Der Sklave. Jürg Brändli
gerade Haare, die ihm etwas Abenteuerliches verliehen, weil er sie schulterlang trug. Er wusste, dass er durch sein Äusseres auffiel. Gleichzeitig haftete seinem guten Aussehen etwas Eigenbrötlerisches an: eine exotische Verletzlichkeit, ein Nimbus von Unschuld, eine fast schon heiligenhafte Unnahbarkeit. Seine ganze Person war von kontrolliertem, rundem Wesen.
In seiner Jugend mochte er braune Lederjacken mit Wollstössen, die ihm etwas vom arktischen Pionier verliehen. Dazu trug er meistens Bluejeans und Turnschuhe von Adidas, nämlich aus abgewetztem, knochenweissem Leder und mit himmelblauen Streifen. Lange besorgte ihm die Mutter seine Hemden, die er unter ärmellosen Pullovern trug. Es gab eine Phase, da gefiel er sich mit Beret. Im Winter trug er dicke, uneitle Wollschals. Indem er gerne einen legèren Eindruck machte, hatte er lange Zeit etwas von einem ungelenken, französischen Sozialisten. Damals hätte man sich nicht gewundert, ihn in einem Boulevardcafé beim Schreiben von Literatur und beim Trinken von Pastis anzutreffen. Ein Stückweit handelte es sich jedoch um Verkleidung. Das Frühlingshafte an der Kluft seiner Jugendzeit sollte über jene Schwermut hinwegtäuschen, die in ihm hockte wie ein unerklärliches Schuldgefühl, nämlich seit er denken konnte, und die er deshalb mit sich herumschleppte wie eine unsichtbare Sträflingskugel.
Ein Arzt hatte ihm einmal vom Unglück erzählt, das eine fehlgeschlagene Injektion bei einem Patienten verursachen sollte: Das Serum habe sich nach dem Einspritzen, anstatt im ganzen Körper heilende Wirkung zu entfalten, in einer einzigen Blase gesammelt, um im Fleisch nichts weiter zu verursachen als schrecklichen Schmerz. Das Bild schoss Hebeisen immer dann in den Kopf, wenn er an seine Erziehung denken musste. Es war ein Gift, das sein Organismus Zeit seines Lebens abgestossen hatte. Er wollte kein Teil jener Sache sein, die sie das Protestantische nannten. Immer musste er an diese Zeile aus dem Song von Supertramp denken, «You take a long way home», und daran, wie sehr ihn der Inhalt ärgerte. Er war nicht homosexuell. Das Leben, das vor ihm lag, sollte nicht bloss einen spasshaften Umweg bilden auf dem Weg zurück nach Hause und zur Mutter. Er hatte vor, die halbstarke Prägung irgendwann zu verlassen, mit der ihm seine Umwelt ständig ein Bein stellte. Er war nicht einverstanden mit seinem Platz im grossen Puzzle, das man für ihn vor langer Zeit ausersehen hatte, und er wehrte sich deshalb mit Kräften dagegen, wie ihm hinterrücks und in Respektlosigkeit die nötigen Kanten abgeschlagen wurden, damit er ihn trotzdem irgendwann ausfüllen konnte. Er wollte sein eigener Puzzleteil werden, um im Laufe seines Lebens jene Lücke zu finden, in die er tatsächlich passte. Mochten sie ihm noch so viele Fallen stellen. Mochte es dauern, so lange es wollte. Hebeisen wollte zum eigenen Nutzen wachsen und nicht im weibischen Interesse seiner Familie. Er wollte ins Leben vorstossen und nicht in den Schoss irgendeines reformierten Inzests. Er wollte den Ödipus loswerden, mit dem er von seiner Gemeinde manipuliert wurde. Hebeisen wollte nicht bleiben. Er wollte weg.
5
Sie hiess Tonia Büsser und besuchte die Parallelklasse.
Hebeisen verliebte sich in sie, als er siebzehn Jahre alt war und wie er sie zum ersten Mal sah, nämlich beim Eintritt ins Gymnasium, das sie beide an der Kantonsschule in Wetzikon besuchten.
Das Schulhaus bestand in einem Komplex aus mehreren, verschiedenhohen Betongebäuden mit Flachdach und silbernem Dreifachkamin.
Tonia war von selbstbewusstem Auftreten. Sie war hübsch, schlank, stark und impulsiv, stark auch durch eine Verletzlichkeit, die sie zeigen konnte. Sie hatte korallenblaue Augen, wilde schwarze Haare und einen südländischen Teint. Sie mochte Jeans und Wildlederstiefel, und sie gehörte zu den wenigen Mädchen in ihrem Alter, die sich bereits schminkten und ein erwachsenes Parfüm benutzten.
Sie war genau wie Hebeisen, nämlich anders als der Rest.
Ihr egozentrisches Naturell überforderte viele Jungen und Männer. Gleichzeitig verfügte sie über einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, weshalb man ihr den Egoismus verzieh.
Von gesunder Entwicklung wusste sie mit ihrer Attraktivität früh im Leben umzugehen, ohne dabei je ihre Unschuld zu riskieren.
