Der Sklave. Jürg Brändli
and complicated. I think I’m paranoid, manipulated.
Er befand sich auf dem Weg zu einer Frau.
Dabei kannte er noch nicht einmal ihren richtigen Namen. Zuweilen entfiel ihm sogar ihr Gesicht, obwohl sie sich inzwischen alle zwei Wochen sahen und obwohl er wusste, dass sie ihm etwas bedeutete. Er dachte nämlich ständig an sie.
Die Fahrt endete nach zwanzig Minuten an der Haltestelle in einem grossen Industriequartier, wo Hebeisen das öffentliche Verkehrsmittel verliess. Es war bereits am Eindunkeln, und vor den Ampeln einer Kreuzung staute sich der Abendverkehr.
Durch einen diskreten Hintereingang betrat Hebeisen das Treppenhaus eines grossen weissen Gebäudes mit gestalteter Fassade. Im Parterre betrieb ein Tierpräparator sein Handwerk, der lange im Gefängnis gewesen war, weil er seine Frau umgebracht hatte. Hebeisen gehörte nicht zu den Menschen, die so etwas schrecken konnte. Noch kein einziges Mal hatte ihm die Tatsache die Vorfreude genommen, seit sie ihm zu Ohren gekommen war und seit er im Hause Gast war.
Er betrat den Lift und wählte das Stockwerk, auf dem sich der Salon 77 befand. Auf den obersten zwei Etagen, hinter geschlossenen Läden und dichten bunten Vorhängen, wurde hier nämlich ein modernes Bordell betrieben. Es gab einen Empfangsraum mit Erotikmagazinen, diverse Liebeszimmer und eine Folterkammer.
Amanda wartete auf ihn.
Sie trug Stöckelschuhe, einen schwarzen Lederminirock, der attraktiv über ihre Oberschenkel spannte, und einen kurzen grauen Pullover, der eine braune Schulter freiliess sowie den Blick auf einen weissen Träger.
Amanda hatte ein zierliches, herausforderndes Gesicht, und Hebeisen mochte ihr dichtes schulterlanges Haar, das ihn immer irgendwie an sommerliche Baumrinde erinnerte.
Sie war der Mensch, der es geschafft hatte, Hebeisen ein aufrichtiges Band um sein kühles Herz zu legen.
Obwohl es ihm gefiel, nahm Hebeisen dieser Tage in der Stadt viel Festgefahrenes um sich herum wahr. Viele bürgerliche Frauen kleideten sich nach einem Kodex, der sich an der Wahl des Stiefels festmachte und der dann auch ihr restliches Leben definierte. Weibliche Mode hatte seines Erachtens mehr mit gesellschaftlicher Uniform zu tun denn je. Der letzte Schrei, nämlich italienische Reitstiefel mit Schnallen, konnten ihn richtiggehend erschrecken, wenn sie der dominanten Frau standen, von denen sie getragen wurden.
Auch rote Fingernägel, hatte Hebeisen bemerkt, konnten einer solchen Konvention entsprechen.
Von alledem war Amanda frei.
Im Salon bot sie diverse Spielereien an. Für den Herrn kleidete sie sich gerne romantisch, für den Sklaven schlüpfte sie in schwarzes Leder, hie und da spielte sie sogar die Rolle der aufreizenden Krankenschwester. Ihr weibliches Wesen hatte viele Dimensionen, und dadurch empfahl sie sich auch privat für verschiedenste Anlässe und Gelegenheiten. Darin mochte etwas Altmodisches liegen, für Hebeisen machte es Amanda zur begehrenswerten Frau.
Hebeisen wusste, dass in der Art und Weise, wie er Amanda sah, etwas zutiefst Materialistisches lag. Aber beruhte es nicht auf Gegenseitigkeit? Das Vergnügen, das sie beide aus der Beziehung bezogen, gründete ja gerade im Umstand, dass sie keine erwachsene war.
Trotzdem hatte sich Hebeisen in Amanda verliebt.
Lange Zeit war er sich beim Gefühl albern vorgekommen: bei der Angst, auf eine Prostituierte hereingefallen zu sein, wie man so schön sagte. Aber das war es nicht, dessen war er sich inzwischen sicher.
Als er zum ersten Mal hergekommen war und sie sich ihm zusammen mit anderen Frauen zur Auswahl präsentiert hatte, da war sie noch ein Kind gewesen. Danach hatte er sich jeweils direkt mit ihr verabredet, und sie beide, Amanda und Hebeisen, sollten bei ihren Begegnungen an einer Erfahrung wachsen, die über das dunkle Spiel hinausging, das sie dabei trieben. Es hatte damit zu tun, dass sie beide im gleichen Alter waren und dass sie insgeheim darin übereinstimmten, den Anforderungen jener Welt, wie sie sich vor den geschlossenen Läden der Folterkammer abspielte, nicht gewachsen zu sein.
