Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel

Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel


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einen Augenblick bitte –“

      Und dann: „– hallo, Herr Zabener, sind Sie noch da? – Er hat sich etwas hingelegt, soll ich ihn wecken?“

      Violet spürte, wie Viktor zögerte; es schien wichtig zu sein.

      „Sagen Sie ihm doch bitte, am Marienplatz stünde die Polizei mit Maschinengewehren –“

      „Moment, ich werde ihn fragen –“

      Da kam Herkommer auch schon von hinten und nahm noch ein wenig schläfrig den Hörer ans Ohr – „Ludwig hier“ – und lächelte dabei freundlich zu Violet hin, doch schon nach den ersten Worten, die er vernahm, war sein Blick, sein ganzes Gesicht, voller Anspannung und in einer Art erfreuter Wachsamkeit auf etwas Fremdes in der Ferne gerichtet.

      „Ich muss sofort los, Bohne!“, rief Herkommer im Auflegen, band seine Schuhe zu und langte nach seinem Mantel an der Garderobe.

      „Der Viktor hat ja keine Ahnung! Das ist der Umsturz! Ich muss sofort zur Kreisleitung, so ist das ausgemacht, zum Sammeln. Die meisten kennen mich noch gar nicht – und keine Angst, Bohne, was der Viktor da sagt; die Polizei verfügt nicht über Maschinenwaffen.“

      Herkommer stand schon unter der Wohnungstür, aber Violet, die schon ein paar Mal angesetzt hatte, wollte wenigstens, so schlecht das im Augenblick auch passen mochte, den wichtigsten Teil ihrer Botschaft loswerden und rief ihm etwas gepresst nach:

      „– ich bin doch eine Jüdin, Ludwig!“

      Herkommer, der nicht wollte, dass das im ganzen Treppenhaus zu hören sei, wehrte unwillig ab – „Weiß ich doch längst!“ – und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Violet war perplex. Wie hatte er das erfahren?

      Dass er es längst schon wusste, das war freilich übertrieben. Als er in der vergangenen Woche auf der Kreisleitung bei dem Vorstellungsgespräch seine Adresse nannte – Schraderstraße 15 –, hatte einer seiner Gegenüber beiläufig gefragt:

      „Schraderstraße 15 …, Schraderstraße 15 – sag mal, wohnt da nicht auch diese junge alleinstehende Jüdin mit im Haus, diese Fotografin? Kennen Sie die?“ –

II

      1_Dr. Strauss und seine Kanzlei

      Die Herren standen in der Bibliothek um den großen Konferenztisch, der in seinem Tapet mit grünem Filz bespannt war, erörterten die neuesten Nachrichten und Gerüchte über den Machtwechsel in Berlin und warteten auf den Beginn der Samstagsbesprechung.

      Als Dr. Strauss eintrat, verstummten die Gespräche entgegen sonstiger Gepflogenheit und alle sahen zu ihm her.

      „Nanu?“, rief Strauss aufgeräumt in die plötzliche Stille hinein und tat ahnungslos.

      „Herr Feldmeier fehlt noch“, versuchte Dr. Welde, der Senior der Sozietät, das peinliche Schweigen zu überbrücken, „– ah, da kommt er ja schon.“

      Feldmeier entschuldigte sich etwas verlegen in einem leichten Sächsisch und mit ein paar kleinen ungeschickten Verbeugungen nach allen Seiten.

      „Oh nein, lieber Herr Kollege, Sie sind gerade noch in der Zeit!“

      Jede Gruppe, deren Mitglieder längere Zeit zusammenarbeiten und die sich fast täglich sehen, entwickelt ihren eigenen Kodex ungeschriebener Verhaltensregeln, mit dem sie sich von anderen Gruppen gleicher Art unterscheidet, ohne dass den Mitgliedern diese Regeln – oft von rechter Belanglosigkeit – in ihrem Inhalt und in ihrer großen Zahl bewusst würden. So hatte sich beispielsweise in der Kanzlei Dr. Welde, Dr. Strauss und Kollegen für das samstägliche juristische Kolloquium, bei dem es recht zwanglos zuging und statt des Tagesgeschäfts vor allem interessante Rechtsfälle erörtert wurden, die Regel herausgebildet, sich nicht gleich hinzusetzen, sondern stehend miteinander zu plaudern oder in den neuesten Heften der ausliegenden juristischen Fachzeitschriften zu blättern, bis alle eingetroffen waren und der Senior Platz nahm, dem die anderen dann ohne sichtbare Verzögerung folgten, wobei sie sich, wie auch der Senior selbst, durchaus weiter unterhielten bis zu dem Augenblick, da dieser nach einigen Sekunden den Kopf hob und das nun versammelte Kollegium noch einmal als Ganzes begrüßte und kurz die Tagesordnung bekannt gab.

