Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel

Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel


Скачать книгу
die nur zur Warnung, zum Beispiel vor einem unbeschrankten Bahnübergang verwendet werden dürfe.

      Weil sein Lokomotivführer ein guter Lehrmeister war, erlernte Herkommer nicht nur die einzelnen Kontrollen und Handgriffe, sondern er erfuhr auch genauestens, warum sie auszuführen waren und vor allem, was geschehen konnte, wenn man sie nachlässig oder fehlerhaft erledigte oder sie womöglich vergaß. Das erhöhte seine Einsicht in das Ganze und gab ihm das rechte Gefühl dafür, wie wichtig seine Tätigkeit war. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er, dass er wirklich Verantwortung trug, nicht nur für Gaski, wie das vor Kurzem noch war, sondern für eine mächtige Lokomotive, ja, für einen ganzen Zug mit vielleicht Hunderten von Passagieren darin. –

      In den ersten Wochen hatte Herkommer keine Gelegenheit, nach Hause zu fahren, wobei er sich über sich selbst wunderte, dass er von ‚zu Hause‘ sprach. Die Ausbildung war ihm wichtiger, hoffte er doch, schon bald zum planmäßigen Heizer ernannt zu werden, dann würde er eine schwarz-silberne Kordel an seine Schirmmütze bekommen. Als er das erste Mal nach Wochen wieder in Nürnberg die Treppen hinaufstürmte und in sein Zimmer trat, kam es ihm fremd und seltsam leer vor. Ah, Frau Bohner hatte Gaskis Lager weggeräumt, was gewiss vernünftig war, doch Frau Bohner traf er nicht an, was ihm hätte gleich sein können, aber er fragte im Haus herum und erfuhr schließlich unten im Ladengeschäft, dass sie für ein paar Tage zu Verwandten verreist sei. Zu Verwandten? Insgeheim schien er sich doch auf Frau Bohner gefreut zu haben, dachte er, aber diese Einsicht passte ihm auch wieder nicht. Wo sie wohl hingefahren ist? Und wo sie wohl diese Verwandten hatte? Sie hat nie davon gesprochen. Was waren das überhaupt für Verwandte? Er ärgerte sich über diese Leute, obwohl er wusste, dass ihn das nicht das Geringste anging. Auch ihr Bademantel war weggeräumt.

      Er ging früh ins Bett und wollte mal wieder richtig ausschlafen. Oh, welch himmlisches Gefühl, Arme und Beine weit von sich strecken zu können; zu schlafen ohne diesen engen Schlafsack wie in den letzten Wochen; sich richtig breit machen zu können in den frischen Leintüchern, für die Frau Bohner in der Zwischenzeit gesorgt hatte.

      Er schlief viel zu lange, was ihm noch nie gut getan hatte. Nach dem Aufstehen fühlte er sich gerädert und stellte fest, dass Frau Bohner immer noch nicht zurückgekehrt war. Verdrossen erledigte er am späten Vormittag noch ein paar Belanglosigkeiten und setzte sich dann missmutig und ohne noch einmal bei Eugen hereingeschaut zu haben mit dem Vorsatz in den Zug, so bald nicht wieder nach Nürnberg zu kommen. Die etwas engen, aber tadellos sauberen Personalschlafstellen an den Streckenenden reichten ihm bis auf Weiteres aus. Er tat sich selbst ein wenig leid und wollte sich wieder ganz auf die Arbeit und in die Ausbildung stürzen.

      Aber schon am nächsten Samstag saß er entgegen seiner ursprünglichen Absicht dann doch wieder im Zug nach Nürnberg. Im Dienstplan hatte sich für das Wochenende eine kleine Verschiebung ergeben, und er dachte sich, dass er ja dumm wäre, wenn er nicht den kleinen Spielraum, der sich ihm plötzlich bot, für eine Fahrt nach Hause ausnutzen würde. Frau Bohner sollte inzwischen doch längst zurückgekommen sein.

      Als Herkommer am Abend in sein Zimmer trat, stutzte er, denn da lag das große Polster für Gaski wieder am Boden – Frau Bohner musste zurück sein! Er eilte sofort zu ihr hinüber, doch sie hatte ihn kommen hören und wollte ihn ebenfalls gleich sehen, und so stießen sie auf dem dunklen Flur erschrocken aufeinander und konnten nur knapp einen heftigeren Zusammenprall vermeiden. Das anschließende Gelächter geriet auf beiden Seiten unangemessen ausgiebig. Ausgelöst, aber nur ausgelöst war es durch das beiderseitige kurze Beschwichtigungslachen, zu dem ja viele Menschen bei solchen kleinen Missgeschicken aus einer Art angeborener Höflichkeit heraus neigen. Seine Fortsetzung und Kraft aber fand das Lachen durch die unterdrückte Freude über das von beiden ersehnte Wiedersehen. Die fand so eine willkommene Gelegenheit, in unverfänglicher Weise hervorzubrechen. Einmal angekurbelt, ließ sich das Gelächter dann durch allerlei vergnügte Albernheiten leicht noch eine Weile weiterführen, und schließlich fasste Ludwig Frau Bohner am Handgelenk und zog sie, die sanft folgte, mit in sein Zimmer, wo er sie, auf Gaskis Polster weisend, in übertrieben gespielter Traurigkeit fragte, was er damit wohl anfangen solle.

