Unser Kosmos. Andere Welten.. Ann Druyan
der Unterwassertürme. Die Moleküle bestanden aus Atomen, so wie alles – auch wir. Inmitten der verstreuten organischen Moleküle flitzten leuchtende Energiepunkte umher, die Protonen.
Nur Energie konnte die leblosen Moleküle beleben. Diese kam aus der Reaktion des alkalischen Wassers, das in den Türmen eingeschlossen war, mit dem sauren Wasser des Ozeans. Man vermutet, dass dieser Prozess die ersten selbstreproduzierenden Moleküle antrieb, die Vorläufer der RNS- und DNS-Moleküle. An den inneren Wänden der Poren lagerten sich weitere kleine Moleküle an. Diese Vorgänger der Lipide bildeten die ersten Zellmembranen. Im Laufe der Zeit lösten sich die hydrothermalen Türme mit den zahllosen Poren auf. Doch die komplexen Moleküle – die ersten Zellen der Erde – blieben intakt. Sie entwickelten sich zu fortpflanzungsfähigen Mikroben.
Diese Vision vom Ursprung des Lebens ist der plausibelste Schöpfungsmythos der Wissenschaft, den wir bis heute haben. Die Hypothese führt die lange getrennten Disziplinen Biologie, Chemie, Physik und Geologie zusammen.
EINIGE FORSCHER MEINEN, dass sich das Leben zuerst in den Felsen festsetzte. Aber das Leben wollte vom ersten Tag an ausbrechen und neue Welten erobern. Nicht einmal der große Ozean konnte es zügeln. Als das Leben entstand, sah der Planet völlig anders aus als heute. Ein Meer bedeckte fast die ganze Erdoberfläche. Eisen färbte das Wasser rot, der Himmel war ein gelboranger Nebel und nicht blau. Die Umlaufbahn des Mondes lag noch näher an der Erde. Die Atmosphäre war ein Kohlenwasserstoffsmog. Es gab keinen Sauerstoff und nichts, was ihn atmen wollte. Purpurrote Vulkankrater bildeten das Land. Das Leben gestaltete die Welt, das Meer und den Himmel neu. Aber es handelte nicht immer im eigenen Interesse. Eines Tages hätte es sich fast selbst vernichtet.
Um Zeuge einer der katastrophalsten Epochen der Erdgeschichte zu werden, gehen wir im Kosmischen Kalender zurück. In unserer Ecke des Universums geschah nicht viel, bis etwa drei Milliarden Jahre nach dem Anfang der Zeit. Erst am 15. März begann sich unsere Galaxie herauszubilden und erst am letzten Augusttag, sechs Milliarden Jahre später, zündete unsere Sonne. Gleich danach formten sich der Jupiter und die anderen Planeten. Nur drei Wochen darauf, am 21. September, begann vermutlich in diesen kleinen Winkeln und Rissen auf dem Meeresboden das Leben. In den folgenden drei Wochen der kosmischen Zeit wuchsen immer mehr Vulkane aus dem Meer und ihre Eruptionen schufen die Landmasse.
Wir verstehen erst seit Kurzem, wie stark das Leben den Planeten gestaltete. Dabei fallen uns zuerst die grünen Weiten der Wälder und die sich ausbreitenden Städte ein. Aber das Leben verwandelte den Planeten lange vorher. Eine Milliarde Jahre, nachdem dieser winzige Funke am Meeresboden zündete, war das Leben bereits ein globales Phänomen. Das verdankt es Vorkämpfern, die noch immer existieren: den Cyanobakterien.
Die Cyanobakterien sind seit 2,7 Milliarden Jahren im Geschäft und fühlen sich überall wohl, in Süß- oder Salzwasser, heißen Quellen oder Salzgruben. Sie sind Alchemisten. Sie beherrschen, wozu wir trotz aller Wissenschaft und Technik nicht in der Lage sind: Sie verwandeln Sonnenlicht in Zucker, produzieren durch Fotosynthese ihre eigene Nahrung.
In den nächsten 400 Millionen Jahren färbten die Cyanobakterien den Himmel langsam blau, indem sie Kohlendioxid aufnahmen und Sauerstoff abgaben. Sie verwandelten nicht nur Himmel und Meer, sie drangen auch in die Felsen ein und veränderten sie. Sauerstoff wirkt zersetzend. Das Land verrostete, der Sauerstoff der Cyanobakterien wirkte auf die Mineralien wie ein Zaubermittel. Von den 5000 Mineralien der Erde entstanden etwa 3500 durch den vom Leben erzeugten Sauerstoff.
Die Erde gehörte einst den Cyanobakterien. Diese winzigen Einzeller waren die dominante Lebensform. Wo immer sie hinkamen, zerstörten und veränderten sie die Landschaft, das Wasser und den Himmel. Das war vor 2,3 Milliarden Jahren, im späten Oktober des Kosmischen Kalenders. Die Cyanobakterien teilten sich damals den Planeten mit anaeroben Lebensformen, die sich schon entwickelt hatten, bevor die Cyanobakterien die Erde mit Sauerstoff verschmutzten. Für sie war Sauerstoff Gift, doch die Cyanobakterien hörten nicht auf, die Atmosphäre damit anzureichern. Das war für die Anaerobier und fast alles andere Leben auf der Erde verheerend. Die Cyanobakterien verursachten die Große Sauerstoffkatastrophe. Von den Anaerobiern überlebten nur die, die zum Meeresboden flohen, tief in das Sediment, wo sie der Sauerstoff nicht erreichte.
