß er um die Unvermeidlichkeit dieser Stunde prophetisch gewußt hat, mindert nicht seine Qual. Im Gegenteil, indes die anderen sich eilig betäuben mit dem Opium der Pflichtmoral und den Haschischträumen des Sieges, blickt er mit grausamer Nüchternheit in die Tiefe der Zukunft. Sinnlos scheint ihm seine Vergangenheit, sinnlos das ganze Leben. Er schreibt am 3. August 1914 in sein Tagebuch: »Ich kann nicht weiter. Ich möchte tot sein. Denn es ist entsetzlich, inmitten einer wahnwitzigen Menschheit zu leben und ohnmächtig dem Zusammenbruch der Zivilisation zuzusehen. Dieser europäische Krieg ist die größte Katastrophe seit Jahrhunderten, der Einsturz unserer teuersten Hoffnungen auf eine menschliche Brüderschaft.« Und einige Tage später, in nur noch gesteigerter Verzweiflung: »Meine Qual ist eine so aufgehäufte und gepreßte Summe von Qualen, daß ich nicht mehr zu atmen vermag. Die Zerschmetterung Frankreichs, das Schicksal meiner Freunde, ihr Tod, ihre Wunden. Das Grauen vor all diesen Leiden, die herzzerreißende Anteilnahme an den Millionen Unglücklichen. Ich fühle einen moralischen Todeskampf beim Schauspiel dieser tollen Menschheit, die ihre teuersten Schätze, ihre Kräfte, ihr Genie, die Glut heroischer Aufopferung dem mörderischen und stupiden Götzen des Krieges opfert. Oh, diese Leere von jedem göttlichen Wort, jedem göttlichen Geist, jeder moralischen Führung, die jenseits des Gemetzels die Gottesstadt aufrichten könnte. Die Sinnlosigkeit meines ganzen Lebens vollendet sich jetzt. Ich möchte einschlafen, um nicht wieder aufzuwachen.«
Manchmal in dieser Qual will er hinüber nach Frankreich, aber er weiß, daß er dort nutzlos wäre; für militärischen Dienst hat schon der schmale zarte Jüngling nie gezählt, der Fünfzigjährige noch viel weniger. Und einen Schein auch nur der Kriegshilfe zu erwecken, widerstrebt seinem Gewissen, das, erzogen in den Ideen Tolstois, sich gefestigt hat zu eigenen klaren Überzeugungen. Er weiß, daß auch er Frankreich zu verteidigen hat, aber in einem andern Sinn der Ehre als die Kanoniere und die haßschreienden Intellektuellen. »Ein großes Volk«, sagt er später in der Einleitung seines Kriegsbuches, »hat nicht nur seine Grenzen zu verteidigen, sondern auch seine Vernunft, die es bewahren muß vor all den Halluzinationen, Ungerechtigkeiten und Torheiten, die der Krieg mit sich bringt. Jedem sein Posten: den Soldaten die Erde zu verteidigen, den Männern des Gedankens den Gedanken… Der Geist ist nicht der geringste Teil eines Volksbesitzes.« Noch ist er sich in diesen ersten Tagen der Qual und des Entsetzens nicht klar, ob und bei welchem Anlaß ihm das Wort notwendig sein wird: aber er weiß schon, daß er es nur in einem Sinne gebrauchen wird, im Sinne der geistigen Freiheit und übernationalen Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit aber braucht selber Freiheit des Blickes. Nur hier, in neutralem Land konnte der Historiker der Zeit alle Stimmen hören, alle Meinungen empfangen – nur hier war Ausblick über den Pulverdampf, den Qualm der Lüge, die Giftgase des Hasses: hier war Freiheit des Urteils und Freiheit der Aussprache. Vor einem Jahre hatte er in Johann Christof die gefährliche Macht der Massensuggestion gezeigt, unter der in jedem Vaterland »die gefestigten Intelligenzen ihre sichersten Überzeugungen hinschmelzen fühlten« –, keiner wie er kannte so gut »die seelische Epidemie, den erhabenen Wahnsinn des Kollektivgedankens«. Eben deshalb wollte er frei bleiben, sich nicht berauschen lassen von der heiligen Trunkenheit der Massen und sich von niemand führen lassen als von dem eigenen Gewissen. Er brauchte nur seine Bücher aufzuschlagen, um darin die warnenden Worte seines Olivier zu lesen: »Ich liebe mein teures Frankreich; aber kann ich um seinetwillen meine Seele töten, mein Gewissen verraten? Das hieße mein Vaterland selbst verraten. Wie könnte ich ohne Haß hassen? Oder ohne Lüge die Komödie des Hasses spielen?« Und jenes andre unvergeßliche Bekenntnis: »Ich will nicht hassen. Ich will selbst meinen Feinden Gerechtigkeit widerfahren lassen. Inmitten aller Leidenschaften will ich mir die Klarheit des Blickes bewahren, um alles verstehen und alles heben zu können.« Nur in der Freiheit, nur in der Unabhängigkeit des Geistes dient der Künstler seinem Volke, nur so seiner Zeit, nur so der Menschheit: nur Treue gegen die Wahrheit ist Treue gegen das Vaterland.
