Der Sklave. Jürg Brändli

Der Sklave - Jürg Brändli


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gebracht hätte, weil darin ein Ungleichgewicht an Verletzlichkeit drohte, das Amanda gegenüber Hebeisen in einen sozialen Nachteil versetzt hätte. So hätte sie bei Problemen im Alltag und im Falle einer unschönen Trennung viel grösseres Vertrauen in ihn setzen müssen als umgekehrt. Denkbar war aber auch ganz etwas anderes, nämlich dass Amanda in der Zwischenzeit zum Schluss gekommen war, dass es sich beim Ausflug ins Rotlicht um einen Fehler handelte, an den sie sich beim Sex nicht ein Leben lang erinnern lassen wollte.

      Das viele Nachdenken führte dazu, dass sich Hebeisen an einem der nächsten Tage nochmals auf den Weg in den Salon 77 machte, weil er fand, dass er es verdient hatte, einen zweiten Versuch zu unternehmen. Mehr noch: Er war es sich und Amanda ganz einfach schuldig.

      Als er sie antraf, war sie gerade erst angekommen. Sie trug enge Blue Jeans und einen karierten Hut und sah fantastisch aus. Dass er sie in derselben privaten Angelegenheit nochmals zu sprechen wünschte und bloss deswegen hergekommen war, irritierte sie. Es war der Moment, in dem Hebeisen klar wurde, dass Amanda zu den Menschen gehörte, die sich nicht allzu viel aus sich selbst machten. Er wiederholte sein Angebot, fügte diesmal aber an, dass Amanda selbstverständlich auf Diskretion bestehen könne. Wenn sie ihm ihren richtigen Namen oder ihre persönliche Telefonnummer erst verraten wolle, wenn sie miteinander einen Abend verbracht hätten, der zu ihrer Befriedigung ausgefallen sei, dann habe er dafür vollstes Verständnis. Er versicherte sie nochmals der Aufrichtigkeit seiner Gefühle. Indem er darauf hinwies, dass es in seinem Leben an anderen Angeboten nicht mangelte, machte er zudem klar, dass sein Interesse an einer Professionellen nicht irgendeiner Not entsprang. Es klang etwas ungeschickt. Ob es etwas gebe, fragte Hebeisen, das sie über ihn wissen wolle und das sie ihn bislang nicht zu fragen gewagt habe. Aber Amanda schüttelte den Kopf. Also habe er bei ihr tatsächlich keine Chance, stellte Hebeisen fest, wobei er einen geraden Mund machte. Daraufhin musste Amanda seufzen. Hebeisen ging ihr plötzlich nahe, und sie änderte ihre Meinung. Wenn ihm wirklich soviel daran liege, meinte sie, dann werde sie sich gerne von ihm einladen lassen. Sie verabredeten sich für einen der nächsten Abende zum Aperitif in der Stadt. Hebeisen, der erreicht hatte, was er wollte, verliess den Salon 77 voll Stolz und männlicher Freude

      Die beiden hatten ausgemacht, sich im «Boulevard» an der Talstrasse zu treffen, um erst dann zu entscheiden, wonach ihnen der kulinarische Sinn stand. Als Hebeisen dort eintraf, feierabendlich und frisch an der Bar einen Vodka Martini bestellte, sollte Amanda nicht erscheinen. Nicht nach zehn Minuten, nicht nach zwanzig, nicht nach einer halben Stunde. Er hatte ihre Telefonnummer nicht. Er kannte nicht ihren Namen.

      Enttäuscht und verletzt legte er sich selbenabends ins Bett.

      Er wollte kein schlechter Verlierer sein. Trotzdem entschloss er sich, Amanda am kommenden Wochenende zur Rede zu stellen.

      Als er nochmals ins Bordell ging, arbeitete sie bereits nicht mehr dort, und sie hatte die Anweisung gegeben, niemandem ihre Adresse mitzuteilen. Hebeisen wurde gefragt, ob er stattdessen mit einer anderen Dame aufs Zimmer gehen wolle, aber er lehnte ab und verliess stumm das Haus.

      Im Freien, wo es regnete, verpasste er den Bus. Daraufhin entschloss er sich zum einsamen Abendessen in einem chinesischen Restaurant, das er in der Nachbarschaft entdeckte. Dazu trank er mehr Bier als sonst.

      Er sass bereits wieder an der Kälte und wartete auf den Bus, als es ihn schliesslich überkam.

      Hebeisen musste weinen wie ein erwachsener Mann.