Erinnern wir uns an die serpentinisierten Felsen am Meeresboden, die Wasserstoff und Methan ausströmen. Methan ist ein starkes Treibhausgas und war damals der wichtigste Faktor, der den Planeten warm hielt. Auch hier brachte der Sauerstoff alles durcheinander. Er oxidierte das Methan und heraus kam Kohlendioxid, ein viel schwächeres Treibhausgas. Das bedeutete, dass die Erde abkühlte und das grüne Leben auf dem Land zu sterben begann.
Im Zentrum der Grand Prismatic Spring im Yellowstone-Gebiet existiert kein Leben, daher ist das 71 °C heiße Wasser himmelblau. Ein Biofilm aus Mikroben in intensiven gelben und orangen Farbtönen fasst die heiße Quelle ein.
Im Burgess-Schiefer in den kanadischen Rocky Mountains ist eine Unzahl an Lebewesen aus der Zeit der kambrischen Explosion vor etwa 500 Millionen Jahren versteinert. V. L. N. R.: Trilobit (Pagetia bootes), Armfüßer (Micromitra burgessensis), Weichtier (Eldonia ludwigii) und Gliederfüßer (Molaria spinifera).
Die polaren Eiskappen dehnten sich aus und bedeckten den gesamten Planeten, bis die Erde ein überfrorener Ball war, umhüllt von Schnee und Eis. Die Cyanobakterien als dominante Lebensform des Planeten vernichteten sich fast selbst. Ein ernüchternder Gedanke für alle, die diese ökologische Nische heute besetzen.
VOR ETWA 2,2 MILLIARDEN JAHREN gab es den ersten globalen Winter. Er dauerte einige 100 Millionen Jahre, vom 2. bis zum 6. November des Kosmischen Kalenders, bis gewaltige Vulkanausbrüche das Eis durchbrachen und sich die Lava über die Oberfläche ergoss. Der Entfesselungskünstler Leben konnte sich aus dem eisigen Griff des Todes befreien. Das Eis zog sich zu den Polen zurück.
Die toten Cyanobakterien hinterließen ein planetenweites Reservoir an Kohlendioxid. Die Vulkanausbrüche schleuderten es in die Atmosphäre, was den Planeten erwärmte und das Eis schmelzen ließ. In der folgenden Jahrmilliarde setzten Leben und Gestein ihre komplizierte Beziehung fort und eroberten den Planeten ungeachtet von Eis- und Warmzeiten.
Dann, vor 540 Millionen Jahren, am 17. Dezember des Kosmischen Kalenders, geschah etwas Wundervolles. Der Himmel war blau und aus dem Ozean erhoben sich zwei große Kontinente und einige Inselketten. Das Leben, das bis dahin aus Mikroben und einfachen Vielzellern bestand, startete plötzlich durch. In der kambrischen Explosion entwickelten sich Beine, Augen, Kiemen und Zähne. Die Artenvielfalt nahm rasend schnell zu. Unzählige Kriechtiere breiteten sich auf dem Planeten aus: gepanzerte Trilobiten; Vetulicolia, muschelähnliche Kreaturen mit Kiemen; Hallucigenia, kopflose Würmer mit Stacheln; und viele andere.
Wir wissen nicht, was es dem Leben erlaubte, schlagartig so eine Vielfalt auszubilden, doch es gibt einige plausible Theorien. Durch die Vulkanausbrüche war der Calciumgehalt im Meer sehr hoch, und das Leben fand mithilfe des Gesteins einen Weg, sich ein Rückgrat und eine Schale zuzulegen. Mit diesem Panzer konnte es nun stärker wachsen und auf unbewohnte Gebiete vordringen – das Land.
Oder die Vielfalt entstand aufgrund des Schutzschildes der Cyanobakterien. Mit dem Sauerstoff in der Atmosphäre bildete sich die Ozonschicht, wodurch das Leben das sichere Meer verlassen und das Land besiedeln konnte, ohne von den Ultraviolettstrahlen der Sonne gegrillt zu werden. Milliarden Jahre lang dümpelte das Leben nur vor sich hin, nun begann es zu schwimmen, zu laufen, zu hüpfen und zu fliegen.
Oder es kam zu einer Art evolutionärem Wettrüsten zwischen konkurrierenden Lebensformen. Eine Art wie der Anomalocaris, eine gigantische gepanzerte Garnele, bekam lange Greifer, mit denen sie ihre Beute, die Trilobiten, umdrehte, um an ihre verwundbare Stelle zu kommen. Das funktionierte, bis die Trilobiten eine gegliederte Schale entwickelten,