Die wichtigsten Werke von Jacob Burckhardt. Jacob Burckhardt
der Reichseinheit und macht dann doch eine ganz rätselhafte Teilung. War sein Beschluss hierüber schon gefasst, als er die neue Hauptstadt gründete? – Man wird es nie ermitteln können. Der Herr der Welt war nicht imstande, das Schicksal seiner Dynastie zu leiten und zu sichern, schon weil sie ein entsetzliches Geschlecht war. Er musste es darauf ankommen lassen, welchem Erben einst das Reich und die Constantinopolis schliesslich anheimfallen würden.
Die geographischen Gründe, welche man sonst geltend macht, dürfen wenigstens nicht überschätzt werden. Byzanz lag allerdings den am meisten bedrohten Grenzen viel näher als Rom; die Donau- und Pontusgoten und die Perser konnte man von hier aus weit besser beobachten. Allein mit den Franken und Alamannen war es trotz aller Siege noch nicht so zu Ende, dass die so weit entlegene Rheingrenze als unbedingt gesichert hätte gelten können. Ausserdem ist es noch eine Frage, ob die Hauptstadt vorzugsweise in eine der am meisten gefährdeten Gegenden des Reiches gehörte, wo noch vor wenigen Jahrzehnten gotische Raubflotten ihr Wesen getrieben hatten. Diesmal erhielt sie freilich eine solche Befestigung, dass neun Jahrhunderte hindurch alle Völkerstürme vergebens an ihre Mauern prallten.
Byzanz hatte aber noch eine ganz andere geographische Bedeutung als bloss die eines uneinnehmbar festen Waffenplatzes. Erinnern wir uns, welche Rolle das sogenannte illyrische Dreieck, das heisst die Ländermasse zwischen dem Schwarzen, Ägäischen und Adriatischen Meer im dritten Jahrhundert gespielt hatte; seine Feldherrn und Soldaten, darunter die constantinische Familie selber, hatten das Reich gerettet und beherrscht; es durfte nun die Residenz für sich verlangen, und so ist die Constantinopolis zunächst der Ausdruck und die Ehrenkrone von Illyricum. Eine Aussage des Zonaras berechtigt zu dieser Vermutung; Constantin soll nämlich anfangs sogar an eine Stadt des tiefen Binnenlandes, Sardica (das jetzige Sofia in Bulgarien) gedacht haben809, wobei ihn offenbar nur die Rücksicht auf das bevorzugte Volk im Reiche leiten konnte.
Die Constantinopolis sollte aber – wohin sie auch zu liegen kam – überhaupt keine blosse Residenz, sondern der Ausdruck der neuen Zustände in Staat, Religion und Leben werden810. Der Gründer hatte hievon ohne Zweifel ein klares Bewusstsein; er musste sich einen neutralen Ort ohne Prämissen schaffen, weil er keinen vorfand. Die Geschichte hat dieser Tat, verdienter- oder unverdientermassen, den Stempel des Grossen, Welthistorischen aufgedrückt; sie hat in der Stadt Constantins einen ganz eigentümlichen kirchlich-politischen Geist, eine ganz eigene Gattung von Kultur entwickelt, den Byzantinismus, welchen man lieben oder hassen mag, jedenfalls aber als Weltmacht anerkennen muss. Oben der Despotismus, unendlich verstärkt durch die Vereinigung der kirchlichen mit der weltlichen Herrschaft; an der Stelle der Sittlichkeit die Rechtgläubigkeit, statt des schrankenlos entarteten Naturlebens die Heuchelei und der Schein; dem Despotismus gegenüber eine sich arm stellende Habsucht und die tiefste Verschlagenheit; in der religiösen Kunst und Literatur eine unglaubliche Hartnäckigkeit zu beständiger Wiederholung des Abgestorbenen – im ganzen ein Charakter, welcher viel an den ägyptischen erinnert und mit demselben eine der höchsten Eigenschaften, die Zähigkeit gemein hat. Doch wir haben es nicht mit den spätern geschichtlichen Perspektiven, sondern mit den Anfängen zu tun.
Man nimmt wohl an, dass Constantin einen ausgesprochenen Widerwillen gegen Rom empfunden habe, und dass die Römer denselben hervorgerufen oder erwidert hätten durch ihren Abscheu an seiner Vernachlässigung heidnischer Zeremonien. Allein es bedurfte dessen nicht mehr. Seit Diocletian war mit der Notwendigkeit der Reichsteilungen auch die Untauglichkeit Roms zur Residenz eine klar erkannte Sache. Die Zwischenherrschaft eines Maxentius hatte zwar zu Roms grossem Schaden gezeigt, wie gefährlich der hohe alte Name der Weltherrin gemissbraucht werden könne, wenn die Kaiser ferne im Orient und im Norden sassen, allein Constantin wusste, dass nach Aufhebung der Prätorianer nichts Ernstliches mehr zu befürchten war811. Dass er in Rom residieren sollte, erwartete wohl im Ernste niemand mehr von ihm. Das Zentrum der höchsten Reichsgeschäfte war lange Zeit in Diocletians Kabinett, also vorzugsweise in Nikomedien zu finden gewesen; später hatte Constantin als Herr des Westens, neben Licinius, Rom nur von Zeit zu Zeit besucht, sonst aber sich meist in Gallien und in den Feldlagern aufgehalten. Dem Osten aber durfte er vielleicht (abgesehen von den besondern Ansprüchen Illyricums) nach dem Siege über Licinius die Hauptstadt nicht wohl verweigern, so wie er auch in andern bedenklichen Beziehungen den Sachen ihren Lauf scheint gelassen zu haben. Die geheimen persönlichen Nebenereignisse, welche den Sturz des Licinius begleiteten, würden vielleicht auch hier einiges aufklären können.
