Unser Kosmos. Andere Welten.. Ann Druyan
Viren die kambrische Explosion aus? Wir betrachten sie immer als Nemesis des Lebens, aber so schlecht sind sie nicht. Viren tendieren zur Schlamperei. Vielleicht ließen sie auf ihrer Reise von Wirt zu Wirt DNS-Stückchen zurück, und einige der Wirte veränderten sich durch die abgelegte DNS auf eine Weise, die im Hinblick auf ihre Umwelt günstig war.
Die beispiellose Artenvielfalt, die im Kambrium beginnt, könnte auch das Ergebnis aller dieser Theorien sein oder von Ursachen, die wir noch nicht kennen. Warum auch immer: Das Leben besaß Kraft genug, um sich aus jedem Gefängnis der Erde zu befreien. Und Hunderte Millionen Jahre nach der kambrischen Explosion wird der Tag kommen, an dem es sogar der Erde entkommt. Das Leben lässt sich nicht einschließen.
DIE SPUR DES LEBENS zu seinen Ursprüngen zurückzuverfolgen, erforderte eine neue Art von überdisziplinärer Wissenschaft. Der Mann, dem wir sie verdanken, floh vor den unerbittlichsten Mördern der Geschichte und verspottete sie auf Schritt und Tritt.
Victor Moritz Goldschmidt war so brillant, dass ihm die Universität Oslo 1909 mit 21 Jahren eine Stelle anbot, ohne dass er einen Abschluss hatte. Drei Jahre später erhielt er den Fridtjof-Nansen-Preis, die höchste wissenschaftliche Auszeichnung Norwegens.
Als einer der ersten Forscher betrachtete er die Erde als System. Er wusste, dass es, um ein Gesamtbild zu erhalten, nicht genügte, sich nur in Physik, Chemie oder Geologie auszukennen. Das war in der Anfangszeit der Erforschung der Elemente, bevor man die instabilen Elemente im Periodensystem jenseits des Urans, die Transurane, kannte.
Im 19. Jahrhundert machte die Chemie große Fortschritte im Verständnis der Natur und der Eigenschaften der Chemikalien. Die Chemiker waren überzeugt davon, dass die Grundelemente aus unteilbaren Atomen bestehen. Verschiedene Atome haben verschiedene chemische Eigenschaften, und wenn sie miteinander reagieren und Moleküle bilden, entsteht diese verblüffende Vielfalt an Substanzen in der Welt – Luft, Wasser, Metalle, Mineralien, Proteine. Einige Moleküle, wie Wasser, sind sehr einfach. Andere, wie Proteine, aus denen das Leben aufgebaut ist, sind unglaublich komplex und umfassen manchmal Millionen von Atomen. Aber jeder Stoff im Kosmos ist letztendlich nur aus einigen Dutzend, in unterschiedlicher Weise und Zahl kombinierten Grundelementen aufgebaut.
In den 1860er-Jahren entdeckte der russische Chemiker Dmitri Mendelejew bei der Suche nach einer Systematik der Elemente, dass sich durch ihre chemischen Eigenschaften (Reaktivität, Entflammbarkeit, Toxizität und so weiter) natürliche Achtergruppen ergeben, wenn man die Elemente nach dem zunehmenden Atomgewicht anordnet. Doch wenn man diese Gruppen in einer Tabelle anordnete, gab es Zeilen mit Lücken. Mendelejew vermutete, dass die Elemente für diese Lücken noch nicht entdeckt waren, und sagte die chemischen Eigenschaften einiger von ihnen richtig voraus.
Dmitri Mendelejew arbeitete fortwährend an verbesserten Tabellen des Periodensystems. Sein Ausgangspunkt war diese Notiz vom Februar des Jahres 1869. Damit schuf er ein erstaunlich tragfähiges System zum Verständnis der Materie.
Goldschmidt nutzte diese neue Erkenntnis, um sein eigenes, noch heute angewendetes Periodensystem zu erstellen. Damit konnte er erkennen, wie Kristalle und komplexe Mineralien aus grundlegenden Elementen aufgebaut sein könnten. Sein erweitertes Periodensystem erhellte, wie diese Elemente einige der majestätischsten geologischen Strukturen der Erde bilden, den Himalaya, die weißen Klippen von Dover, den Grand Canyon. Goldschmidt entdeckte die Fundamente der Geochemie und erkannte, wie sich die Materie in den Bergen entwickelte.
