Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
Nietzsche umgepflanzt und erneuert. Auch der Weimarer fühlt zwar das Bedürfnis nach Erneuerung (»Gewiß, es wäre besser, ich käme gar nicht wieder, wenn ich nicht wiedergeboren zurückkommen kann«), aber er hat nur wie jede schon halberstarrte Form die Fähigkeit für »Eindrücke«. Für eine so vollkommene Verwandlung bis ins letzte aber wie jene Nietzsches ist der Vierzigjährige eben schon zu durchgestaltet, zu eigenmächtig, und vor allem unwillig: sein starker namhafter Selbstbehauptungstrieb (der ja in späteren Jahren ganz zu Starre und Panzer erfrostet) gibt der Wandlung neben der Beharrung nur gemessenen Raum, er nimmt, der Weise und Diätetische, nur genau so viel an, als er meint, daß es seiner Natur förderlich sein könne (indes ein dionysischer Charakter von allem nimmt bis zum Exzeß und zur Gefahr). Goethe will sich nur bereichern an den Dingen, niemals sich aber an sie bis zur Neige, zum Umgewandeltwerden verlieren. Darum ist auch sein letztes Wort an den Süden bedächtig messender, sorgsam abwägender Dank und im Letzten doch Abwehr: »Unter den löblichen Dingen, die ich auf dieser Reise gelernt habe«, lautet sein Endwort über die italienische Reise, »ist auch dies, daß ich auf keine Weise mehr allein sein und nicht außerhalb des Vaterlandes leben kann.«
Diese wie eine Münze hartgeprägte Formel, man braucht sie nur umzuwenden und hat in nuce Nietzsches Erlebnis des Südens. Sein Fazit ist der glatte Gegensatz zu Goethes Resultat, nämlich, daß er von nun ab nur mehr allein und nur mehr außerhalb des Vaterlandes zu leben vermag: während Goethe aus Italien genau an den Punkt seines Ausganges zurückkehrt wie von einer belehrenden und anregenden Reise, und in Koffer und Kisten, in Herz und Hirn Wertvolles in ein Heim, in sein Heim, wiederbringt, ist Nietzsche endgültig expatriiert und bei sich selber angelangt, »Prinz Vogelfrei«, selig heimatlos, ohne Heim und Habe, für alle Zeit losgelöst von jeder »Vaterländerei«, von jeder »patriotischen Einklemmung«. Von nun an gibt es für ihn keine andere Perspektive mehr als die Vogelschau des »guten Europäers«, jener »wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch«, deren unausbleibliches Kommen er atmosphärisch fühlt und in der er sich einzig wohnhaft macht – in einem jenseitigen, einem zukünftigen Reich. Nicht, wo er geboren war – Geburt ist Vergangenheit, »Historie« –, sondern wo er zeugt, wo er selbst gebiert, ist für Nietzsche der geistige Mensch zu Hause: »Ubi pater sum, ibi patria« – »Wo ich Vater bin, wo ich zeuge, ist meine Heimat«, nicht wo er gezeugt wurde. Das wird die unschätzbare, unverlierbare Gabe der Südenfahrt an Nietzsche, daß für ihn nun die ganze Welt gleichzeitig Ausland und Heimat wird, daß er jenen Vogelschaublick, jenen hellen, niederstoßenden Raubvogelblick von einem Darüber behält, einen Blick nach allen Seiten, nach überall offenen Horizonten (indes Goethe sich nach seinen Worten durch das »Umstellen mit geschlossenen Horizonten« gefährdete, freilich aber auch bewahrte). Mit seiner Übersiedlung ist Nietzsche für immer jenseits von allen seinen Vergangenheiten, er hat sich endgültig entdeutscht, so wie er sich endgültig entphilologisiert, entchristlicht, entmoralisiert; und nichts charakterisiert seine unbändig fortschreitende exzessive Natur so sehr, als daß er niemals mehr einen Schritt oder auch nur einen sehnsüchtig-wehmütigen Blick ins Überwundene zurückgetan hat. Der Seefahrer ins Zukunftsland ist viel zu beglückt, »mit dem schnellsten Schiff nach Kosmopolis« gefahren zu sein, als daß es ihn jemals noch nach seiner einsprachigen, einseitigen, einförmigen Heimat gelüstet: darum verurteilt sich jeder Versuch, ihn zurückzudeutschen, als eine (jetzt sehr übliche) Gewaltsamkeit. Aus der Freiheit gibt es für den Erzfreien kein Zurück mehr; seit er die Klarheit des italienischen Himmels über sich erlebt, erschauert ihm die Seele vor jeder Art »Verdüsterung«, mag sie nun von Wolkentrübe, Hörsaal, Kirche oder Kaserne kommen; seine Lungen, seine atmosphärischen Nerven vertragen keinerlei Art Norden, keine Deutschheit, keine Dumpfheit mehr: er kann nicht mehr leben bei geschlossenen Fenstern, bei zugemachten Türen, im Halbdunkel, in einer geistigen Dämmerung und Vernebelung. Wahr sein ist für ihn von nun ab klar sein – weit sehen, scharfe Konturen ziehen bis in die Unendlichkeit; und seit er dies Licht, dieses elementare, scheidende, schneidende Licht des Südens mit allem Rausch seines Blutes vergöttert, hat er dem »eigentlichen deutschen Teufel, dem Genius oder Dämon der Unklarheit«, für immer entsagt. Seine fast gastronomische Reizbarkeit empfindet, seit er im Süden, seit er im »Ausland« lebt, alles Deutsche