Gesammelte Biografien bekannter historischer Persönlichkeiten. Stefan Zweig
immer lieb gehabt, und wenn ich, wie eigentlich anzunehmen war, umgekommen wäre, so hätten Sie ein Herz verloren, das wie kein zweites erfüllt war von Ihnen und Ihrem Zauber. Auch weiß ich besser als jeder andere, daß Sie gut und aufrichtig sind, und Ihre Besorgnis überrascht mich nicht. Hier war es entsetzlich. Über sechs Tage lang tobten Sturmglocke, Feuersbrunst, sinnlose Metzeleien (Frauen, Greise und Kinder wurden erwürgt); und sechs noch grauenhaftere Nächte lang, in denen wir alles mitansahen, was man ohne zu sterben ertragen kann, erwarteten wir, mit unserem Haus in die Luft zu fliegen. Aber schließlich fanden wir uns am Leben und fast bekümmert darüber, der großen Todesgeißel entronnen zu sein; es wäre so schnell zu Ende gewesen: das Stürmen der Glocken, der Flintenkugeln und Kanonen warf ohnedies alles Leben in tiefe Ohnmacht. Ich habe wohl dreimal das unbezwingliche Verlangen nach einem Schuß ins Herz gehabt, um diese Schlächterei nicht länger miterleben zu müssen… Es wird noch lange nachbluten, meine liebe Hippolyte! Ich habe so etwas nur in Büchern gefunden. Doch ich glaube, ich bin dazu bestimmt, viel Trauriges mitanzusehen; denn ich muß Ihnen sagen, daß der Tod mich mehrmals an der Hand hielt, aber wieder laufen ließ. Ich sah Gott vor mir, wie ich Ihr liebes Antlitz vor mir sehe, aber ich danke ihm noch immer, daß er mich fast gewaltsam nach Lyon getrieben hat. Ich tat meine Pflicht, meinem Gatten zur Seite, umgeben von meinen Kindern: man hätte sich kein besseres Ende wünschen können. Es muß also noch einmal durchgemacht werden, und ich bedaure das; aber wir haben alle eine Aufgabe zu erfüllen, Sie wissen, daß ich versuche, sie mit Ergebung zu tragen.
An A. Gergerès
[Lyon,] 17. Februar 1835.
… Nun hören Sie mein äußeres Leben: ich werde krank, ich sinne und liebe und hetze mich innerlich ab mit dem Gedanken an alles das, was ich tun möchte, um mein Haus instand zu halten, und ich bitte Gott, daß er mich am Leben läßt. Dann verbringe ich acht Tage der Rekonvaleszenz und versuche, mich ruhig zu zeigen; dann weitere acht Tage völliger Gesundheit, tätig wie ein munteres Vögelchen. Tage, in denen ich den Schaden wieder gutzumachen suche, daß ich so lange wie abwesend war von dieser Welt. Endlich ist alles in Ordnung, alles wieder aufgerichtet und hergerichtet, die Kleider der Kinder, des Gatten, der Frau! Morgen, morgen kann ich ausgehen: Bewegung im Freien ist mir so nötig! Ich werde in dem Nebel nach einer Unze Luft suchen. Da plötzlich ergreift mich eine unsägliche Ermattung, mein Herz schlägt, daß es mir den Atem raubt, und ich falle wehrlos wieder in die Hände eines Feindes, dessen Allmacht sich nur in Lyon so recht dartut, dieser Stadt, die alle Leiden birgt, ein ungangbarer Sumpf für schwache Füße. Da haben Sie mein Schicksal, Gergerès!…
Meine Kinder gehen zur Schule. Ich bin immer allein, es sei denn, daß eins krank ist. Meine kleine Inès hat die Masern gehabt, und es war mir eine unsägliche Wohltat, sie zu pflegen, bei ihr zu wachen. Eine verzweifelte Schlaflosigkeit ist diesen tätigen Nachtwachen gefolgt. Mir wäre ein Leben gemäß wie das der ersten Christen: Wallfahrten, Nachtwachen, Wüste und vielleicht der Märtyrertod. – Was hat er verbrochen, jener Mann, den man dort hinter Eisenstäbe sperrt?… Was für ein Grauen habe ich vor den Gefängnissen! Ist nicht schon die Erde selbst ein solches? Wenn ich an den Schildwachen unserer Kerker vorbeikomme, so blinzle ich ihnen zu, damit sie auch mich niederschießen; doch man erlaubt ihnen jetzt nur noch nachts zu töten.
Saint-Jean-le Vieux, 25. Juli 1835.
Nie in meinem Reiseleben habe ich eine solche Nacht verlebt wie diejenige, die mich hierher gebracht hat. Ich glaubte umzukommen. Wir waren acht Personen im geschlossenen Wagen, Ines und meine beiden Körbe auf meinen Knieen, eine Frau aus dem Volk schlief an meiner Schulter, Gießkannen, Seifenballen… Beine von Riesen, 15 Personen auf dem Dach. Schließlich war ich genötigt auszusteigen, um nicht zu ersticken… Auf dem Rückwege werde ich die Sparsamkeit beiseite lassen, für Inès einen halben Platz zu nehmen; das Kind hat mich durch seinen schweren und friedlichen Schlaf fast erdrückt.
