Unser Kosmos. Andere Welten.. Ann Druyan

Unser Kosmos. Andere Welten. - Ann Druyan


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halten.

      Man stelle sich diesen spannungsgeladenen Frühlingsabend 1939 vor. Wenige Monate später marschierten deutsche Truppen in Polen ein und entfesselten den Zweiten Weltkrieg, den furchtbarsten Aderlass der Menschheitsgeschichte. Der fünfjährige Carl Sagan bekam weder Eis noch Souvenirs, weil seine Eltern wie so viele andere noch immer mit den Folgen der schlimmsten Wirtschaftskrise der Geschichte kämpften. In Deutschland, wo man während der Hyperinflation 1923 eine Schubkarre benötigt hatte, um das Papiergeld für einen Laib Brot zu transportieren, wandte sich die Bevölkerung einem chauvinistischen Demagogen zu. Dennoch strömten trotz der düsteren Vorzeichen die Menschen in New York in Massen herbei, um die Zukunft zu feiern, vielleicht sogar, um ihr zu huldigen.

      Bei Sonnenuntergang trat Einstein ans Mikrofon. Im Monat zuvor war er 60 Jahre alt geworden. Der berühmte Forscher genoss seit Jahrzehnten Verehrung wegen seiner fundamental neuen physikalischen Entdeckungen.

      Seit 2400 Jahren, seit dem griechischen Genie Demokrit, formulierte die Wissenschaft Theorien über unsichtbare Materieeinheiten, die sogenannten »Atome«. Nie war es jemandem gelungen, ihre Existenz zu belegen. Mit 25 lieferte Einstein den ersten sicheren Beweis für Atome und ihre Verbindungen, die Moleküle, und maß sogar ihre Größe. Er lehnte die vorherrschende Lichttheorie ab und propagierte, das Licht bewege sich in Teilchen fort, den Photonen. Ferner lieferte er die Grundlage für die Quantenmechanik und erweiterte die Grenzen der klassischen Physik, als er die Energie der ruhenden Partikel entdeckte.

      Seine Erkenntnis, dass die Gravitation Licht beugt, fasste Einstein in eine Formel, die die berühmteste aller wissenschaftlich-mathematischen Gleichungen ist. Er hob das universelle Gravitationsgesetz Newtons auf eine neue Ebene, indem er es als Eigenschaft der Raumzeit verstand. Das war das Tor zur modernen Astrophysik und zur Erforschung der dunkelsten Orte des Universums, in denen das Licht durch die Gravitation gefangen ist.

      Einstein begann zu sprechen. Seine Ansprache verfolgten neben den Besuchern der Ausstellung viele weitere Zuhörer in den Vereinigten Staaten und der Welt am Radio. Er erzählte von Victor Hess, dem österreichischen Physiker, der die Kosmische Strahlung entdeckte, als er zwischen 1911 und 1913 Ballonfahrten in großen Höhen unternahm. Einstein nutzte einige der 700 zugestandenen Worte, um an Hess’ Herkunft als Einwanderer zu erinnern, »der, nebenbei bemerkt, wie so viele andere vor Kurzem in diesem gastfreundlichen Land Zuflucht suchen musste«. Er erklärte, was die Wissenschaft über die Kosmische Strahlung wusste, und schloss mit der Vermutung, dass sie den Schlüssel zur »innersten Struktur der Materie« liefern könnte.

      Die Stimme eines Ansagers schallte durch die Nacht: »Wir werden nun diese interplanetaren Botschafter rufen, um die Welt von morgen zu erhellen. Der erste Strahl, den wir einfangen werden, ist noch fünf Millionen Meilen entfernt und reist mit einer Geschwindigkeit von 186 000 Meilen pro Sekunde zu uns.« Das Auftreffen jedes kosmischen Strahls an den Geigerzählern wurde mitgezählt. Nach dem zehnten Mal legte Einstein den Schalter um – und einige Leuchten brannten durch. Es war trotzdem ein großartiges Erlebnis. Der Weg in die Zukunft stand offen.

      Am nächsten Tag berichtete die New York Times, dass aufgrund von Einsteins starkem Akzent und der unzureichenden Verstärkeranlage die Anwesenden kaum mehr als die Eröffnungsworte seiner Rede verstanden hatten: »Wenn die Wissenschaft, wie die Kunst, ihre Mission wahrhaftig und vollständig erfüllt, müssen ihre Errungenschaften nicht nur oberflächlich, sondern in ihrer vollen Bedeutung in das Bewusstsein der Menschen eindringen.«

      

      Die wohl angesehenste Geistesgröße des Planeten eröffnet die Weltausstellung 1939 in New York mit einer Aufforderung an die Wissenschaft.

      Dies könnte auch als Motto über Unser Kosmos stehen. Als ich auf YouTube auf diese kaum bekannten Worte Einsteins in dieser Eröffnungsnacht stieß, wirkten sie wie das Credo für die Arbeit von 40 Jahren. Einstein drängte uns, die Barrieren zur Wissenschaft niederzureißen, die viele ausschlossen und abschreckten, und die wissenschaftlichen Erkenntnisse vom technischen Jargon ihrer Hohepriester zu befreien und allgemein verständlich zu fassen, damit wir sie verinnerlichen und uns durch die Begegnung mit den Wundern verändern können, die sie enthüllen.