als zu schwere, zu drückende Kost für sein aufgeheitertes Gefühl, als eine »Indigestion«, ein Nie-fertig-Werden mit den Problemen, ein Nachschleppen und Wälzen der Seele durch das ganze Leben hin: das Deutsche ist ihm nicht mehr und niemals mehr frei und leicht genug. Selbst seine einst geliebtesten Werke verursachen ihm jetzt eine Art geistigen Magendrucks: in den »Meistersingern« spürt er das Schwere, Verschnörkelte, Barocke, die gewaltsame Anstrengung zur Heiterkeit, bei Schopenhauer die verdüsterten Eingeweide, bei Kant den hypokritischen Beigeschmack von Staatsmoralin, bei Goethe die Beschwertheit mit Amt und Würde, die gewaltsam abgesperrten Horizonte. Aber es ist nicht nur Unbehagen des Geistigen an der damaligen (wirklich am tiefsten Punkte angelangten) geistigen Verfassung des neuen, allzu neuen Deutschland, nicht nur politische Erbitterung über das »Reich« und alle jene, die dem Kanonenideal die deutsche Idee geopfert haben, nicht bloß ästhetischer Abscheu vor dem Plüschmöbel-Deutschland und Siegessäulen-Berlin. Seine neue Südlehre verlangt nun von allen Problemen, und nicht bloß den nationalen, von der ganzen Lebenshaltung klare, freiströmende, sonnenhafte Helligkeit, »Licht, nur Licht auch über schlimme Dinge«, höchste Lust durch höchste Deutlichkeit – eine »gaya scienza«, eine heitere Wissenschaft, nicht die mürrisch-tragische des »Lernvolkes«, die deutsche geduldige, sachliche, professoral-ernste Bildungsgelehrsamkeit, die nach Stube und Hörsaal muffelt. Nicht aus dem Geist, nicht aus der Intellektualität, sondern aus Nerv, Herz, Gefühl und Eingeweide kommt seine endgültige Absage an den Norden, an Deutschland, an die Heimat; sie ist Aufschrei von Lungen, die endlich ihre freie Luft spüren, Jubel eines Entlasteten, der endlich das »Klima seiner Seele« gefunden hat: die Freiheit. Darum dies sein Jauchzen aus dem Innersten, der boshafte Jubelschrei: »Ich entsprang!«
Gleichzeitig mit dieser definitiven Entdeutschung verhilft ihm der Süden zu seiner vollkommenen Entchristlichung. Nun, da er, wie eine Lazerte sich der Sonne freuend und die Seele durchleuchtet bis in ihr letztes Nervengefäß hinab, sich zurückfragt, was ihn so lange Jahre verdüsterte, was seit zweitausend Jahren die ganze Welt so zag, ängstlich, gedrückt, so feige schuldbewußt gemacht, die heitersten, natürlichsten, kraftvollsten Dinge und ihr Kostbarstes, das Leben selbst, so entwertet habe, erkennt er im Christentum, im Jenseitsglauben das Verdüsterungsprinzip der modernen Welt. Dieses »übelriechende Judain von Rabinismus und Aberglauben« hat die Sinnlichkeit, die Heiterkeit der Welt durchsetzt und betäubt, es ist für fünfzig Generationen das gefährlichste Narkotikum geworden, in dem alles, was früher wahrhaft Kraft gewesen, in moralische Lähmung verfiel. Nun aber – und hier empfindet er sein Leben mit einem Mal als Mission –, nun muß endlich der Kreuzzug der Zukunft gegen das Kreuz beginnen, die Wiedereroberung des heiligsten Menschenlandes: unseres Diesseits. Das »Übergefühl des Daseins« hat ihn den leidenschaftlichen Blick für alles Diesseitige, Animalisch-Wahre und Unmittelbare gelehrt; seit dieser Entdeckung weiß er erst, wie lange das »gesunde, rote Leben« ihm von Weihrauch und Moral verschleiert gewesen war. Im Süden, in jener »großen Schule der Genesung im Geistigen und Sinnlichen«, hat er die Fähigkeit des Naturhaften, des schuldlos sich freuenden, des spielhaft heiteren Lebens ohne Winterfurcht und Gottesfurcht erlernt, den Glauben, der zu sich selbst ein herzhaftes, schuldloses Ja sagt. Aber auch dieser Optimismus kommt von oben, freilich nicht von einem verborgenen Gott, sondern vom offensten, vom seligsten Geheimnis, von Sonne und Licht. »In Petersburg wäre ich Nihilist. Hier glaube ich, wie die Pflanze glaubt, an die Sonne.« Alle seine Philosophie ist unmittelbar aus erlöstem Blut aufgegoren: »Bleiben Sie südlich, sei es nur dem Glauben nach«, ruft er einem Freunde zu. Wem aber Helligkeit so sehr Heilung geworden, dem wird sie auch heilig: in ihrem Namen beginnt er den Krieg, jenen furchtbarsten seiner Feldzüge gegen alles auf Erden, was die Helligkeit, die Heiterkeit, die Klarheit, die nackte Ungebundenheit und sonnige Rauschkraft des Lebens verstören will. »… mein Verhältnis zur Gegenwart ist nunmehr Krieg bis aufs Messer.«
Mit diesem Mut kommt aber auch Übermut in dies krankhaft unbewegt hingelebte, hinter verhangenen Fenstern verbrachte Philologenleben, eine Aufstörung, Aufjagung des erstarrten Blutkreislaufes: bis in unterste Nervenenden, durchfiltert von Licht, taut die kristallhafte, klare Form der Gedanken beweglich auf, und im Stil, in der plötzlich aufschießenden und beweglichen Sprache, glitzert Sonne mit diamantenen Funken.