Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel

Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel


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manche. Das hat Herkommer freilich nicht so ausgedrückt, aber so interpretiere ich seine Worte in all den Jahren. Immer wieder, wenn wir auf längeren Fahrten einmal über Politisches sprachen, fiel mir dieser unheimliche, dieser verstockte Trotz auf, nicht einmal so sehr sein eigener, sondern vor allem der Trotz derer, von denen er sprach. Dieser Trotz richtete sich – je nach Zugehörigkeit zu dieser oder zu jener Gruppe in der Bevölkerung – gegen den tatsächlichen oder vermeintlichen Feind der Gruppe. Aber der Feind war da mehr oder weniger auswechselbar.“

      „Und was nannte er an Feinden?“

      „Oh, alles Mögliche, da gab’s keinen Mangel! Das waren mal die Siegermächte, die ja in der Tat mit den unerfüllbaren Forderungen des Versailler Vertrags alle Hoffnung zerstört haben und dazu noch die deutsche Delegation tief demütigten; dann wieder die Demokraten, die die alten gottgegebenen Ordnungen auflösen wollten; und halt immer wieder die Franzosen und Belgier, die das Ruhrgebiet besetzt und niedergeknebelt gehalten hätten; und die ostelbischen Junker, die Schlotbarone, die ganz Rechten, die Linken, das Zentrum, die Bischöfe und kreuz und quer –“

      „– und die Juden“, setzte Strauss die Reihe fort, „die im Niedergang schon immer als Sündenböcke taugten.“

      „Ja, gewiss, die Juden, die hat er natürlich auch immer wieder genannt.“

      „Ich weiß durch einen tragischen Vorfall in meiner Schulzeit“, erinnerte sich Strauss, „ein versteckter Trotz, der sich nicht allmählich wieder auflöst, Trotz, der im Verborgenen andauert, kann eines Tages gefährlich werden.“

      „Vor allem, wenn er weit verbreitet ist, wenn er als Massenphänomen auftritt. Da ballt sich dann eine unheimliche Kraft zusammen!“

      „Und wenn die sich dann eines Tages alle darüber einig sein sollten, wer der Feind ist es – da bricht was los!“

      „Jajaa –“, sagte Zabener, „es ist wie immer, starke Feinde machen einig, und je bedrohlicher ein Demagoge den Feind darstellt – verstehst du? –, desto enger schließen sich seine Anhänger zusammen.“

      Zabener und Strauss beschäftigten sich in ihrem Gespräch noch eine Weile mit Herkommer. Es ging ihnen dabei nicht einmal so sehr um seine Person, es war vor allem die Art seiner politischen Bemerkungen, die ihnen zuwiderlief. Aber je mehr sie gewisse Ansichten von ihm verwerfen wollten, desto eindringlicher spürten sie, dass die mit ihren eigenen Ansichten im Grunde mehr übereinstimmten, als sie wahrhaben wollten.

      „Eigentlich hat er nicht einmal ganz unrecht“, sagte Zabener, „Herkommer fallen natürlich als Erstes die Verbalinjurien und der Krawall im Parlament auf, aber wohin das führt, dieses dauernde Herabwürdigen des Gegners, jahraus jahrein, das beunruhigt mich viel mehr. Da beklagen die doch dauernd ihr geringes Ansehen in der Bevölkerung und rufen ‚Weimar wird nicht akzeptiert‘ – ja, da sind die doch selber schuld!“

      „Diese Pöbeleien haben seit dem Einzug der Nationalsozialisten ins Parlament immer mehr zugenommen.“

      „Das sind die Schlimmsten. Aber ich dreh’ da die Hand nicht um!“

      „Allen voran dieser fanatische Schreihals Göbl oder Göbele oder wie er heißt.“

      „Goebbels heißt er, Joseph Goebbels, promovierter Germanist – gefährlich, dieser Bursche!“

      „Er ist es nicht allein. Als Einzelner hätte er sich im Parlament wahrscheinlich bald selbst isoliert. Wenn da aber nur einige mitmachen, breitet sich so etwas rapide aus und wird zum allgemeinen politischen Stil. Es müssen gar nicht alle mittun. Die in der Mitte, die vielleicht den Anstand wahren und ihre Gegner eben nicht verächtlich machen, fallen gar nicht weiter auf.“

