Sex Revolts. Simon Reynolds
auseinander (ihre Songs hatten vage, mystische Titel wie »Elevation«, »The Fire«, »The Dream’s Dream«, »Glory« und »Carried Away«). Als U2 in den frühen 1980ern bekannt wurden, war ihre Musik von der innovativen Blueslosigkeit Televisions durchzogen. Wie Televisions Tom Verlaine entwickelte auch U2-Gitarrist The Edge einen Stil, der einem reibungslosen Sog aus glockenartigen und mit Effekten überladenen Tönen glich und an die Stelle von Riffs oder Powerchords trat. Die Rhythmusgruppe arbeitete ohne Synkopen, war manchmal martialisch, weigerte sich aber rigoros, zum Hüftenschwingen einzuladen. Bis tief in ihre Karriere hinein waren die Rhythmen von U2 regungslos und traten auf der Stelle, während The Edge und Bono emporflogen und herabschossen. Nie lenkten sie die Aufmerksamkeit des Publikums nach unten auf den Körper ab. Bonos Stimme flehte und beschwor – »Soul«, der jedes letzten Tropfens der Sinnlichkeit des R&B beraubt worden war.
Auf dem Debütalbum Boy (1980) widmen sich U2 Themen wie naiver Unschuld und Wissensdurst, die abstrakt, aber relativ kleinformatig sind (zumindest im Vergleich mit der Großartigkeit, die folgte). Das Bild auf dem Cover fing ihren Geist ein: ein Junge mit nacktem Oberkörper, etwa sieben oder acht Jahre alt, mit goldenem Haar und glänzenden Augen. Dieses Cover und der Song »Stories for Boys« beschrieben ziemlich direkt, was im Television-Albumtitel Adventure nur anklang: die Suche nach dem Gral oder Ruhm, die Sehnsucht nach etwas, das einen andächtig werden lässt.
Auf ihrem nächsten Album October (1981) wurde U2s christlicher Glaube offensichtlicher. Darauf finden sich so fromme Songs wie »Gloria« und »Rejoice«. Das originale Roch-’n’-Roll-»Gloria« (von Van Morrisons erster Band Them) war ein lüsterner Lobgesang auf eine Frau. U2s »Gloria« (eine Eigenkomposition) war pure Askese, eine psalmenartige Hymne, die den Herrgott direkt anflehte und verherrlichte. Bono bot Gott seinen Dienst, seinen Körper und seine Seele als pilgernder Krieger an. Ihr drittes Album War (1983) erklärte U2 zu Kreuzrittern (der Titel stand auf der einen Seite für ihren Pazifismus und signalisierte auf der anderen Seite ihre Bereitschaft, für Rechtschaffenheit zu kämpfen). In »New Year’s Day« versammeln sich die wenigen Auserwählten, »die Augen zum Himmel gerichtet«, um den Geist der Wiedergeburt zu empfangen. U2 imaginierten eine spirituelle Wiedererweckung, eine Chance auf einen Neuanfang des Rock. The Edges Gitarrenspiel auf diesem Stück war so himmlisch und hellhäutig, wie es nur geht. Das dazugehörige Video spielte in einer verschneiten Gegend in großer Höhe, die blendend weiß war.
Apropos »die Augen zum Himmel gerichtet«: U2s Geheimnis war, dass ihre Musik stärker als die jeder anderen Band die Augen ansprach statt die Ohren. Auf den nächsten beiden Alben The Unforgettable Fire (1984) und The Joshua Tree (1987) entwickelten die Produzenten Brian Eno und Daniel Lanois diesen visuellen/visionären Aspekt weiter. Vor allem Eno, der Erfinder des Ambient-Genres, war davon besessen, durch Sound ein Gefühl von Räumlichkeit zu vermitteln. Für U2 entwickelten Eno und Lanois einen Panoramasound, der die zur Bewegung reizenden Aspekte von Rockmusik (Dynamik, anheizende Rhythmik) herunterspielte und sie durch filmische Aspekte ersetzte – Cineastik statt Kinetik. Das passte perfekt zu The Edges luftigem Gitarrenspiel und nebenbei konnte man so die neuen Möglichkeiten ausnutzen, die die CD für feine Details bot. Die so entstandene Musik lud die Hörerinnen und Hörer dazu ein, in die weite Ferne zu blicken. Gleichzeitig wurden Bonos Texte spezifischer politisch – nahmen sich dabei allerdings Themen an, an denen kein vernünftiger Mensch Anstoß nehmen konnte. »Pride (In the Name of Love)« zum Beispiel zollt Martin Luther King Tribut. Wie Gandhi gilt King als Musterbeispiel des überlebensgroßen Visionärs, den seine religiösen Überzeugungen dazu inspirieren, gegen irdisches Unrecht zu kämpfen – das Vorbild des christlichen Soldaten.
Für den jungen Krieger bietet die Begeisterung für pathetische Abstraktionen und kosmische immaterielle Werte eine Möglichkeit, Sexualität zu vergeistigen. Männerfreundschaften werden von ihrer Homoerotik gereinigt, weil sich ihre Leidenschaft auf ein fernes Ziel oder eine Vision bezieht. Als sich U2 1987 auf dem Höhepunkt ihres Erfolges befanden, war es offensichtlich, dass ihr missionarischer Eifer eine ähnliche Umgehung von Sexualität und Gender beinhaltete. Alles an U2 – von ihren Lyrics bis zu Bonos Geheul und The Edges ionosphärischer Gitarre – war uplifting, steuerte hin zur Sonne und weg von wallenden männlichen Hormonen und klebrigen weiblichen Körpersekreten. Es war bemerkenswert, dass nicht ein einziger Song einer Band, die bereits fünf Alben veröffentlicht hatte, sich mit Begierde oder Liebe auseinandersetzte – außer sie war universell statt körperlich.
