Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel
beginnenden Niedergangs aller Ordnung unmittelbar nach dem Umsturz war in den letzten Wochen wieder eine gewisse, wenngleich angespannte Ruhe eingetreten, und die politisch Interessierten erwarteten nun beklommen die Ergebnisse der am nächsten Tag stattfindenden Reichstagswahl. Die erste Verhaftungswelle nach dem Umsturz war verebbt, die Übergriffe auf Kommunisten, Sozialdemokraten und Juden mit wilden Verhaftungen nicht nur durch die Polizei, sondern vor allem auch durch eher selbständig operierende Trupps der SA, waren von der Parteispitze fürs Erste eingedämmt und die Urheber zurückgepfiffen worden.
Dann jedoch war in der Nacht zum letzten Dienstag das Reichstagsgebäude in Flammen aufgegangen, und da brachen die Jagd und der Sturm auf die Gegner des Regimes erst richtig los. Die Zahl der Verhaftungen schoss in die Höhe, die Zeitungen der Linken wurden auf der Stelle verboten, alle Büros der kommunistischen Partei geschlossen. Der tiefste Einschnitt jedoch war eine Notverordnung, die bereits am Tage nach der Brandnacht erging.
So bot sich schon vor Beginn der Sitzung reichlich Stoff für eine vielfältige und zum Teil sogar heftige Diskussion.
„Das war doch wohl das Werk der Kommunisten, glauben Sie nicht auch, Herr Dr. Welde?“, fragte einer der Referendare.
„Kollege Jacke in Berlin, mit dem ich in reger Verbindung stehe, erzählte am Telefon, in der Stadt spreche man allerorts davon, dass das die Nationalsozialisten angerichtet haben, zum Zeichen ihrer Verachtung des Parlaments.“
„Nein, nein, nach allem, was man so hört, sind die Nazis am meisten erschrocken“, meinte Herr von Marwitz. „Die waren im ersten Augenblick sogar überzeugt, dass das das Signal der KPD zum Aufstand sei.“
„Jaja, das habe ich auch gehört“, fiel Feldmeier ein, „die dachten, das sei das Fanal zum Bürgerkrieg!“
„Jedenfalls kam denen diese Brandkatastrophe – eine solche war es doch wohl? – enorm zupass!“, meldete sich der andere Referendar zu Wort.
„Jetzt hatten sie die Legitimation zum unerbittlichen Zupacken! Und die Notverordnung kam dann ja auch prompt!“
„Zu prompt, mein Lieber, zu prompt!“, meinte Herr von Marwitz.
„Wieso zu prompt?“
„Überlegen Sie mal! Mir macht doch keiner vor, dass es möglich ist, eine solche Verordnung an einem einzigen Tag zu beraten, endgültig zu formulieren, mit den Unterschriften des Reichspräsidenten, des Reichskanzlers, des Innenministers und des Justizministers versehen zu lassen – und das Ganze dann auch noch am gleichen Tag, am 28. Februar, dem Tag nach dem Brand, im Reichsgesetzblatt zu veröffentlichen. Nein, das lasse ich mir nicht einreden, da war ich zu lange in der Justizverwaltung tätig! Das hätten die niemals geschafft, wenn sie erst am Morgen des 28. damit angefangen hätten. Für mich ist das der klare Hinweis auf die Täterschaft! Das waren die selbst!“
„Na, ick weeß nich, Leute, ick weeß nich“, alberte Dr. Welde, wurde aber rasch wieder ernst, „der Text der Notverordnung scheint mir nicht besonders sorgfältig ausformuliert, ja man kann sogar gewisse Flüchtigkeitsfehler erkennen.“
Strauss nickte dazu nachdenklich, weil er das offenbar ebenso sah, während die jüngeren Kollegen das wohl nicht so deutlich empfanden.
„Das spräche dann also doch dafür, dass die Nationalsozialisten vom Reichstagsbrand überrascht worden sind?“
„Eben. Aber wie auch immer“, fuhr Dr. Welde fort, „ob sorgfältig ausformuliert oder nicht, jedenfalls sind damit, meine Herren, entscheidende Grundrechte außer Kraft gesetzt, und Willkür hält Einzug.“
„Na ja –“, wollte der stets umgängliche Herr Strotkötter relativieren, aber Dr. Welde ließ sich nicht aufhalten.