      Während der gemeinsamen Arbeit an der interstellaren Botschaft für die beiden Voyager-Sonden der NASA 1977 verliebten Carl Sagan und ich uns. Carl war damals schon ein gefeierter Astrophysiker und einer der Hauptexperten für die Erkundungsmissionen der Voyager-Sonden. Wir hatten bereits bei einem Fernsehprojekt zusammengearbeitet. Deshalb engagierte Carl mich als Kreativdirektorin für jene Botschaft, die als Golden Record bekannt werden sollte.

      

      Die Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2 der NASA tragen eine vielschichtige interstellare Botschaft in die Milchstraße und fünf Milliarden Jahre in die Zukunft hinein. Die Darstellungen auf der Hülle sind wissenschaftliche Hieroglyphen, die unsere kosmische »Adresse« und Anleitungen zum Abspielen der Platte zeigen.

      Carl hatte die Idee, dass Voyager 1 ein Bild von unserer Welt vermitteln sollte, nachdem die Sonde ihre Erkundungsmission beendet und ein letztes Bild von Neptun gesendet hatte. Jahrelang kämpfte er bei der NASA gegen Zweifel am wissenschaftlichen Wert dieser Aktion, während er von ihrer durchschlagenden Wirkung überzeugt war. Als sich Voyager 1 hoch über der Bahnebene unseres Sonnensystems befand, gab die NASA nach. Auf den Fotos, die dabei für das Familienalbum der Welten unseres Sonnensystems entstanden, ist unsere Erde so klein, dass man sich anstrengen muss, um sie zu finden.

      Das Bild »Pale Blue Dot« und Carls prosaische Betrachtungen darüber sind seither Allgemeingut. Für mich erfüllte es die Hoffnungen, die Einstein in die Wissenschaft gesetzt hatte. Wir vermochten ein Raumfahrzeug vier Milliarden Kilometer weit zu entsenden, das uns ein Bild von der Erde schickte. Unsere Welt als einzelnen Punkt in der unermesslichen Dunkelheit zu sehen, sagt alles über unsere wahre Lage im Kosmos aus, und das begreift jeder einzelne Mensch sofort. Ein akademischer Grad ist dafür nicht nötig. Dieses Foto erhellt schlagartig die verborgene Bedeutung von vier Jahrhunderten astronomischer Forschung. Es ist wissenschaftliches Faktum und Kunst zugleich, es spricht unsere Seele an und verändert unser Bewusstsein. Das Foto ist wie ein bedeutendes Buch, Film oder Kunstwerk. Es lässt uns etwas von der Realität erahnen – eine Realität, von der manche unter uns lange nichts wissen wollten.

      Eine so winzige Welt kann unmöglich das Zentrum des Kosmos sein, geschweige denn im Fokus ihres Schöpfers stehen. Der hellblaue Punkt ist eine stille Mahnung an die Fundamentalisten, die Nationalisten, die Militaristen, die Umweltverschmutzer – an jeden, der den Schutz unseres Planeten und des Lebens darauf in dieser weiten kalten Dunkelheit nicht über alles andere stellt. Der Botschaft dieser wissenschaftlichen Leistung kann man sich nicht entziehen.

      Als ich mit Carl und dem Astronomen Steven Soter 1980 anfing, das Drehbuch der ersten Serie zu schreiben, kannten wir das Einstein-Zitat von 1939 nicht. Wir fühlten uns nur dazu berufen, die ungeheure Macht der Wissenschaft zu teilen, den geistigen Reiz zu vermitteln, den das Universum offenbart, und so die Warnungen von Carl, Steven und anderen vor den Folgen unserer Lebensweise für den Planeten zu verstärken. Unser Kosmos gab diesen Prophezeiungen eine Stimme, durchdrungen von Hoffnung und Selbstachtung, die auf dem Erfolg beruhten, unseren Weg im Universum zu finden, und auf dem Mut der Wissenschaftler, unpopuläre Wahrheiten auszusprechen.

      Die erste preisgekrönte Staffel und das Buch Unser Kosmos von 1980 fanden ein weltweites Millionenpublikum. Der Washingtoner Library of Congress zufolge ist es eines von »88 Büchern, die Amerika prägten« und steht damit auf demselben Rang wie Common Sense von Thomas Paine, die Federalist Papers von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay, Moby-Dick von Herman Melville, Grashalme von Walt Whitman, Der unsichtbare Mann von Ralph Ellison und Der stumme Frühling von Rachel Carson.

      

      Ann Druyan und Carl Sagan 1980, während der Produktion von Unser Kosmos in Los Angeles.

      Ein Dutzend Jahre nach Carls Tod übernahm ich mit einem gewissen Unbehagen die Aufgabe,


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