      „Ich hatte die Matratze neulich bloß herausgenommen, um sie im Hof tüchtig auszuklopfen. Wer weiß, vielleicht kommt der Gaski doch noch einmal wieder?“

      „Den bin ich los.“

      „Dann nimmst halt mich dafür!“, alberte Frau Bohner weiter und ließ sich auf das Polster fallen, wo sie sitzen blieb und zu ihm hinaufblickte, wie Gaski das tat, und dabei dessen schräge Kopfhaltung nachzuahmen versuchte. Herkommer ging sogleich darauf ein, kniete auf den Polsterrand nieder, rief ihr streng „Gaski“ zu, mit dem er ja ebenfalls häufig gebalgt hatte, und warf Frau Bohner, nicht ohne Behutsamkeit, auf den Rücken. Er beugte sich lachend über sie, die Arme rechts und links von ihrem Kopf auf das Polster gestützt, und er hätte nun gewiss von ihr abgelassen, wäre da nicht plötzlich wieder dieser Duft gewesen, von dem er besessen war.

      Ludwig ließ seine Arme einknicken, sodass sein Kopf dicht neben ihrem auf das Polster zu liegen kam, und sein Oberkörper halb auf ihr lag. Er hätte aufstöhnen mögen, so deutlich nahm er jetzt diesen Duft auf, an den er sich in den ganzen Wochen immer wieder zu erinnern versucht hatte, den er sich aber nicht mehr hatte vergegenwärtigen können. Frau Bohner lag regungslos und rührte sich über Minuten nicht, nicht die geringste Zuwendung, aber auch keine Abkehr. Herkommer drehte sein Gesicht, mit dem er auf dem Polster lag, langsam zu ihr hin, und sie spürte seine Nase und dann auch seinen Mund an ihrem Hals. Das ist die Stelle, an der ich neulich schnuppern wollte, dachte Herkommer, jetzt werde ich sie auf diese Stelle küssen, aber es war nicht mehr als eine Andeutung. Sie blieben noch eine Zeitlang ganz nah beieinander liegen. Später stand Herkommer langsam auf, während Frau Bohner immer noch bewegungslos mit geschlossenen Augen dalag, und dann rief er ihr sehr freundlich, vielleicht sogar zärtlich zu:

      „Komm, Gaski, steh auf!“

      Frau Bohner nickte, erhob sich und ging dann verträumt lächelnd mit gesenktem Kopf zur Tür.

      Am nächsten Morgen musste Herkommer beizeiten aufbrechen. Als er gerade aus der Küche gehen wollte, kam Frau Bohner herein und sagte, wie auch früher immer, leise und ganz unbefangen: „Guten Morgen!“, und schaute ihn nur freundlich an.

      Herkommer legte im Vorbeigehen seine Hand an den Mund, beugte sich nah an ihr Ohr und flüsterte nach einer Sekunde des Zögerns zärtlich: „Gaski!“, nur um etwas zu sagen, und sie wusste, dass das mit dem Herumbalgen und dem Herumalbern gestern nicht mehr viel zu tun hatte. –

      Die Beziehung zwischen Herkommer und Frau Bohner entwickelte sich dank einer gewissen scheuen Behutsamkeit beider nur langsam, aber überaus beständig weiter, was freilich bei Frau Bohner, der viel Älteren, einen gänzlich anderen Ursprung hatte als beim vorsichtig-unerfahrenen Herkommer.

      Wenn Herkommer Dienst hatte, war er oft eine ganze Woche und manchmal auch zwei Wochen lang weg, das waren für Frau Bohner dann meistens Tage voller Sehnsucht, was sie sich aber nicht eingestehen wollte und worüber sie sich ärgerte, und sie spürte dann, wie sehr sie in ihrem ganzen Befinden schon von ihm abhängig geworden war. Umso schöner und ausgefüllter die dienstfreien Tagen mit ihm. Ihre Fürsorge breitete sich immer weiter aus, je genauer sie seine Bedürfnisse und Vorlieben kennenlernte. Und je besser es ihr gelang, die Zeit zwischen ihren viel zu seltenen gemeinsamen Tagen mit kleinen Fürsorglichkeiten für ihn auszufüllen – mit einem Pullover, den sie ihm strickte, mit einem Kuchen, den sie ihm backte –, umso eher kam sie mit den Vorwürfen zurecht, die sie sich immer noch machte. Aber nach wie vor würde man auf die Hausbewohner achten müssen, um ja keinen Anlass für ein Gerede zu bieten. Je vertrauter sie miteinander wurden, desto deutlicher wurde ihr das. Keine zu lauten Gespräche miteinander, möglichst kein gemeinsames Verlassen des Hauses, ja überhaupt: keine gemeinsamen Unternehmungen in der Stadt und auch keine Ausflüge in die Umgebung. Aber darunter litt Frau Bohner. –

      Die Eisenbahnerkarriere Herkommers ließ sich gut an und wäre in ihrem Fortgang nicht weiter berichtenswert, wenn sich nicht bald nach seiner Ernennung zum planmäßigen Heizer ein schweres Unglück ereignet hätte, eine Katastrophe geradezu, die bei Herkommer besondere Eigenschaften und Fähigkeiten zu Tage treten ließ, die allgemein und auch von kompetenten Beurteilern als Hinweis


Скачать книгу