„Wie wollen Sie es denn sonst heißen, lieber Herr Strotkötter, wenn die Polizei ohne Nennung von Gründen Verhaftungen vornehmen kann? Wenn den Betroffenen jeglicher Rechtsschutz verweigert wird, vor allem wenn die Polizei bei den Verhaftungen auf Hitlers Privatarmee, auf diese Rabauken-SA, zurückgreifen darf? Von nun an, meine Herren, ist die Unversehrtheit der Wohnung und des Eigentums nicht mehr gewährleistet, das Post- und Fernmeldegeheimnis ist passé, genauso wie die Meinungs-, Presse- und Vereinsfreiheit! Das ist das Ende des Rechtsstaats, meine Herren!“
„Hoffen wir, dass das eine Übergangserscheinung ist“, meinte der Referendar Mack, und auch der gute Herr Strotkötter wollte wieder vermitteln:
„Wenn die revolutionären Tage erst einmal vorüber sind –“
„Nun, warten wir es ab, ich bin mir da nicht so sicher“, versuchte Dr. Welde zu einem Ende zu kommen. „Es heißt zwar ‚Notverordnung‘, aber ich garantiere Ihnen, meine Herren, das hat Bestand auf Dauer, denn damit ist wunderbar bequem zu regieren. Wer sich dieses Werkzeug erst einmal verschafft hat, der gibt es so schnell nicht mehr aus der Hand!“
Schließlich ging man zur eigentlichen Sitzung über. Der Einzige, der in dem ganzen Disput kein Wort gesprochen hatte, war Strauss. –
Es vergingen keine vier Wochen, und schon hatte sich durch neue Aktionen der ruhelosen Machthaber Straussens Situation in der Kanzlei weiter verschlechtert. Am 1. April, einem Samstag, organisierte der Reichspropagandaminister Dr. Josef Goebbels in enger Verbindung mit dem schon einschlägig erfahrenen Julius Streicher1, dem Nürnberger Gauleiter, einen Boykott jüdischer Geschäfte und Warenhäuser. Die Aktion begann in Stadt und Land um Punkt 10 Uhr am Vormittag, ohne dass reichsweit auch nur ein einziges jüdisches Geschäft ausgelassen worden wäre. Vor den Eingängen zogen SA-Leute als Wachen auf, beschmierten die Schaufenster mit dem Davidstern und klebten Plakate ‚Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!‘ Da und dort wurden auch die Ladeninhaber verprügelt, vereinzelt gab es Tote. Auch viele jüdische Ärzte und Rechtsanwälte waren betroffen … ‚Die Juden sind unser Unglück! Meidet jüdische Ärzte! Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten!‘
Entgegen den Erwartungen der Partei verhielten sich die Passanten meistens schweigend und eher reserviert, vor größeren Objekten bildeten sich Ansammlungen, aber selten nur stimmten die Zuschauer in die Feindseligkeiten mit ein, gelegentlich solidarisierten sie sich sogar mit den Bedrängten.
Hatten bis dahin die Festnahmen eher im Verborgenen und die Diskriminierungen nur im Hintergrund stattgefunden, so brachen nun Diskriminierung und auch Verfolgung auf breiter Bahn in aller Öffentlichkeit los. Nicht das geringste Bemühen um Vertuschung mehr, im Gegenteil, ostentative Zurschaustellung der Verfolgung und unverhohlene Ausgrenzung der Verfolgten.
Diese Aggression gegen die Juden hatte die größte Öffentlichkeit, vielleicht abgesehen von der Reichkristallnacht viel später. Jeder bekam es mit.
Bis dahin hatte die Propaganda vor allem die Aufgabe, bekanntgewordene Fälle von Diskriminierung und Verfolgung ‚verständlich‘ zu machen, sie zu verharmlosen, zu vertuschen oder einfach abzustreiten. Nun kehrte sich das geradezu um. Von jetzt an hatte sie dafür zu sorgen, dass die unerbittliche Härte des Regimes gegenüber den Juden wie überhaupt den Gegnern des Regimes möglichst publik und allmählich zur anzustrebenden und schließlich selbstverständlichen Einstellung für alle wurde. Das war von unmittelbarem Einfluss auf Straussens Situation in der Kanzlei, denn diese Verschiebung der Werte wirkte, wenn auch vielleicht abgeschwächt, natürlich auch in die Kanzlei hinein, und so gehörte er, auch für die ihm nach wie vor freundschaftlich Verbundenen, immer deutlicher zu eben diesen Ausgegrenzten.
„Ja, gewiss, Strauss selber ist schon in Ordnung“, hörte Strauss zwei Herren sich unterhalten, die gerade in die Bibliothek kamen und offenbar nicht bemerkt hatten, dass er blätternd hinter einem der freistehenden Doppelregale stand. „Aber allmählich stellt er eben doch eine gewisse Belastung für die Sozietät dar.“
„Die werden wir ja noch stemmen können!“
„Jaja, wir tun ja alles. Aber unterschätzen Sie nicht die Wirkung der Propaganda. Die Öffentlichkeit, alles andere als gefeit gegen den Antisemitismus, hat immer größere Vorbehalte gegenüber den Juden. Der Judenboykott richtete sich ja nicht nur gegen jüdische Geschäfte, sondern ausdrücklich auch gegen jüdische Anwälte und Ärzte. Wir