Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
»braunen« Weisheit – zu dem starren Standpunkt einer einmaligen Überzeugung. Er »braucht und verbraucht« Überzeugungen, wirft wieder weg, was er gewinnt, und wäre darum besser ein Philaleth genannt, ein leidenschaftlich Passionierter der Aletheia, der Wahrheit, jener jungfräulichen grausamen Versuchergöttin, die immer wie Artemis ihre Liebhaber in ewige Jagd treibt, um ihnen doch hinter allen ihren zerrissenen Schleiern immer unerreichbar zu bleiben. Wahrheit, wie Nietzsche sie versteht, ist eben keine starre, keine kristallene Form der Wahrheit, sondern der feurig glühende Wille zum Wahrsein und Wahrbleiben, eine Lebenserfüllung im Sinne der höchsten Fülle: Nietzsche will nie und niemals glücklich, immer aber wahrhaftig sein. Er sucht nicht (wie neun Zehntel aller Philosophen) die Rast, sondern als Knecht und Höriger des Dämons den Superlativ aller Erregung und Bewegung. Jeder Kampf aber um das Unerreichbare steigert sich zum Heldischen und alles Heroische wiederum notwendig empor in seine heiligste Konsequenz, in den Untergang.
Denn ganz unausweichlich muß eine solche fanatische Überspannung des Redlichkeitsverlangens, eine so unerbittliche und gefährliche Forderung wie jene Nietzsches, mit der Welt in einen mörderischen, selbstmörderischen Konflikt geraten. Alles Leben ist im letzten auf Konzilianz, auf Nachgiebigkeit angelegt (was Goethe, der in seinem Wesen das Wesen der Natur so weise wiederholte, frühzeitig erkannte und nachbildete). Es bedarf, um sich im Gleichgewicht zu erhalten, ebenso wie die Menschen der Mittelzustände, der Nachgiebigkeiten, der Kompromisse und Paktierungen. Und wer die durchaus unnaturhafte, die absolut anthropomorphe Forderung stellt, in dieser Welt nicht mitoberflächlich, nicht mitkonziliant, nicht mitnachgiebig zu sein, wer sich gewaltsam loslösen will aus dem durch Jahrtausende gewobenen Netz von Bindungen und konventionellen Vereinbarungen, tritt ungewollt in tödliche Gegnerschaft zur Gesellschaft und zur Natur. Je unerbittlicher ein einzelner die Forderung stellt, es »ganz rein haben zu wollen«, um so feindseliger stellt sich die Zeit gegen ihn ein. Ob er nun wie Hölderlin darauf besteht, das vorwiegend prosaische Leben einzig dichterisch zu führen, oder wie Nietzsche, die unendliche Verwirrung der irdischen Zusammenhänge »klar zu denken« – in jedem Fall bedeutet solches unweise, aber heroische Verlangen eine Empörung gegen Sitte und Regel und treibt den Verwegenen in unüberbrückbare Isoliertheit, in einen herrlichen, aber aussichtslosen Krieg. Was Nietzsche die »tragische Gesinnung« nennt, die Entschlossenheit zum Äußersten in irgendeinem Gefühl, greift über vom Geist in das Schicksal und erzeugt die Tragödie. Jeder, der vom Leben ein einzelnes Gesetz erzwingen will, der in diesem Chaos der Leidenschaften eine einzige, seine Leidenschaft durchsetzen will, wird einsam und als Einsamer vernichtet – ein törichter Schwärmer, wenn er unbewußt handelt, ein Held, wenn er die Gefahr kennt und sie dennoch herausfordert. Nietzsche, so leidenschaftlich er in seiner Redlichkeit ist, gehört zu den Wissenden. Er kennt die Gefahr, in die er sich begibt, er weiß vom ersten Augenblick, von der ersten geschriebenen Schrift an, daß sein Denken um ein gefährliches, ein tragisches Zentrum kreist, daß er ein gefährliches Leben lebt, aber – als der wahrhaft tragische Held des Geistes – liebt er das Leben nur um dieser Gefahr willen, die ihm das seine vernichtet. »Baut eure Häuser an den Vesuv«, ruft er den Philosophen zu, um sie zu höherer Schicksalsbewußtheit zu spornen, denn »der Grad der Gefährlichkeit, mit der ein Mensch mit sich selber lebt«, ist für ihn das einzige gültige Maß aller Größe. Nur wer das Ganze im erhabenen Spiel um das Ganze einsetzt, kann die Unendlichkeit gewinnen, nur wer sein eigenes Leben riskiert, seiner engen Erdenform den Wert einer Unendlichkeit geben. »Fiat veritas, pereat vita«, möge es uns das Leben kosten, wenn nur die Wahrhaftigkeit verwirklicht wird: die Leidenschaft ist mehr als das Dasein, der Sinn des Lebens mehr als das Leben selbst. Mit ungeheurer Macht reißt der Ekstatiker allmählich diesen Gedanken ins Große und weit über sein eigenes Schicksal hinaus: »Wir alle wollen lieber den Untergang der Menschheit als den Untergang der Erkenntnis.« Je gefahrvoller sein Schicksal wird, je näher schon in dem immer höheren Himmel des Geistes er den Blitz über sich hängen fühlt, um so herausfordernder, um so schicksalslustiger wird sein Verlangen nach diesem letzten Konflikt. »Ich kenne mein Los«, sagt er knapp vor dem Untergang, »es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenskollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, und geheiligt war« – aber Nietzsche liebt diesen letzten Abgrund alles Wissens, und sein ganzes Wesen drängt dieser tödlichen Entscheidung entgegen. »Wieviel Wahrheit kann der Mensch ertragen?« das war die Frage des tapferen Denkers ein ganzes Leben hindurch – aber um dieses Maß der Erkenntnisfähigkeit ganz zu ergründen, muß er die Zone der Sicherheit überschreiten und die Stufe erreichen, wo der Mensch sie nicht mehr erträgt, wo die letzte Erkenntnis tödlich wird, wo das Licht zu nahe kommt und das Schauen blendet. Und gerade diese letzten Schritte empor sind die unvergeßlichsten und mächtigsten in der Tragödie seines Schicksals: nie war sein Geist heller, seine Seele leidenschaftlicher, sein Wort mehr Jubel und Musik, als da er sich wissend und wollend von der Höhe seines Lebens in die Tiefe der Vernichtung stürzt.