       1

      Ungerechtigkeit war etwas, das ihn immer beschäftigt hatte, schon als kleines Kind. Wahrscheinlich bestand sogar eine seiner ersten Lebenserfahrungen im Empfinden von Ungerechtigkeit, diesem lähmenden brennenden Schmerz, der sich früh mit seiner Sexualität verband und ihn fürs Leben prägen sollte. Er hatte eine Schwäche für die Schwachen. Er mochte es nicht, wenn Tiere gequält wurden. Er empfand eine Faszination für das unerträgliche Schicksal von Jesus, dem Gottessohn, der für den Rest der Menschheit am Kreuz gestorben war. Früh hatte es seine Beziehung zu Gott gestört, an den er deswegen irgendwann zu glauben aufgehört hatte. Er hatte Tom Sawyer bewundert, weil der in Mark Twains Erzählungen viel Schmerz in Kauf nahm, um die Mädchen vor den strafenden Lehrern zu beschützen, und geachtet hatte er immer auch dessen Kollegen Huckleberry Finn, weil der einen Schwarzen vor der Sklaverei bewahrte, indem er mit ihm auf dem Floss den Mississippi hinuntertrieb. «Der längste Tag» war ein Film, der ihn in der Seele demütigte. Er mochte es unerklärlicherweise, wenn in Römer- und Piratengeschichten Menschen ausgepeitscht wurden, aber er war nicht schwul. In der Bibelstunde, wohin ihn seine Eltern konsequent schickten, fand er Gefallen an der Geschichte mit Samson, dem sein Haar gestohlen wurde, und an der grausamen Salome, die den Kopf von Johannes, dem Täufer, forderte. Mückenstiche, die im Sommer seine Unterarme übermaserten, wurde er im Heimlichen nicht aufzureissen müde, bis sie im Herbst kleine dunkle Male bildeten. Wenn ihn die Mädchen an der Schule erniedrigten, zumal jene, die ihm gefielen, dann fühlte er sich jeweils ausser Stande sich zu wehren, was stets seine Unschuld erschütterte und ihn stark erregte. Die anderen Knaben misstrauten ihm, weil er schwächer war als sie und sich, um zu überleben, unmännlicher Spiesse bediente. Er glaubte an die weibliche Macht, und im Zweifelsfall war er mit seiner Mutter. Er wuchs auf im Schatten eines persönlichen Unheils, im Wissen um eine tödliche Achillesverse, von der die erwachsene Welt eine grössere Ahnung hatte als er selbst, weshalb Uneingeweihtsein seine Kinderseele marterte. Es trieb ihn in die Abhängigkeit von Älteren, die er hasste. Er litt unter Todessehnsucht. Es quälten ihn schwarze Gedanken. Christian Hebeisen war nie wirklich froh darüber gewesen, zur Welt gekommen zu sein.

       2

      Aufgewachsen war er in Rüti, in einer Industriegemeinde im Zürcher Oberland, wo die Familie Hebeisen im Haltbergquartier hinter dem Bahnhof ein grosses weisses Jugendstilhaus bewohnte, mit sandiger Zufahrt und beschattet von einem hohen dunkelgrünen Hain. Im Quartier gab es Fabrikantenvillen, Gewerkschaftsbüros, protestantische Freikirchen und ein paar provinzielle Night-Clubs. Am westlichen Ende genoss man die Aussicht auf die eindrückliche Bucht des Sulzer-Areals.

      Dort, im zehnstöckigen blauen Verwaltungshochhaus hinter der steilen Bogenrampe mit Zahnradgleis, belegte der gelernte Ingenieur Heinz Hebeisen ein Büro. Als leitender Angestellter bezog er einen guten Zahltag. Beim Vater von Christian handelte es sich um einen klassischen Vertreter seiner Generation. Er verfügte über ein verzweigtes privates Beziehungsnetz und pflegte viele Freundschaften, auch solche aus dem Militärdienst. Zeit seines Lebens fuhr er viel Eisenbahn. Jedes Jahr leistete er sich ein Generalabonnement für die erste Klasse. Er hatte kurzes, schneeweisses Haar und trug stets gestreifte Hemden. Er war sportlich gealtert.

      Heinz Hebeisen war verschlossen und zwanghaft. Jeden Morgen las er zu Hause den «Zürcher Oberländer» und in der Firma den «Blick». Er sprach mit einem eingetrockneten Weinen in der Stimme. Es handelte sich bei ihm um den steifen, unflexiblen Diskretionstyp, um den in Kindheit und Jugend brutalisierten Sensiblen letztlich, nämlich um den sogenannten Fascho, und damit ums typische Schweizerische Nachkriegsmodell. Über seinem Arbeitsplatz hing ein grosses Poster mit dem Matterhorn, Monika Kälin war eine Künstlerin, die er rundum bewunderte, und er war ein alter Fan des Fussballclubs Zürich. Seine Unterarme waren trocken und behaart, und er trug ein dünnes feminines Modell von Omega. Am Sonntag trank er seinen Milchkaffee aus einer grösseren Tasse als die restlichen Familienmitglieder, und in seinem Nachttisch, das erzählte er jedem, der es wissen wollte, lagerten seine Ordonanzpistole und zehn zugehörige Patronen. Heinz Hebeisen meinte, seine Familie damit vor gewalttätigen Einbrechern zu schützen. In Wahrheit verlieh es ihm die nötige Autorität nach innen.

      Christian Hebeisen hasste seinen Vater.

      Seit jeher schlug er eher nach der Mutter, nach Esther Hebeisen, wenn überhaupt, denn eigentlich glaubte bei Sohn Christian alle Welt an ein Kuckuckskind, so sehr tanzte er mit seinem introvertierten Wesen aus der Reihe.

      Esther Hebeisen war gelernte Detailhändlerin. Sie hatte kurzes, kupferrotes Haar und trug eine unauffällige Brille mit Goldrand. Sie gefiel sich in jugendlichen Miniröcken,


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