Auf Rattle and Hum (1988) stürzten U2 – wie Ikarus – in den Schlamm des Blues, den Mississippidelta-Sumpf, der Rock ’n’ Roll einst geboren hatte und dessen Matsch U2 so erfolgreich in Äther verwandelt hatten. Das Album versuchte der Band eine neue Heimat innerhalb der Tradition von amerikanischem Country und R&B zu geben, zur Ursprungsquelle zurückzukehren. Passenderweise signalisierte die erste Single diesen Kurswechsel: »Desire« war ihr erster Song über Sex – und ein unausweichlicher Fehlschlag. Der Song war zu abstrakt und schematisch, um tatsächliches Verlangen auszulösen. So zeugte er lediglich von dem Verlangen, sich mit Verlangen auseinanderzusetzen.
Drei Jahre nach dem Manifest wurde es dann aber richtig dreckig. Auf Achtung Baby (1991) zertrümmerten U2 ihr Image, ihren eigenen Sound und ihren Ruf als keusche und fromme Tugendwächter. Mit aller Kraft versuchten sie, Ideen aus dem Underground-Rock aufzusaugen, verunstalteten ihren Sound mit Industrial-Getöse und brachten den Funk in ihre vormals so träge Rhythmusgruppe. Ihre »Zoo TV«-Tour versuchte, das Chaos des medialen Overkills zu reproduzieren. Mit einem Mal waren die vormodernen Missionare zu Postmodernisten des späten 20. Jahrhunderts geworden. Die Videos waren anrüchig; Bono vollzog einen Imagewechsel vom rauen Pionier/Inka-Bergführer-Look der Joshua Tree-Phase zum zugedröhnten, blassen, kettenrauchenden Rockreptil in Leder und Sonnenbrille (die er auch im Dunkeln trug). Diese Neuerfindung mittels Achtung Baby geschah mit einem Eifer, der an die Metamorphosen von David Bowie oder Siouxsie Sioux erinnerte.
Sie funktionierte bemerkenswert gut und nirgendwo besser als in dem Song und Video »Mysterious Ways«. Darin legten sie ihr Image als christliche Soldaten ab und wurden stattdessen Ministranten einer weiblichen Gottheit: von Gott im Himmel zu Mutter Natur. Über ihren alten Transzendentalismus machte sich Bono mit einem Text lustig, der das Küssen des Himmels listig mit dem Niederknien beim Cunnilingus vergleicht. Mit »Tryin’ to Throw Your Arms Around the World« kritisierte Bono seine eigene Poserei als Heilsbringer. Das ganze Album kündigte einen Wandel vom himmlischen Absoluten des U2-Diskurses zur Intimität und Unmittelbarkeit sexueller Liebe im Hier und Jetzt an. Auf Achtung Baby gab es Songs, in denen die Wörter »she« und »her« öfter erwähnt wurden als im kompletten bisherigen Gesamtwerk der Band.
»Mysterious Ways« ist die große Absichtserklärung, ein Wechsel von der Identifikation mit dem Mann zur Eifersucht auf die Frau. Der Song vergöttlicht gleichzeitig eine Frau und verweiblicht Gott. Das erinnert an »The Great Curve« von den Talking Heads (von Remain in Light, ebenfalls produziert von Brian Eno), ein gynozentrisches Funk-Mantra, dessen Text das Drehen der Erde um ihre Achse mit dem Schwenken weiblicher Hüften vergleicht. (Das Video zu »Mysterious Ways« klaut diese Idee in einer kitschigen Szene, in der eine Bauchtänzerin vor einem riesigen Vollmond kreist.) Die Musik von »Mysterious Ways« verkörpert die Bewegung weg von der Überwältigung unter freiem Himmel hinein in ein dunkles, feuchtes Inneres. Anstelle von Enos und Lanois’ Ambient-Horizonten und The Edges unerotischem Strahlen rühren U2 einen dicken, klebrigen Funkrock an. Das Vorbild heißt nicht mehr Television, sondern Sly Stone; die Musik klingt, als wäre sie nicht während eines sorgfältigen Prozesses der Überlagerung von Sounds entstanden, sondern während einer Jamsession; Hörerinnen und Hörer reagierten nicht mehr mit dem Anschwellen der Brust, das die klassischen U2 auslösten, sondern mit sich aneinander reibenden Hüften.
Das Video fing diese neuen U2 brillant ein. Es spielt in einer labyrinthartigen Stadt im Nahen Osten, die Bilder werden verzerrt wie in einem Spiegelkabinett. Das Blickfeld der Betrachterinnen und Betrachter scheint sich zu biegen und zu schlängeln, einzuknicken, in sich zusammenzufallen. Wo einst der erhabene Blick herrschte, wirkt es nun, als sei das männliche Auge von den betörenden Düften der Weiblichkeit berauscht und desorientiert. »Mysterious Ways« ist eine aufregende Treuehymne an Frau und Natur. (Man könnte natürlich argumentieren, dass U2 nur die eine Mystifizierung