Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
Kruste Eis zerbricht und schon weich, mit einer schmeichlerischen, spielerischen Wollust, der Frühling über die Landschaft rinnt. Licht bis hinab in die letzte Tiefe, Klarheit bis in das kleinste, sprühende Wort, Musik in jeder Pause – und über dem Ganzen jener halkyonische Ton, jener Himmel voller Helligkeit. Welche Verwandlung des Rhythmus von der früheren, der zwar schön geschwungenen, kraftvoll gewölbten, aber doch steinernen, und dieser neuen, klingend aufgesprungenen Sprache, dieser biegsam übermütigen, ganz freudigen Sprache, die gern alle Glieder nützt und reckt, die – wie die Italiener – gestikuliert mit tausend mimischen Zeichen, nicht bloß wie der Deutsche mit unbewegtem, unbeteiligtem Leib spricht. Es ist nicht das würdige, sonore, schwarzbefrackte Humanistendeutsch mehr, dem der neue Nietzsche seine frei geborenen, auf Spaziergängen wie Schmetterlinge zugeflogenen Gedanken anvertraut – seine Freiluftgedanken wollen eine Freiluftsprache, eine sprungleichte, geschmeidige Sprache mit einem turnerisch nackten, gewandten Leib und lockeren Gelenken, eine Sprache, die laufen, springen, sich hochheben, sich ducken, sich spannen und alle Tänze tanzen kann vom Reigen der Schwermut bis zur Tarantella der Tollheit – die alles tragen und alles sagen kann, ohne Lastträgerschultern zu haben und einen Schwermännerschritt. Alles Haustierhaft-Geduldige, alles Gemächlich-Würdige ist vom Stil gleichsam weggeschmolzen, er wirbelt sich von Spaßen zu höchsten Heiterkeiten sprunghaft empor und hat doch wieder in anderen Augenblicken ein Pathos wie der dröhnende Ton einer uralten Glocke. Er schwillt von Gärung und Kraft, er ist champagnisiert mit vielen kleinen, blinkenden aphoristischen Perlen und kann doch überschäumen mit plötzlichem rhythmischem Schwall. Er hat ein goldenes Licht von Feierlichkeit wie alter Falerner und eine magische Durchsichtigkeit bis zum untersten Grund, eine Durchsonntheit ohnegleichen im heiteren, blitzblanken Fluß. Vielleicht hat sich niemals die Sprache eines deutschen Dichters so rasch, so plötzlich, so vollkommen verjüngt, und gewiß ist keine andere dermaßen von Sonne durchglüht, so weinhaft, so südhaftig, so göttlich tanzleicht, so heidnisch frei geworden. Nur im Bruderelement van Goghs erleben wir noch einmal dies Wunder eines solchen plötzlichen Sonneneinbruchs in einen Nordmenschen: nur der Übergang von dem braunen, schwermassigen, trüben Kolorit seiner holländischen Jahre zu den brennweißen, schrillen, grellen, klirrenden Farben in der Provence, nur dieser Einbruch äußerster Lichtbesessenheit in einen halb schon geblendeten Sinn ist mit der Durchleuchtung zu vergleichen, die Nietzsche in seinem Wesen vom Süden geschieht. Nur bei diesen beiden Fanatikern der Verwandlung ist dieses Sich-Berauschen, dies Einsaugen des Lichts mit vampirischen Kräften der Inbrunst so rasch und unerhört. Nur die Dämonischen erleben das Wunder des glühenden Aufgeschlossenseins bis in die letzte Ader ihrer Farbe, ihres Klanges, ihrer Worte hinab.
Aber Nietzsche wäre nicht aus dem Geblüt der Dämonischen, könnte er an irgendeinem Rausche sich schon satt trinken: so sucht er zum Süden, zu Italien, noch immer einen Komparativ, ein »Überlicht« für das Licht, eine »Überklarheit« für die Klarheit. Wie Hölderlin sein Hellas nach »Asia«, also ins Orientalische, ins Barbarische allmählich hinüberdrängt, so funkelt am Ende Nietzsches Leidenschaft einer neuen Ekstase des Tropischen, des »Afrikanischen« entgegen. Er will Sonnenbrand statt Sonnenlicht, Klarheit, die grausam schneidet, statt bloß deutlich zu umrunden, ein Spasma der Lust statt der Heiterkeit: unendlich bricht aus ihm die Gier, diese feinen Aufstachelungen seiner Sinne ganz in Rausch zu verwandeln, den Tanz in Flug, sein heißes Daseinsgefühl bis zum Zustand des Weißglühens zu steigern. Und wie dies erhöhte Begehren in seinen Adern aufschwillt, genügt seinem unbändigen Geist nicht mehr die Sprache. Auch sie wird ihm zu eng, zu stoffhaft, zu schwer. Er braucht neues Element für den Dionysos-Tanz, der trunken in ihm begonnen, eine höhere Ungebundenheit als das gebundene Wort – so greift er zurück in sein urtümliches Element, in die Musik. Musik des Südens, das ist seine letzte Sehnsucht, eine Musik, wo die Klarheit melodisch wird und der Geist ganz flügelhaft. Und er sucht sie und sucht sie, diese diaphane südliche Musik, in allen Zeiten und Zonen, ohne sie zu finden – bis er sie sich selber erfindet.