Hebeisen liebte es nicht nur, wenn Amanda ihn fesselte, um am Rand der Unschuld mit ihm zu experimentieren. Er genoss auch die Gespräche, die sich ihren bizarren Stunden anschlossen und bei denen er ständig über Dinge sprach, die er sonst mit niemandem teilen konnte. In diesen Momenten fühlte er sich jeweils vollkommen frei.
Obwohl sie noch nie miteinander geschlafen hatten, waren sie in der kurzen Zeit aneinander erwachsen geworden. Nicht ohne Eifersucht musste Hebeisen neuerdings erkennen, dass Amanda vollkommen war: attraktive Kindfrau, romantische Gespielin und versierte Domina, Werktätige, Hausfrau und Mutter.
Sie hatte ihn überholt, und er hatte es zugelassen.
In primitiven Beziehungen war es der Moment, der zum Bruch oder zur häuslichen Gewalt führen konnte. Hebeisen stellte zur eigenen Überraschung aber fest, dass er den Schmerz genoss, der die heimliche Gewichtsverschiebung mit sich brachte. Er wurde sich bewusst, dass er nie im Stande sein würde, je eine Frau zu schlagen. Eher hätte er sich einen Finger abgehackt.
Es war die Lektion, die ihm Amanda erteilte, und so wie sie ihn kastrierte, machte ihn die Tatsache gleichzeitig zu jenem Mann, der er wirklich war.
Es vertiefte nur seine Lust.
Auch heute unterzog ihn Amanda gegen Bezahlung einer Unterwerfung, die ihn tief befriedigte und erschöpfte.
Danach erzählte sie ihm, dass sie sich mit dem Gedanken trug, aus dem Geschäft mit der Erotik auszusteigen. Ausgerechnet jetzt, da sie ihm an Reife überlegen war, überraschte sie ihn mit einem Moment der tiefen Demut. Sie habe in ihrem Leben viele Fehler gemacht, gestand sie ihm, während sie seinem Blick auswich, und sie habe sich vorgenommen, sich zum Besseren zu ändern.
Hebeisen spürte, wie ihn das Bekenntnis zutiefst rührte. Obwohl er über einen protestantischen Hintergrund verfügte, empfand er im Augenblick so etwas wie Beichtgefühle für Amanda.
Sie verabschiedeten sich in der Kammer, bloss um in der Türe zum Treppenhaus, Zeichen der gegenseitigen Sympathie, nochmals ein neues Gespräch zu beginnen.
Erst spätabends, als er im Bett lag und nicht einschlafen konnte, spürte Hebeisen den Stich, der ihm von Amanda versetzt worden war. Ihre Ankündigung, mit der Tätigkeit im Salon 77 Schluss zu machen, hatte ihn unter Druck gesetzt. Dass es mit der Verfügbarkeit ihrer Person bald einmal ein Ende haben könnte, verursachte ihm einen bisher ungekannten Schmerz.
In den nächsten Tagen wurde ihm klar, dass er handeln musste. Nicht nur, weil er Amanda nicht verlieren wollte. Wenn ihre Gefühle tatsächlich auf Gegenseitigkeit beruhten, wovon Hebeisen im Moment ausging, dann würde er zu den Menschen gehören, die Amanda ans Bordell banden, solange er nichts dagegen unternahm.
Zum ersten Mal empfand er im Zusammenhang eine Schuld, und es führte dazu, dass er eine neue Sicht gewann auf die Art und Weise, wie er sein Liebesleben bisher organisiert hatte. Wenn er Amanda eine Liebeserklärung machte und sie darauf einging, barg es dann nicht auch für ihn die Möglichkeit, sich vom Milieu zu lösen?
Als Hebeisen vierzehn Tage später wieder im Bus sass und stadtauswärts fuhr, da klopfte ihm sein Herz. Sein i-Pod spielte den Soundtrack zum Film «The Million Dollar Hotel», und die Stimme von Bono Vox machte ihm Mut.
And for the first time I feel love.
Am Ende der Stunde fragte er Amanda, ob sie Lust habe, in den nächsten Tagen einmal mit ihm auszugehen.
Das sei völlig ausgeschlossen, kam es von der Letzteren wie aus der Kanone geschossen.
Hebeisen verliess enttäuscht den Salon 77.
Es fiel ihm schwer, die Absage zu akzeptieren.
Natürlich war es auch sein Fehler, denn er hatte sich Amandas Nein zu wenig ausführlich begründen lassen, so dass ihm jetzt das nötige Verständnis fehlte, um wirklich loslassen zu können nach allem, was zwischen ihnen gewesen war.
Vielleicht war es den Damen untersagt, sich mit ihren Kunden ausserhalb zu treffen, und Amanda war abhängig genug, um sich an ein solches Verbot zu