Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig

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Bordeaux und vertrauter Freund der Familie Valmore.

       Lyon, den 29. November 1831.

      Ihre Blicke, lieber Gergerès, sind jetzt auf Lyon gerichtet. Das Interesse, das Sie an der ganzen Menschheit nehmen, wird Ihr Herz mitfühlend und ergriffen gestimmt haben. Ich würde vergeblich versuchen, die furchtbaren Einzelheiten zu schildern; ich hätte nicht die Kraft zu vollenden. Sie werden auch aus wenigen Worten alles begreifen. Wir haben eine Wiederholung des blutigen Panoramas vom Juli erlebt, ein schreckliches Gegenbeispiel der drei Seiten im Buche der Geschichte, die von Kugeln geschrieben worden sind. Wie viel unschuldige Tote! Meine ganze Familie ist gerettet. Doch, lieber Gott! man kauft gegenwärtig so viel Trauerkleider, daß wir in die Kniee sinken vor Überraschung, nicht selbst auch welche tragen zu müssen! An diesem ungeheuren Aufstand hatte die Politik keinen Anteil. Es war Empörung des Herzens… Die Weiber warfen sich dem Feuer entgegen und schrieen: »Tötet uns, dann haben wir keinen Hunger mehr!« Zwei-, dreimal vernahm man den Ruf: »Es lebe die Republik!« Doch die Arbeiter erwiderten – und das ganze Volk mit ihnen –: »Nein, nein! Wir wollen Brot und Arbeit!«

      Seit fünf Tagen sind die Aufständischen die Herren von Lyon, und es herrscht eine musterhafte Ordnung. Inmitten von Sturmgeläut, Trommelwirbel und Kugelregen, den Jammerrufen der Sterbenden und der Frauen machten wir uns auf Plünderung und Brandstiftung gefaßt, falls jene Sieger werden sollten. Nichts derartiges! Nicht ein kaltblütiges Verbrechen nach dem Kampf! Ihr Zorn hat sich daran erschöpft, in zwei, drei Häusern reicher Fabrikanten – man hatte dort unklugerweise aus den Fenstern in die Menge gefeuert –, Möbel und Uhren zu zerschlagen und Vorhänge und Teppiche zu verbrennen. Den Soldaten ist auf ihrem Rückzüge, bei dem sie trotz allem das Gewehr übergehängt hatten, grausam mitgespielt worden. Die Bevölkerung der Vorstädte hielt diese schöne Menschlichkeit für eine Falle, und man metzelte die Soldaten nieder; dreihundert sind gefallen. Die Rhone war rot! Diese arme Garde hatte sich zuerst geweigert, auf die Arbeiter, die nur mit stürmischen Rufen Brot verlangten, zu schießen. Dann aber begannen zehn oder zwanzig Hitzköpfe doch zu feuern… Da gab es ein großes Kampfgemenge, ein Durcheinander von Weibern, Kindern und schließlich der ganzen Bevölkerung, die sich auf Seite der Arbeiter stellte. – Der Mut dieser Armen ist um so erstaunlicher, als sie von Hunger erschöpft und nur mit Lumpen bedeckt waren.

      Welch ein Anblick! auch beim Schreiben muß ich die Zähne aufeinander pressen. Vor einem Monat, am nämlichen Tage, hatte dieselbe aufrührerische Unruhe ohne Waffen, ohne Schreie in friedlichem Strom die ganze Stadt durchflutet. Man empfängt sie, hört sie an; man gewährt ihr die kleine Lohnerhöhung, die sie erbittet. Freudenrufe ertönen. Am Abend veranstalten diese armen Leute aus Dankbarkeit eine Illumination. Den Beamten und Kaufmannsvorständen werden Ständchen gebracht. Acht Tage später verweigert man ihnen den bewilligten Tarif. Man verhöhnt sie. Ein Geschäftsmann begeht die Dummheit, einem Beschwerdeführer die Pistole vorzuhalten, mit den Worten: »Hier unser Tarif!« Da ist den bedauernswerten Armen von Lyon der Zorn zu Herz und Kopf gestiegen, und die Folge war der Aufstand.

      Das Theater hat gestern wieder begonnen. Ich wage nicht, Ihnen angesichts all des Elends von unserer eigenen Not zu sprechen. Man erwartet den Herzog von Orleans, doch seit gestern ist er in der Nähe von Lyon, ohne hereinzukommen. Was hat man nur vor? Worauf wartet man, da ja alles still und friedlich ist?… Es heißt, man will mit starkem Aufgebot einziehen; doch ist das nicht überflüssig, wenn man alles verzeihen will?… Und wenn man strafen will – mein Gott! Ich möchte lieber sterben, als neue Opfer fallen sehen!…

      An Frédéric Lepeytre

      Oberstadtsekretär von Marseille, verheiratet mit einer jungen Bekannten der Marceline, korrespondierte er jahrelang mit der Dichterin, ohne sie zu kennen. Später entwickelte sich eine tiefe und treue Freundschaft zwischen den beiden.

       Lyon, 15. Februar (1832).