Flucht zur Musik
Heiterkeit, güldene, komm!
Die Musik war von Anfang an in Nietzsche gewesen, nur immer latent, immer von dem stärkeren Willen nach geistiger Rechtfertigung bewußt beiseite geschoben. Der Knabe schon begeistert durch kühnes Improvisieren seine Freunde, und in den Jugendtagebüchern finden sich zahlreiche Hinweise auf eigene Komposition. Aber je entschlossener sich der Student zur Philologie und dann zur Philosophie bekennt, um so mehr dämmt er die unterirdisch nach elementarem Ausbruch drängende Macht seiner Natur ab. Musik, das bleibt für den jungen Philologen ein willkommenes Otium, ein Ausruhen von dem Ernst, eine Liebhaberei, wie Theater, Lektüre, Reiten oder Fechten, eine geistig gymnastische Müßigkeit. Durch diese sorgfältige Abkanalisierung, durch diese bewußte Absperrung sickert in den ersten Jahren auch kein Tropfen befruchtend in sein Werk ein: wie er die »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« schreibt, bleibt die Musik nur Gegenstand, Objekt, ein geistiges Thema – aber keine Schwingung musikalischen Gefühls flutet in die Sprache, in die Dichtung, in die Denkart modulierend ein. Selbst Nietzsches Jugendlyrik entbehrt aller Musikalität, und sogar – was noch erstaunlicher anmutet – seine kompositorischen Versuche scheinen nach Bülows doch kompetentem Urteil amorpher Geist, typische Antimusik gewesen zu sein. Musik ist und bleibt ihm lange bloß eine Privatneigung, die der junge Gelehrte mit der ganzen Lust der Unverantwortlichkeit, mit der reinen Freude des Dilettierens betreibt, aber immer jenseits und abseits der »Aufgabe«.
Der Einbruch der Musik in Nietzsches innere Welt erfolgt erst, wie die philologische Kruste, die gelehrte Sachlichkeit um sein Leben gelockert, wie der ganze Kosmos von vulkanischen Stößen erschüttert und aufgerissen ist. Da bersten die Kanäle und strömen urplötzlich über. Immer bricht ja die Musik am stärksten in den aufgewühlten, geschwächten, in den gewaltsam angespannten, von irgendeiner Passion bis ins Unterste aufgerissenen Menschen herein – das hat Tolstoi richtig erkannt und Goethe tragisch gefühlt. Denn selbst er, der gegen die Musik eine vorsichtige, eine abwehrend ängstliche Haltung einnahm (wie gegen alles Dämonische: in jeder Verwandlung erkannte er den Versucher), auch er erliegt der Musik immer nur in aufgelockerten (oder wie er sagt: »in den auseinandergefaltenen«) Augenblicken, da sein ganzes Wesen aufgewühlt ist, in den Stunden seiner Schwäche, seines Aufgetanseins. Immer wenn er (zum letztenmal bei Ulrike) einem Gefühl zur Beute ist und nicht Herr seiner selbst, dann überflutet sie auch den starrsten Damm, zwingt ihm die Träne ab als Tribut und Musik, gedichtete, herrlichste Musik als ungewollten Dank. Musik – wer hat es nicht erlebt? – braucht immer ein Aufgetansein, ein Offensein, ein Weibwerden in einem selig lechzenden Sinne, um fruchtend in ein Gefühl einzugehen: so trifft sie auch Nietzsche im Augenblick, da der Süden ihn weich aufgetan, in dem Zustand gierigsten, lechzendsten Lebensverlangens. Mit einer merkwürdigen Symbolik setzt sie gerade in der Sekunde ein, da sein Leben sich vom Gelassenen, vom Episch-Fortgebildeten durch eine plötzliche Katharsis zum Tragischen wendet; die »Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik« vermeinte er darzustellen und erlebt die Umkehr: die Geburt der Musik aus dem Geist der Tragödie. Die Übermächtigkeit der neuen Gefühle findet ihren Ausdruck nicht mehr in der gemessenen Rede, sie drängt nach stärkerem Element, nach höherer Magie: »Du wirst singen müssen, o du meine Seele.«
Gerade weil diese unterste, die dämonische Quelle seines Wesens so lange verschüttet war mit Philologie, Gelehrsamkeit und Gleichgültigkeit, schießt sie so gewaltsam auf und preßt ihren flüssigen Strahl mit solcher Druckkraft bis in die letzten Nervenfasern, in die letzte Intonation seines Stils. Wie nach einer Infiltration neuer Vitalität beginnt die Sprache, die bis dahin nur darstellen wollte, mit einemmal musikalisch zu atmen: das vortragshafte Andante maestoso, der schwere Sprechstil seiner früheren Schriften, hat jetzt das »Undulatorische«, die vielfache Bewegung der Musik. Alle kleinen Raffinements eines Virtuosen funkeln darin auf, die kleinen spitzen Staccati der Aphorismen, das lyrische Sordino in den Gesängen, die Pizzicati des Spottes, die kühnen Verschleifungen und Harmonisationen von Prosa, Spruch und Gedicht. Selbst die Interpunktionen, das Ungesprochene der Sprache, die Gedankenstriche, die Unterstreichungen haben absolut die Wirkung von musikalischen Vortragszeichen: nie hat man so sehr in der deutschen Sprache das Gefühl einer instrumentierten Prosa