1929 traf er eine fatale Entscheidung und nahm einen Ruf an die Universität Göttingen an, die extra für ihn ein neues Institut einrichtete. Er soll dort seine glücklichsten Jahre verbracht haben, bis 1933 Adolf Hitler an die Macht kam. Goldschmidt war Jude, aber nicht religiös. Hitler änderte für ihn alles. Goldschmidt erklärte sich mit der örtlichen jüdischen Gemeinde öffentlich solidarisch. Als die Nationalsozialisten eine Ahnennachweispflicht einführten, erklärte Goldschmidt im Gegensatz zu vielen anderen auf seinem Formular stolz, dass seine sämtlichen Vorfahren Juden waren. Hitler und Hermann Göring, der Gründer der Gestapo, teilten ihm 1935 persönlich in einem Brief seine fristlose Entlassung mit. Der Forscher rettete sich nach Norwegen, nur mit den Kleidern am Leib.
Goldschmidt konzentrierte sich in seiner Forschung auf Olivin, jenes grüne Mineral, das schon bei der Ausbildung des Sonnensystems entstanden war. Es hielt höchsten Temperaturen stand, und Goldschmidt vermutete als Erster, dass es beim Ursprung des Lebens eine Rolle gespielt haben könnte. Hochreinen Olivin nennt man Peridot, er wird poliert und als Schmuck eingefasst. Goldschmidt fand neue Anwendungen dafür, etwa um Schmelz- und Brennöfen auszukleiden. Spätere Generationen erkannten, dass die Hitzefestigkeit auch für Atomreaktoren und Raketen ideal war.
An der Entstehung und chemischen Evolution des Lebens hatte Olivin vermutlich einen entscheidenden Anteil.
Goldschmidt fragte sich aber auch, ob es Olivin überall im Kosmos gibt. Das war der Anfang der sogenannten Kosmochemie. Doch für ihn bekam eine traditionellere Form der Chemie viel größere Dringlichkeit. Am Vorabend der Invasion Norwegens durch die Nazis zog er Schutzkleidung an und fertigte sich Zyanidkapseln an. Er trug sie versteckt mit sich herum, damit er sich umbringen konnte, falls die Gestapo ihn abholen würde. Als ihn ein Kollege fragte, ob er auch eine haben könnte, antwortete Goldschmidt: »Gift ist nur für Chemieprofessoren. Sie als Physiker werden ein Seil benutzen müssen.«
1942 hämmerte die SS mitten in der Nacht an seine Tür. Goldschmidt steckte das Zyanid in seine Tasche. Er wurde zuerst in das Konzentrationslager Berg gebracht, eine Zwischenstation auf dem Weg nach Auschwitz, ein Ort, der – wie er Freunden mit schwarzem Humor erklärte – »nicht sehr empfohlen wurde«. Blass und ausgemergelt wartete er als einer von 1000 Juden am Pier, um deportiert zu werden, als ihn ein Trupp Soldaten aus der Reihe holte. Als sie sich näherten, spielte er mit der kleinen blauen Kapsel in seiner Tasche. Doch er entschied sich zu warten; es würden sich weitere Gelegenheiten ergeben, die Giftkapsel zu nehmen.
Goldschmidt war den Nazis als Wissenschaftler zu wichtig, um ihn zu töten. Man schlug ihm vor, außerhalb des Lagers wohnen zu können, wenn er seine Wissenschaft in den Dienst des Reiches stellte. Goldschmidt ergriff die Chance und nutzte den Vorteil, den er gegenüber seinen Entführern hatte – sein Wissen. Er spielte mit ihnen. Er sandte ganze Abteilungen auf die fruchtlose Suche nach nicht existierenden Mineralien und ließ sie glauben, dass diese kriegsentscheidende Rohstoffe seien. Wäre die List durchschaut worden, hätte das seinen sicheren Tod bedeutet.
Ende 1942 wusste die norwegische Widerstandsbewegung, dass Goldschmidt in ernster Gefahr war, und organisierte seine Flucht nach Schweden. Den Rest des Krieges verbrachte er in Schweden und später in England, wo er für die Alliierten arbeitete. Seine Gesundheit erholte sich nie von den Kriegsstrapazen. Victor Goldschmidt starb 1947. Gegen Ende seines Lebens schrieb er eine Arbeit über komplexe organische Moleküle, die seiner Meinung nach zum Ursprung des Lebens auf der Erde führten. Diese Thesen sind bis heute für unser Verständnis davon, wie Leben entstand, zentral. Goldschmidt erfuhr nie, dass die nachfolgenden Generationen von Geochemikern ihn als Gründer dieses Faches betrachteten.
Sein letzter Wunsch enthielt eine einfache Bitte: Er wollte verbrannt werden und die Urne sollte aus dem Material bestehen, den er für den Stoff des Lebens hielt – sein geliebter Olivin.
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