Sarah Penrose. Priska M. Thomas Braun
sie die Zusage für den Job.
«Es geht also doch», triumphierte sie, als sie Finlay ihren Entschluss mitteilte. «Mit guten Beziehungen findet man auch heute noch einen Job. Hannes hat mich vermittelt. Izzy Rothfuss ist Amerikanerin. Sie freut sich, in mir so schnell ein Englisch sprechendes Kindermädchen gefunden zu haben.»
Finlay hatte sie bloss schräg angeschaut, und zwar nicht unfreundlich, aber doch unmissverständlich ‘Kindermädchen’ gemurmelt.
Seit Mitte Januar betreute Sarah nun in Hannes’ Heimatort Fleckenbronn, diesem kulinarischen Sterne-Mekka, vier Kinder und lernte dabei Deutsch. Mit Hannes traf sie sich nur an den Wochenenden. Er lebte in der Schweiz und arbeitete in der Nähe von Basel als Textilingenieur, sodass die beiden ihre freien Tage mit Fahrradtouren abwechselnd bei ihm oder bei ihr verbrachten.
An jenem Apriltag, als Sarah keuchend die steile Strasse von Dornach nach Hochwald geradelt war, immer bemüht, Hannes’ Tempo mitzuhalten, hatte sie sich zum x-ten Mal gefragt, warum sie stets bestrebt war, es anderen Leuten recht zu machen. Zugegeben, Hannes’ guter Ruf und das Ansehen seiner Eltern öffneten ihr in Fleckenbronn viele Türen. Doch dafür hatte sie es sich nun mit Finlay verscherzt. Bis jetzt hatte er ihr jedenfalls keinen Brief und auch keine einzige, noch so kurze, E-Mail geschrieben.
‘Beleidigte Leberwurst’, dachte Sarah und wunderte sich über diesen Ausdruck, den sie kürzlich in ihrem Edelhotel aufgeschnappt hatte.
Sarah warf einen Blick auf die Uhr. Schon Viertel nach sieben. Sie sass in der kleinen, modern eingerichteten Küche, deren Induktionsherd und Backofen mit Dampfgarer nie gebraucht wurden. Im Kühlschrank standen nur Milch und Fruchtsäfte. Izzy Rothfuss trank hier morgens einen eiligen Kaffee aus der Kapselmaschine, und Rudi Rothfuss köpfte spätabends eine Flasche Wein aus dem Klimaschrank. Zu viel mehr wurde die Küche nicht benutzt.
Nun wartete Sarah noch auf die Brötchen, den Käse und die Salami aus der Hotelküche. Die Kinder blödelten. Jens, der Jüngste blies in seine Schokomilch. «Ich habe solchen Hunger», zwängelte er, während seine ältere Schwester Jessica mit ihren nackten Beinen baumelte und ihn mit den Zehenspitzen unermüdlich anstiess. Um acht begann die Schule.
Ich werde Mäxle und Mo mit ins Auto packen, erst Jessica in die Schule fahren und die Zwillinge danach im Kindergarten abliefern, beschloss Sarah. An den Rechtsverkehr hatte sie sich problemlos gewöhnt und steuerte ihren nicht ganz neuen SUV aus dem stattlichen Fahrzeugpark des Hotels recht flott durch den Ort. Aber mit den Kindern im Auto fuhr sie vorsichtiger. Die beiden mittleren Buben hiessen natürlich weder Mäxle noch Mo, sondern Max und Maurice. Doch Sarah und die Eltern riefen die aufgeweckten Zwillinge, ausser wenn es Schelte gab, liebevoll bei ihren Spitznamen.
Sarah hörte das Summen des Aufzugs. Endlich kam Karin, die Bedienung vom Restaurant mit den bestellten Sachen.
«Sorry, Sarah. Heute war die Hölle los am Frühstücksbuffet und Hanna ist krank. Ich habe es nicht früher geschafft.»
Sie murmelte: «Thanks. Is kain Problem», und Mäxle und Mo griffen mit ihren Fingern nach den Wurst- und Käsescheiben, anstatt wie Jessica die Gabel zu benützen. Sie wies die Kleinen kategorisch zurecht, da ausgerechnet jetzt die Mutter der Kinder auftauchte. Trotz der frühen Stunde war Izzy topp angezogen, das Haar hatte sie gekonnt zerzaust und das Augen-Make-Up vermittelte ihr einen Bambi-Look. Nur die Lippen waren blass.
Ungeschminkter Mund, damit sie ihre Sprösslinge, bevor wir das Haus verlassen, küssen kann, ohne Spuren zu hinterlassen, dachte Sarah. Sie selber machte sich bloss für den Ausgang zurecht. Jetzt lächelte sie ihrer attraktiven Chefin freundlich zu und ermahnte die Kinder, nicht zu trödeln.
Izzy Rothfuss-Jacobs war die Tochter des Inhabers einer grossen Hamburgerkette in den USA. Sie hatte den Hotelier Rudi Rothfuss knappe zehn Jahre zuvor an einer Tagung in New York kennengelernt, danach Urlaub im Schwarzwald gemacht, geheiratet und vier Kinder geboren. Wenn Sarah ehrlich war, beneidete sie Izzy ein bisschen, denn deren Leben schien ihr perfekt, hatte sie doch alles, was man sich wünschen konnte: Geld, Ansehen, eine grosse Familie und genug Personal, das ihr ein sorgenfreies Leben erlaubte. Auf die Idee, dass sich Izzy an die fremden örtlichen Gegebenheiten erst hatte gewöhnen und sich mit den allfälligen Macken ihres Mannes hatte arrangieren müssen, wäre Sarah in ihrer jugendlichen Naivität nie gekommen.
