Die wichtigsten Werke von Jacob Burckhardt. Jacob Burckhardt
auf den catalaunischen Gefilden darum handelte, ob der Hunne das Leichentuch über das okzidentalische Leben ziehen dürfe wie in der Folge der Mongole über das asiatische, trug diese Befreundung schon ihre Früchte; Römer und Westgoten hielten zusammen und wehrten den Angriff gemeinsam ab.
Von der Alterung und Verkommenheit der römischen Zustände überhaupt, woran das Christentum keine Schuld trägt, ist die ganze Geschichte dieser Zeit ein sprechendes Zeugnis, und auch in der vorliegenden Darstellung wurde auf jedem Blatte darauf hingewiesen. Es ist aber hier die beste Stelle dazu, einige bezeichnende Züge aus diesem Greisenleben der antiken Welt zusammenzutragen. Auch die historische Stellung des Christentums kann hiedurch noch weiter verdeutlicht werden.
Klagen über die schlechten Zeiten sind vorhanden aus allen Jahrhunderten, welche eine Literatur hinterlassen haben. Im Römischen Reich aber wird der Verfall auf eine Weise eingestanden, welche gar keinen Zweifel übrig lässt. Das Gefühl, dass alles, was jetzt geschehe, klein sei im Verhältnis zu einer immer glanzvoller ausgemalten Vorzeit, wächst gleichzeitig mit der äusserlichen Kolossalität des Römischen Reiches und seiner Interessen, und selbst wer die Grösse der Vorzeit misslaunig bestreitet, tut es nur, um die Gegenwart noch tiefer herabzusetzen. Wenn Seneca471 in seiner philosophischen Polemik gegen die Geschichte den Philipp und den Alexander von Macedonien als Strauchdiebe behandelt, so fügt er doch bei: wir sehen diese Dinge für gross an, weil wir selber so klein sind. Ein viel stärkeres, obschon stillschweigendes Zeugnis liegt darin, dass alle Philosophen und Rhetoren – und auch die Dichter, wenn sie nicht betteln gehen – dass also die ganze freie Literatur des zweiten, dritten und vierten Jahrhunderts ohne Not von keinem Menschen und keinem Gegenstande spricht, der über das Ende der römischen Republik herabreicht. Es sieht aus, als hätte man sich das Wort darauf gegeben. Die griechischen Sophisten wählen für ihre Schulexerzitien vorzugsweise Situationen aus der Blütezeit des Griechentums, aus den Perserkriegen, dem Peloponnesischen Kriege, etwa noch aus dem Leben Alexanders des Grossen. Sie lassen Xenophon reden, der an Sokrates' Stelle zu sterben verlangt, oder Solon, der dem Pisistratus gegenüber auf Abschaffung der Gesetze anträgt, oder Demosthenes, der den Athenern rät, auf die Flotte zu fliehen, und dergleichen mehr472. Dio Chrysostomus (unter Trajan) glaubt sich irgendwo förmlich rechtfertigen zu müssen, nachdem er in einer Rede Ereignisse aus der Kaiserzeit, »moderne, ruhmlose Dinge«473, erzählt hat; er meint, sein Gegner verachte ihn als einen Schwätzer, weil er nicht nach üblicher Art von Cyrus oder Alcibiades spreche. Die dem Quintilian zugeschriebenen Deklamationen behandeln entweder ebenfalls längst vergangene Dinge oder erdichtete Rechtsfälle, die in keine bestimmte Zeit gehören. Die naheliegende Annahme, dass die Regierung etwa die Besprechung der Kaiserzeit unliebsam aufgenommen und unterdrückt haben möchte, wäre durchaus irrig. Eine Aufsicht dieser Art über die Literatur und die Schule lag gar nicht in der Art des römischen Imperiums, welches sich überhaupt nicht damit abgab, geistige Richtungen zu dirigieren und zu beaufsichtigen. Gerade die damals beliebtesten Gegenstände für die Redeübungen würden nach unserm Maßstab anstössig und gefährlich scheinen; in dem Rom Domitians klagt Juvenal474 über die tödliche Langeweile des Rhetors, welcher zum hundertsten Male es mit anhören muss, »wenn die zahlreiche Klasse grausame Tyrannen tötet«. Die Geschichten von Brutus, von Harmodius und Aristogiton waren also ein sprichwörtlich beliebtes Thema, während die merkwürdigsten Dinge der Kaiserzeit, die man noch dazu panegyristisch hätte behandeln können, wie zum Beispiel der Jüdische Krieg, die Taten Trajans, die Herrschaft der Antonine, freiwillig gar nicht berührt wurden und somit ausschliesslich den offiziellen Lobrednern überlassen blieben.