An Antoine de Latour
Der Dichter und Übersetzer Silvio Pellicos, beabsichtigte eine Studie über die von ihm verehrte Dichterin herauszugeben.
Lyon, 15. Februar 1836.
… Der Einzelheiten, die Sie über ein so rastloses und doch so verborgenes Leben zu hören wünschen, sind nicht gar viele zu berichten. Ich habe immer Fieber, und ich reise immer. Mein Leben siecht hin, wie und wo es Gott gefällig ist. Ich wandere dem andern Leben zu, indem ich mich bemühe, meine Kinder auf dem rechten Weg dorthin zu führen. Ich würde mich mit Begeisterung dem Studium der Dichter und der Dichtung hingegeben haben: ich mußte mich begnügen, davon zu träumen, wie von allen den Gütern dieser Welt. In einigen Monaten werde ich mit meiner ganzen Familie Lyon verlassen, ohne noch zu wissen, wohin ich ihr Dasein und das meine flüchten werde – das meine, das so viel Stürmen gar nicht gewachsen schien, und dennoch standhält. Dieses gebrechliche Dasein, mein Herr, ist nur mit Widerstreben ins Leben getreten, beim Sturmläuten einer Revolution, die es in ihren Wirbel ziehen sollte. Ich bin an den Toren eines Kirchhofs geboren zu Füßen einer Kirche, deren Heiligenfiguren man zerschmettert hatte; jene zwischen den Gräbern lagernden Steingestalten wurden meine ersten stillen Gefährten. Um nicht zu lange bei Erinnerungen zu verweilen, die mir süß und wertvoll, für Sie aber sicher belanglos sind, erwähne ich hier nur mein Elternhaus, das mein Herz mit all dem schwermütigen Zauber der leidenschaftlichen Heimatliebe umgeben hat – einer Heimat, die ich mit zehn Jahren ganz unerwartet verlassen mußte, um sie nie wiederzusehen… Nun fürchtete ich mich davor.
Sie könnten also, so wohlwollend Sie auch gesinnt sein mögen, mein Herr, von mir kaum berichten, ohne darzutun, welch unwissendes und unnützes Geschöpf ich bin. Sind meine Gedichte es wert, daß man sich mit mir beschäftigt und mich in die Literaturgeschichte aufnimmt? Mein Herr, ich bin unwissend. Ich habe nichts gelernt. Seit meinem sechzehnten Jahr habe ich das Fieber, und Menschen, die mir nahestehen, haben mich schon mehr als einmal für tot beweint, so wenig lebensfähig bin ich ihnen erschienen. Lange Zeit war ich überrascht und bekümmert, so leiden zu müssen, denn da ich, trotz eines anscheinend frivolen Berufs, sehr einsam lebte, hielt ich alle anderen für glücklich und konnte mich nicht bescheiden, es selber nicht zu sein. Jetzt weiß ich, daß die andern auch leiden. Das hat mich noch trauriger gemacht, aber es hat mich entsagen gelehrt. Mein Mitleid hat den Gegenstand, mein Wunsch sein Ziel gewechselt. Dieses ist ein höheres geworden; ich versuche, es zu erreichen.
An Frédéric Lepeytre
Lyon, 14. Juli 1836.
… Eine Hoffnung war es, die meine in Demut und Verlassensein verbrachten Tage durchzog: die Abschaffung der Todesstrafe. Ich hatte Gott mit solcher Inbrunst darum gefleht und so willigen Herzens mein Leben zur Erlangung dieser Gunst geboten, daß es mir immer schien, ich müsse eines Tages die Erfüllung dieses jahrelang gehegten Wunsches erfahren. Aber dies ist nicht zur Wahrheit geworden, wird nicht Wahrheit werden. Es gibt keine Barmherzigkeit, kein aufrichtiges Mitgefühl, es gibt nur Köpfe, die fallen, Mütter, die vergeblich ihre Verzweiflung ausschreien. Ich wollte, ich wäre tot, um sie nicht mehr zu hören. Wenn ich einen Galgen sehe, vergrabe ich mich und kann weder essen, noch schlafen. Die Galeeren, mein Gott! Um sechs Franken, um zehn Franken, für einen Zornausbruch, für eine hitzige, eine eigensinnige Meinungsäußerung… Und sie! die Reichen, die Mächtigen, die Richter! Sie gehen ins Theater, nachdem sie eben: »Zu Tode verurteilt!« haben. Mein Herr, ich bin unglücklich. So ist es mit meinem Herzen bestellt, und dabei wohne ich einem Gefängnis gegenüber, auf einem Platz, auf dem man Menschen an einen Pfahl hängt, der trauriger ist als ein Sarg!
An Caroline Branchu
Lyon, 6. September 1836.
Es gibt Empfindungen, die man nicht niederschreibt, Caroline!
Einen Brief wie den Deinigen mit einem Briefe zu beantworten, ist etwas so Unvollkommenes, daß Du nie so ganz wissen kannst, wie er mich ergriffen hat, was er mir an Freude und Traurigkeit gegeben. Um dem Antrieb meines Herzens zu genügen, müßte ich zu Dir eilen, Deine Hände nehmen und Dich ansehen! Das allein hätte unsern beiden