Der Sklave. Jürg Brändli
So gab es unter dem Dach der Hebeisens keine Intimität. Persönliches konnte dadurch nicht zur Sprache kommen. Wer trotzdem ein sinnliches Thema aufbrachte, der riskierte, dass es für immer verdorrte unter der förmlichen Gleichbehandlung. Es konnte eine Quelle fürs Bedürfnis nach körperlicher Selbstverletzung sein, wie es Hebeisen im frühen Leben oft empfand, nämlich wenn er sich deswegen jeweils ausgerechnet in der Liebe zu spüren aufhörte. Gerade für ihn als Masochisten bedeutete es eine überaus verwirrende und belastende Komplikation seines Gefühlslebens.
Es war nicht nur so, dass Hebeisen ohne Liebe aufwuchs. Das besitzergreifende Verhalten seines Vaters entwand ihm zugleich die Mittel, um der Kälte etwas entgegenzusetzen. Die Kinder Heinz Hebeisens waren keine Individuen. Für den Vater stellten sie ganz einfach eine Erweiterung seiner eigenen Persönlichkeit dar, weshalb er ständig ihre Integrität ignorierte, vor allem jene von Christian, dem jüngsten, nämlich indem er sich gedankenlos seines Lebens selbst bediente und dadurch alle Bemühungen um Autonomie im Frühstadium zerstörte.
Grosszügigkeit wurde jenem Kind zu teil, das den Missbrauch akzeptierte und mithalf, Heinz Hebeisens Grandiosität zu finanzieren. Wer dem Vater die Selbstbestätigung hingegen verwehrte, der musste mit der strafenden Empfindung zurechtkommen, bei den eigenen Eltern bloss in Untermiete zu leben. Dann reute sie das Essen, das Geld und die Zeit.
Der fortwährende Diebstahl an Identität wog umso schwerer, als sich die Eltern dagegen in keinem Moment dazu hinreissen liessen, von ihrem eigenen Leben auch nur ein Detail preiszugeben. Bei Hebeisen hatte es stets den Eindruck erweckt, als hätten Mutter und Vater alleine in der Gegenwart existiert. Alles schien an ihnen vorbeigegangen zu sein: Kennedy, die Beatles, Vietnam, 68, Baader Meinhof, Disco. Bei den einzigen Dingen, die ihre Vergangenheit definierten, handelte es sich um die Mondlandung, um ihre Heirat und um die Geburt ihrer drei Kinder. Den Rest borgten sie sich schamlos beim Nachwuchs, denn das Vakuum wollte täglich gefüllt werden.
Es war die Summe, die Hebeisen früh dazu veranlasste, Lebenspläne zu schmieden, von denen seine Eltern keinen Teil bildeten.
Nie sollte der Sohn seinen Vater konfrontieren. Es war jedoch nicht Angst vor Schmerz, die ihn davon abhielt. Er fürchtete sich auch nicht vor jener schwerwiegenden Wehmut, von der er wusste, dass sie einem das Einstürzen der Welt der Kindheit tatsächlich verursachen konnte.
Ein wesentlicher Teil seines Vaters lebte in Hebeisen. Es war der wirkliche Grund, weshalb ihm vor einem solchen Moment der Wahrheit graute, vor einem unneurotischen Kräftemessen, das möglicherweise mit der späten Entdeckung von Eigenschaften einher gegangen wäre, die er deswegen nicht ertragen hätte: Homosexualität, Hündisches oder faule Demut. Schliesslich musste es doch einen konkreten Grund geben, warum es Hebeisen so schwer fiel, sich von seinem Vater abzulösen, um erwachsen zu werden.
8
Tonia hatte eine Gastfamilie im kalifornischen Venice gefunden, bei der sie die nächsten zwei Jahre als Au-pair unterkommen konnte, um gleichzeitig eine internationale Sprachschule zu absolvieren. Sie freute sich auf eine stürmische Zeit. Trotzdem musste sie weinen, als sie von ihren Eltern, von Hebeisen und ihrer besten Freundin an einem frühen Sonntagmorgen an den Flughafen begleitet wurde. Zu Hause hatte sie sich während der Nacht mehrmals übergeben müssen. Sie trug Tennisschuhe, Jeans, eine modische Daunenjacke und eine Yankee-Mütze, als sie unter den Blicken ihrer Liebsten eincheckte. Beim letzten Kaffee in der Bye-Bye-Bar, als es kein Zurück mehr gab, kehrte endlich die Farbe wieder in ihr Gesicht, und sie begann sich auf den Flug und auf die erwachsene Herausforderung, die vor ihr lag, zu freuen. Tonia und Hebeisen umarmten sich lange und verabschiedeten sich schliesslich mit drei Wangenküssen. Dann verschwand sie in der Zollkontrolle. Von der Besucherterrasse aus verfolgten es die Zurückbleibenden mit, wie ihre Maschine, eine Boeing von American Airlines, eine Stunde später steil in die grauen Wolken hinaufstach. Die Mutter winkte. Hebeisen drückte Tonia in der kalten Morgenluft die Daumen und spürte im selben Augenblick, dass er sie insgeheim beneidete.
Wenige Tage später begann sein Studium.