Sie plante, nach der Matura ins Ausland zu gehen, am liebsten in die Vereinigten Staaten, um dort auf einer Ranch, an einer Tankstelle oder in einer Bar zu arbeiten. Mit Farbstiften entwarf sie in ihrer Freizeit kunstvolle Vorlagen für Tatoos: Raubvögel, Stars and Stripes, federgeschmückte Indianer oder die Logos von Markenbier wie Corona oder Bud. Selber trank sie am liebsten Cola light. Sie rauchte heimlich und kaute Kaugummi. An der Schule bewegte sie sich über dem Durchschnitt. Ihre einzige Schwäche war die Erwachsenheit gleichaltriger Rivalinnen.
Tonia bewunderte Ruhe, Konzentration und Sensibilität. Es war der Grund, weshalb es zur Beziehung mit Hebeisen kam.
Die beiden stellten fest, dass sie in vielen Ansichten übereinstimmten, die von den gängigen abwichen.
Tonia mochte Bücher wie «Per Anhalter durch die Galaxis» oder Filme wie «Brazil».
Bald erledigten sie gemeinsam ihre Hausaufgaben.
Sie besuchten Konzerte in der Kulturfabrik, die sich einen Kilometer vom Gymnasium entfernt Richtung Aathal befand, und wurden dort zu Stammgästen im Koko, dem Club im ersten Stock. Sie verbrachten spannende Filmabende im «Rex» in Pfäffikon, und sie fingen sich zu küssen an: heimlich zunächst nur, beim Bahnhof Rüti nämlich, in den Winkeln des Parkplatzhofs hinter der Bankgesellschaft. Es kam auch vor, dass Tonia selbenorts bei Gelegenheit einen Joint drehte. Den musste sie dann aber jeweils alleine rauchen, weil Hebeisen, der nichts von Drogen hielt, jedes Mal ablehnte. Schon damals trug er sich mit dem Gedanken, einmal Anwalt zu werden, falls es mit der künstlerischen Laufbahn nicht klappen sollte.
Als sie zum ersten Mal miteinander schliefen, taten sie es im Freien, am nächtlichen Ufer des Egelsees, wohin sie ein romantischer Spaziergang geführt hatte, nachdem sie in Zürich einer Aufführung der «Rocky Horror Show» im Volkshaus beigewohnt hatten. Es war am Anfang der Sommerferien gewesen, und Tonia und Hebeisen, die darauf nicht vorbereitet gewesen waren, hatten immer noch den Reis in Haaren und Kleidern, den die Fans aus dem Parkett während der Darbietung auf die Bühne geworfen hatten. Erst im Morgengrauen kehrten sie barfuss nach Rüti zurück, wo sie sich verabschiedeten und Tonia den ersten Zug nach Wetzikon bestieg.
Ein Jahr später kam es in der Kulturfabrik zur Vernissage. Eine Ausstellung, die mit Musik von The Jesus and Mary Chain untermalt war – «Just like honey…» –, zeigte insgesamt fünfzehn seiner Bilder. Die Veranstaltung verhalf Hebeisen in der Region zu einer gewissen Bekanntheit unter den Szenengängern seines Alters. Im «Zürcher Oberländer» erschien deswegen eine Notiz mit Foto.
Es befreite Hebeisen ein Stückweit von seinem künstlerischen Ehrgeiz. Die Idee, sich in seinem Leben in absehbarer Zeit den Rechtswissenschaften zuzuwenden, erschien ihm danach nicht mehr ganz so bourgeois.
Wochen später lagen sie zusammen in Tonias Bett.
Wie es sich denn eigentlich anfühle, ein Künstler zu sein, wollte sie völlig unvermittelt von ihm wissen. Sie teilten sich eine kalte Dose Bier, die sie auf dem Weg zu Tonias Elternhaus am Kiosk gekauft hatten. Sie hatten beide nasse Haare vom Duschen, und Tonia trug einen verwaschenen Mickey Mouse-Trainer. Auf einer Kommode glimmte ein Räucherstäbchen und verströmte süssen Seifenduft.
«Als hätte man diesen schwarzen Monolithen in sich drin», erklärte Hebeisen, nachdem er lange über die Frage nachgedacht hatte, «jenen aus Kubricks ‚2001’.» Sie hatten den philosophischen Weltraumklassiker erst kürzlich gemeinsam am Fernsehen angeschaut. «Es handelt sich um eine Form der Unberührbarkeit, die einen ständig vor die Wahl stellt: Entweder man arbeitet seiner Unabhängigkeit gemäss und verletzt sich selbst im Masse, wie man der Welt Schmerzen zufügt. Oder man verschont die andern und verstösst ausschliesslich gegen sich selber, was einen dann tötet. Weh tut es in jedem Fall, denn der Monolith ist weder zu biegen noch zu brechen.»
Tonia war beeindruckt. Das Geständnis war von einer Tiefe, mit der sie nicht gerechnet hatte.
Hebeisen selbst wurde bei seinen Worten klar, dass sie ihn nicht nur als Maler definierten, sondern dass ihm auch eine Beschreibung dessen gelungen war, was ihn am Gesetz