      „Ihr Juristen sprecht ja zum Beispiel bei Prozessen ganz klar vom Gegner, wie du gerade auch, aber dieses Wort kennen die nicht, Strauss, die kennen nur Feinde. Hat man einen Gegner, dann bekämpft man dessen Meinungen, dessen Vorschläge, dessen Ideen und setzt die eigenen dagegen. Sieht man im politischen Gegner aber einen Feind, dann bekämpft man eben diesen, und das geschieht am besten dadurch, dass man ihn erst einmal tüchtig herabsetzt und verächtlich macht, sich über seine Moral entrüstet und ihn mit Verdächtigungen oder gar Verwünschungen überzieht. Herkommer regt sich natürlich vor allem über die Ausdrücke aus der Gosse auf – welche hat er genannt? – verkommene Schweine, hinterhältige Gangster, hätten sie sich beschimpft, Lumpen, Heuchler, Lügner, Halunken und so weiter. Aber sie nennen sich gegenseitig halt auch – und das ist wahrscheinlich noch viel schlimmer für das Ansehen des Parlaments – Giftmischer, Fallensteller, Intriganten, Brunnenvergifter, Betrüger, Fälscher. Und wie oft fiel das Wort Vaterlandsverräter!“

      Strauss nickte: „Da geht es tatsächlich nur noch um Personen und nicht mehr um die Verhandlungsgegenstände!“

      „Am krassesten bei den Verwünschungen: Die Hände sollen ihm abfaulen, die Augen sollen ihm aus dem Kopf fallen, die Zunge ihm im Munde verdorren. Alles im Reichstag so schon zu hören gewesen!“

      „Manchmal ist es eben doch gut, wenn die Presse dabei ist, Zabener, sonst würde man so etwas nie erfahren.“

      „Aber damit erfährt es natürlich alle Welt.“

      „Was ja der Zweck der Sache ist.“

      „Jedenfalls schadet solches Verhalten dem Ansehen des Parlaments und damit der Demokratie – und daran wird die Republik eines Tages scheitern! Wenn ich da an die Verhältnisse in England denke – gewiss, da gibt es auch unschöne Auseinandersetzungen, aber doch niemals in dieser Form und vor allem auch niemals mit so viel Applaus der eigenen Anhänger. Regelverstöße im Umgang miteinander mögen zwar in der Hitze des Gefechts vorkommen, aber sie sind verpönt, und auf jeden Fall wird hinterher die gegenseitige Achtung wieder hergestellt. Das ist der Unterschied.“

      „Das sind eben diese alten klassischen Demokratien. Wir haben das leider nie gelernt.“

      „Es ist zum Verzweifeln!“, Zabener kam mit rotem Kopf schon wieder in Fahrt, „Kein Wunder, dass die Bevölkerung nichts von der parlamentarischen Demokratie wissen will! Da sollte man einmal richtig durchgreifen!“

      „Was heißt durchgreifen?“, fragte Strauss, leicht verstört von diesem erneuten Zornesausbruch.

      „Dazwischenfahren! Alle rausschmeißen! Die Wortführer einsperren! Die Bude zumachen, den ganzen Verein auflösen!“ Und leiser fügte er hinzu: „Die schaden uns doch nur.“

      „Jetzt redest du daher wie diese Hakenkreuzler“, sagte Strauss, und Zabener wusste sofort, wie recht Strauss damit hatte.

      „Ich weiß ja, Strauss, und ich ärgere mich selbst am meisten darüber. Je zorniger ich werde, desto mehr verlasse ich meine demokratischen Positionen, für die ich nach dem Krieg so leidenschaftlich eingetreten bin. Ich bin eben doch kein echter Demokrat! Ich will einer sein, meistens jedenfalls, und ich bin es manchmal auch, aber ich bin zu aufbrausend und zu ungeduldig und falle dann in meine früheren Einstellungen zurück. Die habe ich, so sehr ich das auch hoffte, eben doch nicht aufgegeben. Sie sind nicht ausgelöscht, sondern von diesen erst später gewonnenen Überzeugungen nur überlagert oder nur vorübergehend außer Funktion gesetzt. In Bedrängnis, in der Verzweiflung oder im Zorn, oder gar in der Panik, brechen sie machtvoll wieder hervor. Als ob ich nicht selbst Herr darüber wäre.“

      Zabener atmete schwer unter der Last dieser Einsicht.

      „Nein, nein, ich weiß“, sagte er nur, „ich bin nicht Herr über meine Gesinnung!“

      „Keiner ist Herr über seine Gesinnung!“, beschwichtigte Strauss, und Zabener zog daraus die Konsequenz: „Wir sind eben nicht wirklich frei!“

      Zabener war inzwischen wieder ruhiger geworden, und Strauss, der spürte, wie sehr er mit seiner Bemerkung den Freund getroffen hatte, versuchte, den bitterbösen Vergleich mit den Hitlerleuten etwas abzumildern und sagte mit einer betont harmlos und heiter klingenden Stimme: „Aber vor Hitler brauchen wir uns am allerwenigsten zu fürchten, der wird mit seinen Nationalsozialisten genauso verschwinden wie die ganzen anderen neu aufgekommenen Parteien auch.“

      „Aber


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