Endlich war in Constantin die Leidenschaft des Bauens – eine der stärksten, die es im Gemüte mächtiger Fürsten geben kann – offenbar gewaltig entwickelt. Es lässt sich kein solideres äusseres Symbol der Herrschergewalt denken als Gebäude von bedeutendem Charakter; ausserdem ist das Bauen selbst, mit massenhaften Kräften rasch gefördert, schon an sich ein Gleichnis des schaffenden Herrschens und für ruhige Zeiten ein Ersatz desselben. Vollends gilt eine neue Stadt für den Gründer als das Sinnbild einer neuen Welt.
Es gingen der neuen Gründung wunderbare Entschlüsse und Versuche voraus. Ausser Sardica hatte der Kaiser auch Thessalonich, dann Chalcedon, auf der asiatischen Seite des Bosporus, im Auge gehabt. Der erste feste Entschluss aber galt keiner andern Örtlichkeit als der Gegend des alten Troia, von wo einst durch Aeneas die Auswanderung nach Latium und mittelbar die Gründung Roms ausgegangen. Von historischer Sentimentalität darf hier nicht die Rede sein, bei Constantin so wenig als einst bei Caesar und bei Augustus, welche denselben Plan gehegt hatten812. Es kamen gewiss sehr bestimmte Gründe heidnischer Superstition in Betracht, über welche der Kaiser, wie oben bemerkt, keinesweges hinaus war. Ilion ist die heilige alte Heimat der Römer; durch irgendeinen Schicksalsspruch, den wir nicht mehr kennen813, waren sie angewiesen, den Sitz ihrer Herrschaft einst wieder dahin zu verlegen, von wo ihre Anfänge entstammten. Constantin begab sich814 in Person nach dem berühmten Gefilde, wo an den Grabhügeln der Helden Homers schon seit tausend Jahren geopfert wurde; beim Grab des Aiax, an der Stelle des griechischen Lagers, begann er selbst die Umrisse der künftigen Stadt zu zeichnen. Bereits waren die Tore gebaut, als ihm eines Nachts Gott erschien und ihn ermahnte, eine andere Stätte zu wählen; darauf entschloss er sich für Byzanz. Noch hundert Jahre später sahen die bei Troia Vorüberfahrenden vom Meere aus den Bau, den er unvollendet gelassen. – Wer in dieser Erzählung einen Kampf der heidnischen und der christlichen Umgebung des Kaisers erkennen will, dem kann man wenigstens nicht widersprechen. Es ist wohl denkbar, dass die Hofgeistlichen alle Mittel des Widerstandes in Bewegung setzten, als sich Constantin mit wesentlich heidnischen Zeremonien und Orakeln beschäftigte.
Aber auch bei der Gründung von Konstantinopel ging es ohne dergleichen nicht ab. Für die Adler, welche beim vorgeblichen Neubau von Chalcedon Meßschnüre oder Steinchen rauben und über den Bosporus nach Byzanz tragen, mögen sich Zonaras und Cedrenus verantworten; ähnlicher Art sind mehrere andere Züge, die nur das Bedürfnis der Zeitgenossen nach übermenschlichen Beziehungen grosser Ereignisse ausdrücken. Allein Constantin hätte schon der heidnischen Bevölkerung des Reiches wegen sich auf die Superstition einlassen müssen, und wahrscheinlich war er auch in seinem Innern durchaus nicht frei davon. Er selber spricht sich unbestimmt monotheistisch und dabei sehr geheimnisvoll aus: »Wir haben die Stadt auf Gottes Befehl mit einem ewigen Namen beschenkt815.« Welches ist dieser ewige Name? Wahrscheinlich nicht Constantinopolis, vielleicht nicht einmal Neurom (Νέα Ρώμη), sondern Flora oder Anthusa, die Blühende, welches auch der priesterliche Geheimname Roms war816. Der Gott aber, welcher diese Benennung befahl, war schwerlich der Christengott. Auch das Traumgesicht, womit spätere Chronisten den Kaiser beehren817 – ein zerlumptes Weib bittet ihn um Kleidung – hat durchaus