Aber nicht bloss die Redner, auch die eigentümliche Gattung von lateinischen und griechischen Sammlern, welche man bisweilen unter dem Namen der Grammatiker mitbegreift, gehen nicht leicht über die Zeit der Republik herunter. Aulus Gellius zum Beispiel tut es nur, wenn er von der Bildung seiner Zeit und von seinen eigenen Studien spricht; Aelian in seinen »Bunten Geschichten« fast nirgends; Alciphron verlegt seine Briefe (siehe bes. II, 3) in die früheste macedonische Zeit; Athenaeus in seiner grossen Enzyklopädie des antiken Lebensgenusses geht der Kaiserzeit sehr absichtlich aus dem Wege, und noch zwei Jahrhunderte später gibt Macrobius in seinen Saturnalien als letzte Notiz eine Sammlung von Anekdoten und Witzworten des Augustus, eine kurze beiläufige Erwähnung Trajans abgerechnet. Philologen vom Fache, welche mit der betreffenden Literatur näher vertraut sind als der Verfasser, würden diese Beobachtung wahrscheinlich in einem viel weitern Umfang bestätigen können.
Diese Zeit, die man verneinte und ignorierte, von welcher man sich beständig nach frühern Jahrhunderten zurückwandte, bekam dann plötzlich einen neuen Inhalt durch das Christentum. Eine schon lange vorbereitete christliche Literatur brach jetzt wie ein Strom in das leere Bette des Jahrhunderts ein und überwog binnen kurzer Frist an Masse alles, was aus der heidnischen Schriftwelt erhalten ist.
Doch Rom als Sitz und Inbegriff der Weltherrschaft sollte ewig sein; die Roma aeterna ist auf Denkmälern und Münzen der allgemeine Trost besonders während der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts. Den Christen, solange sie in Rom das personifizierte Heidentum, das Babylon der Offenbarung sahen und hassten, war dieser Gedanke eine Torheit; es handelte sich ja, wie Arnobius475 offen sagt, um diejenige »zum Verderb des Menschengeschlechtes geschaffene Stadt, um deren Herrschaft willen der ganze Erdkreis unverdientermassen unterjocht worden war«. So durfte freilich nur ein Afrikaner sprechen; auch unterschied man schon zur heidnischen Zeit zwischen Rom und dem Reiche und betete für dessen Wohl wie für das der heidnischen Kaiser und der Armeen476. Später, unter den christlichen Kaisern, war man mit der Weltherrschaft Roms völlig ausgesöhnt; Prudentius477 findet darin das höchste geschichtliche Werk der Vorsehung: »Siehe, das ganze Geschlecht der Sterblichen ist unter die Herrschaft des Romulus gekommen, die verschiedensten Sitten und Denkweisen haben sich verschmolzen; so war es vorherbestimmt, damit die Würde des Christennamens, soweit die Erde reicht, alles mit einem Band umschliesse.« Das Rührendste dieser Art ist aber der Gesang eines spätern Heiden (um 417), des Claudius Rutilius Numatianus478, welcher das tief erschütterte Rom wie eine gebeugte Mutter tröstet und ihm aus seiner welthistorischen Grösse eine neue Hoffnung auf ewige Dauer herleitet.
Wie weit die Staatseinrichtungen und der äussere Zustand solche Hoffnungen rechtfertigten, ist durch blosse Schlüsse nicht unbedingt zu ermitteln. Eine Regierung, wie die römische war, kann sich trotz zunehmender Erstarrung unendlich lange halten, wie das Byzantinische Reich bewiesen hat. Wäre die Stadt Rom so uneinnehmbar fest und so zur Verteidigung geschaffen gewesen, wie später Konstantinopel, so hätte auch das abendländische Reich viel länger dauern und verlorene Provinzen von der geretteten Hauptstadt aus mehr als einmal zurückerobern können. Der Staat kann sogar die Nationalität überleben, so gut als diese den Staat. Es soll also mit dem Begriff der Alterung nicht die Unmöglichkeit des Weiterlebens, sondern nur das allmähliche Versiegen derjenigen Lebensquellen bezeichnet werden, die einst der Nation ihr edleres geistiges und leibliches Gepräge verliehen.
Schon von der Erdbeschaffenheit könnten wir anheben. Es kam den Leuten im Römischen Reiche vor, als begännen die Flüsse seichter zu werden und die Berge niedriger; auf dem Meere sah man den Aetna nicht mehr aus so weiter Ferne wie früher, und von Parnass und Olymp verlautete dasselbe. Emsigere Naturbeobachter meinten sogar, der Kosmos sei überhaupt im Niedergang begriffen479.
Beginnen wir jedoch nur mit dem physischen Menschen, so ist in dieser Zeit eine Ausartung der Rasse, wenigstens in den höhern Ständen, unleugbar. Das Urteil ist hier nicht auf Aussagen der Schriftsteller beschränkt, welche hie und da schon frühe etwas der Art andeuten