      An diesem Tage allerdings wurde Fachliches nur mit vermindertem Engagement abgehandelt. Immer wieder drängten sich die jüngsten Ereignisse in Berlin in den Vordergrund, die ja genügend rechtliche Probleme aufwarfen, sodass es bei einigem Geschick ohne Weiteres möglich war, die Vorgänge in Berlin zur Sprache zu bringen, ohne vom Diskussionsleiter ermahnt zu werden, doch bitte nicht abzuschweifen.

      „Man weiß noch zu wenig, die Machtübernahme ist ja erst am Montag erfolgt.“

      „Wobei das Wort ‚Machtergreifung‘ die Geschehnisse schon besser beschreibt als ‚Machtübernahme‘, aber bei Weitem noch nicht ausreicht!“, ergänzte Dr. Welde verdrossen.

      „Es sollen schon am nächsten Tag Fälle von Schutzhaft vorgekommen sein, betroffen scheinen vor allem Kommunisten und Juden. Übrigens vereinzelt auch in Nürnberg, in ziemlich wilder Form durch SA-Horden.“

      „Kollege Jacke in Berlin“, berichtete Dr. Welde, „mit dem ich gestern in anderer Sache telefoniert habe und der einen der Inhaftierten auf Veranlassung der Familie vertreten soll, hat seinen Mandanten noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Man stelle sich das vor, meine Herren!“

      „Oh, Schutzhaft ist keine Erfindung der Nationalsozialisten!“, fiel der stets etwas zu forsche Dr. Barousse ein, unverkennbar Mitglied einer schlagenden Verbindung, der sich in seiner aktiven Zeit arg hatte zurichten lassen und der nun gewisse Artikulationsschwierigkeiten bei Worten mit labialen Lauten hatte. „Bei uns in Preußen gab es Schutzhaft schon seit achtzehn-achtundvierzig!“

      „Ich weiß, ich weiß“, entgegnete Dr. Welde ein wenig gereizt, „aber dann sagen Sie doch bitte auch dazu, dass bei Preußens die Schutzhaft strikt geregelt und auf 24 Stunden befristet war! Kollege Jacke gestern am Telefon meinte übrigens nicht ohne Sarkasmus, bei dieser merkwürdigen Form von Schutzhaft sollte man besser von ‚Prügelhaft‘ sprechen.“

      Jedes Mal, wenn an diesem Vormittag bei der Erörterung des Machtwechsels von Juden die Rede war, ging von diesem oder jenem in der Runde ein scheuer oder verstohlener und manchmal auch gänzlich unverhohlener Blick zu Dr. Strauss, der scheinbar unbeteiligt zuhörte. Dr. Welde musste diese eigentümlich ungewisse Atmosphäre gespürt haben, sonst hätte er gegen Ende des Kolloquiums nicht noch eine Erklärung abgegeben, von der er hoffte, dass sie für alle, jedenfalls für die Associés, in Zukunft verbindlich sein würde. Mit erhobener Stimme sagte er im Ton eines Schlussworts:

      „Lieber Herr Strauss! Alle maßgeblichen Beurteiler sind sich darin einig, dass dieser Spuk nicht lange gehen kann. Was aber auch kommen mag, Sie sind und Sie bleiben einer der Unseren!“

      Die kleine Runde klopfte Beifall auf dem Besprechungstisch, einige spontan, andere eher pflichtgemäß folgend.

      „Sie haben nicht zuletzt durch Ihr bahnbrechendes Vertragswerk für die Anilin respektive die I. G. Farben unsere Kanzlei erst groß gemacht.“

      Erneuter Beifall.

      „Sie bleiben bei uns, lieber Doktor Strauss, und wir bleiben bei Ihnen!“

      Schlussbeifall, Dr. Welde war fast gerührt, das Kolloquium schien zu Ende, Auflösung der Versammlung.

      Zu diesen vielleicht etwas pathetisch geratenen, aber überaus freundlichen Worten wollte freilich eine zustimmende Schlussbemerkung nicht mehr so recht passen, die Herr Feldmeier mit dem ausgeprägten Blick für das Praktische, den er vielleicht aus Sachsen mitgebracht hatte, noch anhängte.

      „Bei den vielen jüdischen Klienten ist es für die Kanzlei sogar praktisch, wenn ein Jude mit dabei ist.“

      Doch die Bemerkung ging, obwohl noch deutlich zu verstehen, im allgemeinen Aufstehen und Stühlerücken unter, und so fiel keinem auf, wie verräterisch sie im Grunde


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