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Wort »Heimat« bekam wohl eine neue Bedeutung. Lag sie zuvor dort, wo wir gerade wanderten, verband sich nun ein bestimmter Ort damit. Mit der Zeit wuchsen die Siedlungen, bis etwa 20 kosmische Sekunden vor Mitternacht der nächste Sprung erfolgte.

      Willkommen in einer der ersten Städte: Çatalhöyük, eine Siedlung in der anatolischen Hochebene der heutigen Türkei. Ein Tag vor 9000 Jahren, es ist Abend und jeder ist zu Hause. In dieser Nacht leben in dieser Urstadt etwa so viele Menschen wie einst in ganz Afrika. Çatalhöyük besteht aus festen Wohnhäusern und ist fast 20 Fußballfelder groß. In den 90 000 Jahren, seit die Menschen in der Blombos-Höhle erste chemische Versuche unternahmen, hat sich einiges verändert.

      

      In den Ruinen von Çatalhöyük wurden weibliche Statuetten, einige stehende und einige sitzende wie diese, gefunden. Manche Archäologen erkennen darin Fruchtbarkeitsgöttinnen, andere meinen, dass damit ältere Frauen der Gemeinschaft geehrt wurden.

      

      Eine künstlerische Darstellung der Urstadt Çatalhöyük vor etwa 9000 Jahren. Noch gab es keine Straßen oder Haustüren.

      Die Stadt ist noch so neu, dass es keine Straßen gibt – oder Haustüren. Der einzige Weg in die Wohnung führt über das Dach des Nachbarn. Über eine Leiter betritt man durch die Dachluke die eigene Behausung.

      In Çatalhöyük fehlt noch etwas: Es gibt keinen Palast. Den bitteren Preis der Ungleichheit für die Erfindung der Landwirtschaft muss die menschliche Gesellschaft erst noch bezahlen. Hier gibt es keine Dominanz der Wenigen über die Vielen. Es gibt nicht das eine Prozent, das Reichtum anhäuft, während die meisten anderen nur überleben oder nicht einmal das. Das Ethos des Teilens ist hier lebendig. Es gibt Hinweise auf Gewalt gegen Frauen und Kinder, aber die Schwächsten essen das Gleiche wie die Stärksten. Wissenschaftliche Analysen der Ernährung der hier lebenden Frauen, Männer und Kinder zeigen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit. Die Häuser gleichen sich, ohne farblos zu sein. Den Raum dominiert ein riesiger Auerochsenkopf mit spitzen Hörnern, der an der reich bemalten Wand hängt. Die Mauern sind mit Zähnen, Knochen und Tierfellen geschmückt.

      Die Wohnungen in Çatalhöyük wirken ausgesprochen modern. Der einheitliche Grundriss ist höchst zweckmäßig und modular. Es gibt Nischen für Arbeit, Essen, Unterhaltung und Schlafen. Holzbalken tragen die Decke. Hier leben Großfamilien mit sieben bis zehn Menschen.

      Der Ocker, den unsere Vorfahren 100 000 Jahre zuvor in Afrika entdeckten, dient in Çatalhöyük zur Ausschmückung der Innenräume, für Wandgemälde mit Auerochsen, Leoparden, einem Läufer, Geiern, die Fleisch aus einem kopflosen Kadaver reißen, und Jägern, die einem Hirsch nachstellen. Auch bei der Totenverehrung spielt Ocker eine bedeutende zeremonielle Rolle.

      Eine Prozession mit einem Leichnam verlässt Çatalhöyük in Richtung eines weiten, offenen Platzes in der Ebene. Eine hohe Plattform erwartet sie. Die Teilnehmer legen den Leichnam auf der Plattform ab und geben ihn den Raubvögeln und Elementen preis. Eine Person wacht darüber, dass die Knochen zurückbleiben. Geier kreisen über der Plattform, ein Sturm zieht auf. Die Zeit vergeht. Wenn nur noch das nackte Skelett übrig ist, holt eine Prozession es wieder ab. Es wird in eine Fötuslage gefaltet und mit rotem Ocker geschmückt, bevor es im Boden unter dem Wohnzimmer begraben wird. Manchmal werden die Gräber wieder geöffnet, vielleicht bei einem Ritual, und der Schädel wird mitgenommen. Ich frage mich, ob diese Menschen mit dem Tod besser zurechtkamen als wir.

      Der rote Ocker dient noch einem weiteren wichtigen Zweck: Geschichte und Kartografie. Ein Künstler malt die Umrisse der Dächer, die wie ein einziger großer Organismus dem nahen Vulkan gegenüberstehen. Zum ersten Mal entwerfen Menschen ein zweidimensionales Abbild ihrer Umgebung in Raum und Zeit. »Vom Vulkan aus gesehen steht hier mein Haus.« Und mit ein paar hingeworfenen Strichen, die aufsteigenden Rauch andeuten, sendet der Künstler eine Nachricht über 9000 Jahre hinweg: »Ich war hier, als der Vulkan ausbrach.«

      DAS EXPERIMENT IN ÇATALHÖYÜK und anderen Urstädten erwies sich als erfolgreich. Innerhalb weniger Tausend Jahre entstanden überall Städte. Wenn sich Menschen verschiedener Kulturen an einem Ort versammeln, dann werden Ideen ausgetauscht und neue Möglichkeiten geboren. Die Stadt ist wie ein Gehirn, ein Brutkasten für neue Ideen.