      Sie möchten wissen, ob ich von Natur schwermütig bin, oder warum sonst ich es bin? Es ist nicht leicht, so viel Dunkles, Rätselhaftes in wenigen Worten zu entwirren. Ein jeder von uns trägt sein Geheimbuch in sich, voller Widersprüche. Tag um Tag findet sich darin ein neuer, anderer Satz, der uns selbst erstaunlich ist. Ich spreche im Bilde, denn Ihre Frage anders zu beantworten, würde mich zu traurig stimmen. Wenn meine Gedanken sich nach innen neigen, so weinen sie. In Gesprächen bin ich anders. Da gehöre ich dem momentanen Eindruck, ich sympathisiere mit dem, der zu mir redet, und ich lasse sein Wesen auf mich einwirken. Sie würden mich sehr heiter sehen, wenn Sie es selber auch wären. Bin ich allein, so gehöre ich der Vergangenheit; je mehr Kummer sie mir zugefügt hat, um so mehr hält sie mich fest. Und dann wieder habe ich leichte, strahlende, unschuldig frohe Tage, wie eine glücklich wiedergefundene Kindheit, froh über ein Nichts, von nichts betrübt. Doch selbst im Glück konnte ich mich fremdem Leid nicht verschließen – und werde es niemals können. Ich löse mich dann unwillkürlich vom eigenen Schicksal los, um das des Unglücklichen mit ihm zu teilen, seine Not mit ihm zu tragen. Mein Herz ist wie durchbohrt von stechendem Mitleid. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich mit anderen gelitten habe, mein üppiges Haar ist lange vor der Zeit daran ergraut.

      An A. M. Duthilloeul

       Lyon, 29. März 1832.

      Ist es möglich, mein Herr! Diese Stiege, die ich, als ich klein war, so oft mit Schauer von Furcht und Neugier herabgestiegen bin, diese Stiege der Rue du Guve d’Or hat einem zu Tode Verurteilten das Leben gerettet! Mein Gott, wie glücklich war ich, als ich das las!… Es ist unmöglich, daß die Todesstrafe nicht etwas im höchsten Maße und schrecklich Gottloses ist, da man so sehr von Freude erfüllt ist, wenn man von einem Opfer vernimmt, das sich zu retten vermochte. Wie gerne würde man sich auf die Kniee werfen, um ihm (Gott) zu danken, und man küßt tränenden Auges die herrlichen Seiten in »Der letzte Tag eines Gerichteten«! Wird der König das niemals lesen? Wird jemals nur ein einziger Kopf fallen, wenn er das gelesen haben wird? Denken Sie nicht so? Ich glaube, daß ich vergehen werde, aus Dankbarkeit für Gott, wenn man eines Tages ausrufen wird: »Keine Todesstrafe mehr!« Das ist der heiße Wunsch meines ganzen Lebens. Bedenken Sie doch, mein Herr, einen Menschen lebendig in seinen Sarg schleudern!… Sich zum Gott aufzuwerfen!… Bringen Sie es oft zur Sprache, ich bitte Sie darum! Es ist ausgeschlossen, daß die Stimmen ehrlicher Menschen nicht schließlich gehört werden. Es ist das ein großes Verbrechen, das auf uns lastet und nicht ein einziges verhütet. Im übrigen stimmen die ehrenwertesten Männer in dieser Hinsicht nicht überein, ihre Unbestechlichkeit hat nicht dieselben Gesichtspunkte, und ich verstoße vielleicht gegen Ihre Grundsätze. Gleichfalls finde ich Ihre Tribunale von betrübender Strenge, und ich habe mehr als einmal aufgeweint: »Fünf Jahre Zuchthaus, öffentlich kundgegeben!«… Und für was für Delikte! Es gibt so große Übeltäter, die auf Daunen schlafen! Ich bin krank an dem Leben, so wie es nun ist. Und Sie, mein Herr?

      An Valmore

       Paris, 2. Februar 1834.

      … Wohin jetzt fliehen, um sich zu sammeln und dieser Sucht, uns zu besuchen, zu entgehen. Mein Gott, ändern wir unseren Namen, denn Du siehst wohl, daß wir selbst in Lyon weder Ruhe noch Einsamkeit haben werden… Die Leute und die Verpflichtung, sie zu sprechen, gehen mir auf die Nerven. Deine krankhafte Scheu hat sich so sehr auf mich übertragen, daß das Schellen der Türglocke in mir schon nervösen Aufruhr verursacht.

      … Wann werde ich eine Gelegenheit finden, Dir die Rolle des Faliero zu senden? Mit der Post – das würde ungeheuer viel kosten.

       Paris, 25. Februar 1834.

      Was die Aufstände betrifft, sei unbesorgt. Du weißt, daß ich vorsichtig bin und so leicht zu beunruhigen, daß ich alles schließe, nur um die Schreie nicht zu hören… Wo werden wir nur ein wenig friedlich leben können? Aber fürchte für mich nichts anderes, als den Schmerz mitansehen zu müssen, wie die Menschen einander Leides tun.

      An Fräulein Mars

       Lyon, den 6. Mai 1834.

      Daß


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