Sie freute sich wie an jedem Morgen, an dem das Wetter mitmachte, darauf, den Vormittag mit Jens auf dem Waldspielplatz zu verbringen und, sobald das Kind nicht mehr spielen wollte, zusammen Bäume zu umarmen und das blühende Dickicht des Waldbodens zu erkunden und nach Hasen, Rehen und Auerhähnen zu spähen. Ursprünglich habe der Schwarzwald aus Buchen und Tannen bestanden, die über die Jahre durch Fichten und Kiefern verdrängt wurden, hatte sie nachgelesen. Sie dachte an ihre Zugfahrt vom Flughafen Frankfurt nach Karlsruhe, an ihre Hoffnung, dass sie sich gut mit ihren Arbeitgebern verstehen würde und dass die Kinder gut erzogen waren. An ihr Herzklopfen, als sie später im überhitzten Abteil des Regionalzugs für eine Weile eingenickt war und plötzlich aufschreckte und meinte, den Bahnhof verpasst zu haben. Doch als sie auf die Uhr geblickt und realisiert hatte, dass sie erst in einer halben Stunde in Fleckenbronn ankommen würde, hatte sie fasziniert aus dem Fenster geschaut. Die märchenhafte Winterlandschaft, die sie erblickte, bestärkte ihre Vorahnung, dass sie sich hier, trotz der Vorbehalte ihres Onkels, wohl fühlen würde. Hoch und schlank, wie junge Bräute im Hochzeitskleid, hatten die Bäume die Bahnlinie gesäumt und sich später, als sie in ihrem Zimmer im Personalhaus die Koffer auspackte, in der tintenblauen Dämmerung vor ihrem Fenster, als gezackte Silhouetten vom orangen Westhimmel abgehoben. Sarah war vom ersten Moment an von der Schönheit der Natur überwältigt gewesen. Sie erinnerte sich noch genau, wie ihre Chefin Izzy sie ein paar Tage später zu einer Pferdeschlittenfahrt eingeladen hatte.
«Es ist zwar absolutely freezing. Das Thermometer hat in der Früh minus 18 Grad angezeigt», hatte Izzy, die gerne zeitig aufstand, an Sarahs erstem Sonntag im Schwarzwald gesagt. «Dazu kommt der Wind chill factor. Doch da die Sonne scheint, gehen wir trotz der Kälte raus. Die frische Luft wird uns und den Kindern gut tun. Rudi kommt nicht mit. Er muss heute im Restaurant nach dem Rechten sehen, denn unser Geschäftsleiter hat seinen freien Sonntag.»
Nach dem Mittagessen hatten Sarah und Izzy mit den in Daunenjacken verpackten Kindern unter Schichten von Wolldecken gesessen, die dicken Stiefel vergraben im Stroh, das der Kutscher in mehreren Schichten auf den hölzernen Boden gestreut hatte. Genau wie die Pferde, zwei Schwarzwälder Braune, so hauchten auch die Menschen weisse Dampfwolken aus. Sarah war froh um ihren Montgomery Dufflecoat und ihre Wollmütze, die sie sich über die Ohren ziehen konnte. Trotzdem reichte ihr Izzy, die einen karamellfarbenen Lammfellmantel trug, ein Halstuch aus feinster Kaschmirwolle und gebot ihr, sich dieses gleich mehrmals um den Kopf zu schlingen. «Keine Sorge, ich habe ein zweites mit, damit keine von uns beiden frieren muss.»
Tatsächlich hatte Sarah einen unvergesslichen Tag erlebt und – nach rasanter Fahrt durch tief verschneite Wälder und über eine gefrorene Hochebene – bei Kaffee und Schnaps, und heisser Schokolade und Kuchen für die Kinder, erstmals die Grosszügigkeit ihrer Arbeitgeberin erfahren.
Sarah hatte sich überglücklich gefühlt, diesen tollen Job mit einer ebenso tollen Chefin ergattert zu haben.
Jetzt, Mitte Juni, war purer Sonnenschein prognostiziert, mit Gewittern, die sich, wenn überhaupt, erst gegen Abend entladen würden. Sarah konnte sich die bittere Januarkälte im Schwarzwald kaum mehr vorstellen. Längst sassen keine Schneebäuschchen mehr auf den Tannen und Gartenzäunen. Im Sommer sorgten weisse Pelargonien für helle Tupfer in den Blumenkästen am Balkongeländer und auf der Brüstung der Sonnenterasse des Tannwald, das sich dadurch von den Hausfassaden im Dorf abhob. Gewöhnlich sah man im Schwarzwald rote und rosarote Geranien, doch Izzy liebte weisse Blumen.
Heute wollte Sarah mit Jens Waldkräuter sammeln, diese später für Jessicas Album pressen und deren Namen, Verwendungszwecke und Heilkräfte gelegentlich in ihrem botanischen Lehrbuch nachschlagen. Obwohl sie Nässe und Wind von Cornwall her gewohnt war und dies auch bei schlechtem Wetter getan hätte, musste sie sich dann für Jens etwas anderes einfallen