Wandlungen zu sich selbst
Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zugrunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln: sie hören auf, Geist zu sein.
Die Menschen der Ordnung, so farbblind sie sonst dem Einzigartigen gegenüberstehen mögen, haben doch einen untrüglichen Instinkt für das ihnen Feindselige; lange bevor Nietzsche sich als der Amoralist, der Brandstifter ihrer umfriedeten Moralhürden enthüllte, haben sie ihn befeindet: ihre Witterung wußte mehr von ihm als er selbst. Er war ihnen unbequem als ewiger Außenseiter aller Kategorien, als Mischling von Philosoph, Philolog, Revolutionär, Künstler, Literat und Musikant – von der ersten Stunde ist er den Fachmenschen als Überschreiter der Grenzen verhaßt. Kaum veröffentlicht der Philologe sein Frühwerk, so prangert der Philologe Wilamowitz (er ist es geblieben ein halbes Jahrhundert, indes sein Gegner hinauswuchs in Unsterblichkeit) den Grenzüberschreiter bei den Kollegen an. Ebenso mißtrauen – und wie mit Recht! – die Wagnerianer dem leidenschaftlichen Panegyriker, die Philosophen dem Erkenner: noch im Puppenzustand des Philologen, noch als Unbeflügelter hat Nietzsche bereits die Fachlichen gegen sich. Nur das Genie, der Wissende um den Wandel, nur Richard Wagner liebt im Werdenden den zukünftigen Feind. Die andern aber, sie spüren und wittern an seinem weit ausholenden kühnen Gang sofort sein Unverläßlichsein, das Nicht-treu-Bleiben an der Überzeugung, jene maßlose Freiheit, die der Freieste gegen alles, also auch gegen sich selber fühlt. Und selbst heute, da seine Autorität sie duckt und einschüchtert, möchten die Fachmenschen gerne den »Prinzen Vogelfrei« wieder in ein System eingittern, in eine Lehre, eine Religion, in eine Botschaft. Sie möchten ihn starr haben wie sich selbst, an Überzeugungen gebunden, in eine Weltanschauung vermauert – gerade das, was er am meisten fürchtete. Ein Definitives, ein Unwidersprochenes möchten sie dem Wehrlosen aufzwingen und den Nomadischen (nun, da er die Welt des Geistes, die unendliche, erobert) festbannen in ein Haus, das er niemals hatte und niemals ersehnte.
Aber Nietzsche ist nicht zu bannen in eine Lehre, nicht festzunageln an eine Überzeugung – nie ist auch auf diesen Blättern das Schulmeisterkunststück versucht, aus einer erschütternden Tragödie des Geistes eine kalte »Erkenntnistheorie« zu exzerpieren – denn nie hat sich der leidenschaftliche Relativist aller Werte an irgendein Wort seiner Lippe, an eine Überzeugung seines Gewissens, an eine Leidenschaft seiner Seele dauernd gebunden oder gar verpflichtet erachtet. »Ein Philosoph braucht und verbraucht Überzeugungen«, antwortet er überlegen den Seßhaften, die stolz sich ihres Charakters und ihrer Überzeugungen rühmen. Jede seiner Meinungen hat er nur als Durchgang, ja sogar sein eigenes Ich, seine Haut, seinen Leib, sein geistiges Gebilde hat er immer nur als Vielzahl, als »Gesellschaftsbau vieler Seelen« empfunden: wörtlich sagt er einmal das allerkühnste Wort: »Es ist nachteilig für den Denker, an eine einzige Person gebunden zu sein. Wenn man sich selbst gefunden hat, muß man versuchen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren – und dann wieder zu finden.« Sein Wesen ist fortwährende Verwandlung, Selbsterkennen durch Selbstverlust, also ewiges Werden, und niemals ein starres, ruhendes Sein: »Werde, der du bist« darum der einzige Lebensimperativ, der sich in seinen ganzen Schriften