Die Vorlesungen, die persönlichen Professorengespräche und die Atmosphäre unter den Studenten in der Klasse, während Seminaren und in der Mensa führten dazu, dass sich Hebeisen schon nach wenigen Tagen wohlfühlte im neuen Rhythmus, in den er sich deswegen einfinden musste. Die Bibliothek in der rechtswissenschaftlichen Fakultät avancierte schnell zu einem seiner Lieblingsorte. Sie war nach den Plänen des bekannten spanischen Architekten Santiago Calatrava erneuert worden. Der grosszügige Bau regte Hebeisen zu philosophischem Denken an. Wenn er sich darin aufhielt, dann tauchten vor seinem geistigen Auge stets die schwarzweissen Bibliothekszenen aus Wenders’ «Himmel über Berlin» auf. Von unten sieht der Mensch nichts ausser dem Himmel, stellte er nach jedem Eintreten fest. Von oben hingegen sieht er alles, dachte Hebeisen weiter, wenn er sich hinter einem der modernen Balkone jeweils niederliess, um in Konzentration sein Bücherstudium aufzunehmen: die Menschen auf allen sieben Levels, und es gibt keinen Himmel.
Jeden Morgen nahm er die Strassenbahn mit der Nummer neun.
Er lebte in einer kleinen Wohnung mit Fenster zum Kappelerhof und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zum oberen Teil der Bahnhofstrasse. Er wusste nicht, womit er es verdient hatte. Er hatte sich schriftlich um die günstigen und zentral gelegenen zwei Zimmer beworben, wobei er sich unter hunderten von Mitinteressenten gewähnt hatte. Ein Monat vor Studiumsanfang war ihm zur eigenen Überraschung der Mietvertrag zugegangen, und inzwischen hatte er das alte, gepflegte, aber unrenovierte Refugium mit einem Bett und einem Schreibtisch ausgestattet. Im Erker des Wohnzimmers stand ein geschmackvoller dunkler Fauteuil, den Hebeisen im Brockenhaus der Heilsarmee gekauft hatte. Seither genoss er das Stillleben, welches das Möbel jeden Morgen abgab, wenn er erwachte und es vom Apricot der Frühsonne gestreift wurde. Wenn es stark regnete, musste in der Kochnische ein blecherner Eimer untergestellt werden. In die Zimmertüren war blindes scheckiges Glas eingelassen. Im Bad konnte man sich an weiss verputzten Heizungsleitungen den Kopf stossen. Noch vor Hebeisens Einzug war auf dem schmalen kalten Korridor ein Bild von Albert Anker aufgehängt worden. Überall roch es nach Bienenwachs.
Hebeisen liebte den Ort.
An der Universität schloss er Freundschaft mit Sebastian. Der Mitstudent war im gleichen Alter wie Hebeisen, jedoch einen Kopf kleiner als er. Er trug gerne weisse Kleider. Seine Eloquenz und sein Humor rückten den Gutaussehenden überall in den Mittelpunkt, ohne dass er es wirklich suchte. Alles, was er tat, ob im Auditorium oder zwischen den Stunden, verriet ein hohes Mass an Intelligenz. Es war sonnenklar, dass er einmal ein erfolgreicher Anwalt werden würde. Es war seine Unabhängigkeit, die ihn dazu prädestinierte. Dazu gehörte, dass er sich in den Pausen gerne zurückzog, um alleine zu sein. Dann fläzte er sich jeweils auf einen Fenstersims, trank seinen Automatenkaffee und vertiefte sich in eine mitgebrachte Zeitung, in den «Spiegel» oder in den «Focus». Es war ein Verhalten, das sich mit jenem von Hebeisen deckte. Immer öfter traf es sich, dass sie in ihrem Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit dieselben Orte aufsuchten.
Die stille Bruderschaft im Geist sollte innert Kürze in eine konkrete Männerbeziehung münden.
Fast jede Woche tranken sie gemeinsam ein Bier im «Odeon», wobei sie sich von den Homosexuellen fernhielten, weil ihre Gegenwart Sebastian befing. Hebeisen musste feststellen, dass ihm sein Freund überlegen war, was ihn nicht störte, denn er fühlte sich bei ihm geborgen.
Sebastian mochte die Deutsche Mentalität. Er lebte bei seinen Eltern in Küsnacht, weshalb es sich ergeben sollte, dass er des Öfteren bei Hebeisen übernachtete. Hier rauchte er hie und da eine Zigarette. Obwohl es ihm selbst an nichts fehlte, beneidete er seinen Freund um dessen zentrale Wohnung und ums Bohemische, das sie ihm verlieh. Er fand, dass es Hebeisen hervorragend stand.
Sie besuchten Aufführungen im Schauspielhaus und Konzerte im Hallenstadion. Schliesslich sollte es sogar zu einem gemeinsamen Wochenende in Paris kommen, wohin sie im TGV verreisten. Sie besuchten das Moulin Rouge, liessen sich von den fliegenden Künstlern im Montmartre-Quartier porträtieren und erledigten getrennte Einkäufe in Les Halles. Am Vorabend ihrer Rückreise, beim Kaffee in der Sonne unterhalb von