      Im Amsterdam des 17. Jahrhunderts mischten sich Menschen der alten und neuen Welt wie niemals zuvor. Die gegenseitige Befruchtung führte zu einem Goldenen Zeitalter der Wissenschaft und Kunst. In Italien verkündeten Giordano Bruno und Galileo die Existenz anderer Welten. Für ihre Häresie mussten sie allerdings büßen. Doch schon 50 Jahre später wurde der Astronom Christiaan Huygens, der dieselben Ansichten vertrat, in Holland mit Ehren überhäuft.

      Licht war das Leitmotiv der Epoche; das Licht der Gedanken- und Religionsfreiheit; das der Forschung, die den Menschen des Planeten brutal klarmachte, dass sie einen einzelnen Organismus bewohnen; das Licht, das die Gemälde dieser Zeit, besonders von Vermeer, so wunderbar macht; und das Licht als Objekt wissenschaftlicher Forschung.

      

      LINKS: Antoni van Leeuwenhoek sah und zeichnete als Erster Leben unter einem Mikroskop. Er nannte die Lebewesen »animalcula« (»winzige Tiere«). RECHTS: Im Cosmotheoros (1698) zeigte Christiaan Huygens die Sonne (Sol) und die sie umkreisenden Planeten.

      Damals lebten in Amsterdam drei Männer, deren Leidenschaft für Licht sie dazu anregte, Geräte zu erfinden und zu vervollkommnen, die dem Licht etwas scheinbar Unmögliches entlockten. Sie konzentrierten oder streuten Lichtstrahlen durch ein gewölbtes Glas – die Linse. Die Sehhilfe eines Textilhändlers, mit der er die Qualität von Stickereien beurteilte, wurde das Fenster zu verborgenen Welten.

      Antoni van Leeuwenhoek enthüllte mit einer einzelnen Linse den Kosmos der Mikrobenwelt. Er untersuchte damit Speichel, Samenflüssigkeit und Teichwasser und entdeckte ganze Gesellschaften von Lebewesen, die bis dahin völlig unbekannt waren.

      Sein Freund Christiaan Huygens benutzte zwei Linsen, um Sterne, Planeten und Monde zu sich heranzuholen. Als Erster sah er, dass die Ringe den Saturn nicht berührten, und erkannte ihre wahre Natur. Er entdeckte den Saturnmond Titan, den zweitgrößten Mond unseres Sonnensystems. Er erfand die Pendeluhr und vieles andere wie den Filmprojektor und Zeichentrickfilme. Mit ihm werden wir später auf unserer Reise noch eine ganze Nacht verbringen.

      Huygens erkannte in den Sternen andere Sonnen mit eigenen Planeten und Monden. Für ihn bestand das Universum aus unendlich vielen Welten, von denen viele belebt waren. Doch warum gab es in den heiligen Büchern keinen Hinweis darauf? Warum sollte Gott uns das verschweigen? Gott war in diesem Punkt kategorisch: Er erwähnte außer uns keine anderen Kinder.

      Während dieser Widerspruch bei den Aufklärern für Unbehagen sorgte, sprach nur einer das Thema offen an. Auch dieser Mann war ein Genie des Lichts. Als der Früchtehandel seines verstorbenen Vaters Bankrott ging, verdiente er seinen Lebensunterhalt mit dem Schleifen der Linsen, mit denen die verborgenen Welten gefunden wurden, die großen wie die kleinen.

      Der 1632 geborene Baruch de Spinoza war Mitglied der jüdischen Gemeinde in Amsterdam. Doch mit Anfang Zwanzig begann er, öffentlich von einer neuen Art von Gott zu sprechen. Sein Gott war kein zorniger Tyrann, der vorschrieb, welche Rituale man durchführen, was man essen oder wen man lieben musste. Spinozas Gott war das physikalische Gesetz des Universums. Seinen Gott interessierten keine Sünden, seine Thora war das Buch der Natur.

      Die Gemeinde der Amsterdamer Synagoge zeigte sich von diesen Äußerungen, die sie als gottlos empfand, begreiflicherweise entsetzt. Zahlreiche ihrer Mitglieder waren vor der Inquisition und ihren Folterknechten aus Spanien und Portugal geflohen, wo sie gezwungenermaßen konvertieren und häufig hilflos zusehen mussten, wie ihre Angehörigen gequält und ermordet wurden. Amsterdam bot diesen Juden Zuflucht. Spinozas radikale Ideen konnten sie nur als Bedrohung der mühsam errungenen Sicherheit sehen. Sie


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