Was der Zufall gewollt, bestätigt nun der bewußte Wille: Romain Rolland bleibt in der Schweiz, im Herzpunkt Europas fünf Jahre des Krieges, um seine Aufgabe zu erfüllen, »de dire ce qui est juste et humain«, zu sagen »was gerecht und menschlich ist«. Hier, wo der Wind aus allen Ländern hinweht, die Stimme selbst wieder frei die Grenzen überfliegt, keine Fessel das Wort bindet, dient er seiner unsichtbaren Pflicht. Ganz nahe schäumt in unendlichen Blutwellen und schmutzigen Wogen von Haß der Wahnsinn des Krieges an die kleinen Kantone heran; doch auch im Sturme deutet unerschütterlich die Magnetnadel eines menschlichen Gewissens zum ewigen Pol alles Lebens zurück: zur Liebe.
Menschheitsdienst
Dem Vaterlande dienen, indem man der ganzen Menschheit mit seinem Gewissen dient, den Kampf aufnehmen, indem man das Leiden und seine tausendfältige Qual bekämpft, das fühlt Rolland als Pflicht des Künstlers. Auch er verwirft das Abseitsstehen. »Ein Künstler hat nicht das Recht, sich abseits zu halten, solange er den andern noch helfen kann.« Aber diese Hilfe, dieser Anteil darf nicht darin bestehen, die Millionen noch zu bestärken in ihrem mörderischen Hasse, sondern sie zu verbinden, wo sie unsichtbar verbunden sind, in ihrem unendlichen Leiden. Und so tritt auch er in die Reihen der Mitwirkenden, aber nicht die Waffe in der Hand, sondern dem Beispiel des großen Walt Whitman getreu, der im Kriege als Pfleger dem Dienst der Unglücklichen sich hingegeben.
Kaum daß die ersten Schlachten geschlagen sind, gellen schon die Schreie der Angst aus allen Ländern in die Schweiz hinüber. Die Tausende, denen Botschaft von ihren Gatten, Vätern und Söhnen auf den Schlachtfeldern fehlt, breiten verzweifelt die Arme ins Leere: Hunderte, Tausende, Zehntausende von Briefen und Telegrammen prasseln nieder in das kleine Haus des Roten Kreuzes in Genf, die einzige internationale Bindungsstätte der Nationen. Wie Sturmvögel kamen die ersten Anfragen nach Vermißten, dann wurde es selbst ein Sturm, ein Meer: in dicken Säcken schleppten die Boten die Tausende und Abertausende geschriebener Angstrufe herein. Und nichts war solchem Dammbruch des irdischen Elends bereitet: das Rote Kreuz hatte keine Räume, keine Organisation, kein System und vor allem keine Helfer.
Einer der ersten, die damals sich gemeldet haben, Hilfe zu bieten, war Romain Rolland. In dem kleinen hölzernen Verschlag, mitten in dem rasch ausgeräumten Musée Rath, zwischen hundert Mädchen, Studenten, Frauen, ist er, achtlos für seine Zeit und seine eigene Arbeit, durch mehr als anderthalb Jahre täglich sechs bis acht Stunden gesessen an der Seite des Leiters, des wundervollen Dr. Ferrière – dessen hilfreiche Güte namenlosen Tausenden und Abertausenden die Qual des Wartens verkürzt hat – hat Briefe registriert, Briefe geschrieben, eine scheinbar geringfügige Kleinarbeit getan. Aber wie wichtig war jedes Wort jedem einzelnen, der im ungeheuren Weltall des Unglücks doch nur sein Staubkorn Elend fühlte. Ungezählte bewahren heute, ohne es zu wissen, Mitteilungen über ihre Brüder, Väter und Gatten von der Hand des großen Dichters. Ein kleiner ungehobelter Schreibtisch mit einem nackten Holzsessel mitten im Gedränge einer schmucklosen, mit Brettern auf gezimmerten Kajüte, neben hämmernden Schreibmaschinen, drängenden, rufenden, eiligen, fragenden Menschen –, das war Romain Rollands Kampfplatz gegen das Elend des Krieges. Hier hat er versucht, was die andern Dichter und Intellektuellen durch Haß gegeneinanderhetzten, durch gütige Sorge zu versöhnen, wenigstens einen Bruchteil der millionenfachen Qual zu lindern durch gelegentliche Beruhigung und menschliche Tröstung. Er hat eine führende Stellung im Roten Kreuz weder begehrt noch innegehabt, sondern ganz wie die andern Namenlosen dort die tägliche Arbeit der Nachrichten Vermittlung besorgt: unsichtbar war diese seine Tat und darum doppelt unvergeßbar.
Und als ihm dann der Nobelfriedenspreis zufiel, behielt er davon keinen Franken, sondern gab ihn ganz hin zur Linderung des europäischen Elends, damit das Wort die Tat und die Tat das Wort bezeuge.
Ecce homo! ecce poeta!
Das Tribunal des Geistes