Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel

Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel


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dabei.“

      „Menschenskind, und ich hätte es gestern beinahe mit aussortiert! Aber jetzt, wo du mir das sagst, Dieter, bleibt es drin“, sagte Viktor und schob es weiter nach unten. „Aber eigentlich ist es doch harmlos, nicht?“

      „Aber der Edschmid nicht!“

      „Vorhin war der dicke Fitwin da, um auf Wiedersehen zu sagen. Ich glaube, das ist einer von diesen HJ-Schülern? Ob er das Buch gesehen hat?“, lächelte Viktor unsicher.

      „Gesehen hat er es vielleicht schon, aber geschaltet hat er nicht, da ist er nicht hell genug im Koppe, keine Angst, und was unternehmen könnte er erst recht nicht. – Mach’s gut, altes Haus!“

      Viktor hätte sich, wie die anderen alle, freuen sollen, aber jetzt, da alles Persönliche ausgeräumt war, fürchtete er sich fast ein wenig vor den kommenden Wochen draußen, das ist alles so furchtbar turbulent und unübersichtlich geworden, auch was da in der Politik geschieht. Zu Hause, ohne seine Mutter dort, hatte er schon lange kein rechtes Refugium mehr, das war ihm in den letzten Jahren mit jedem Ferienbeginn deutlicher geworden, und nur zu gern war er am Ferienende wieder ins Internat zurückgefahren. Pilgrim und noch ein paar andere, die sprachen wie die Bergsteiger immer von ihrem ‚Basislager‘, wenn von ihrem Zimmer daheim und ihrem Elternhaus die Rede war, doch sein Basislager war hier, aber das hatte er soeben aufgelöst, und dahin würde es nun keine Rückkehr mehr geben. –

      Viktor fuhr mit dem Zug nach Hause, die vielen Gepäckstücke hatte er aufgegeben. Er wollte seinen Vater überraschen; hätte er seine Ankunft mitgeteilt, so hätte sein Vater gewiss darauf bestanden, ihn wegen seines ganzen Hausstandes, wie er das einmal spöttisch genannt hatte, vom alten Herkommer mit dem Auto in Stefansfeld abholen zu lassen oder ihn womöglich selbst abzuholen. Solche Besuche, egal ob von Herkommer auf einer seiner gelegentlichen Kurierfahrten nach Zürich, wenn er ihm von zu Hause etwas hatte vorbeibringen sollen, oder gar Besuche von seinem Vater selbst waren Viktor immer peinlich gewesen. Einmal hatte er das seinem Vater sogar zu erklären versucht, was nicht einfach war; da fiele man nur auf, bei den Schulkameraden, bei den Lehrern und den Mentoren. Viktor wollte stets möglichst ‚fugenfrei‘, wie er es nannte, eingegliedert bleiben, und das hieß bei ihm zwar nicht gerade, unsichtbar zu sein, aber doch auf keinen Fall in irgendeiner Weise an irgendeiner Stelle als etwas Besonderes aufzufallen.

      Zu Hause angekommen lief ihm als Erster der Chauffeur Herkommer über den Weg. Der gratulierte ihm zum bestandenen Abitur herzlich und fast begeistert und ohne die geringsten Vorbehalte gegenüber höherer Bildung, wie er sie bei seinem Sohn Ludwig stets geäußert hatte, und Viktor sagte ein paar mitfühlende Worte zum frühen Tod von Herkommers Frau im vergangenen Jahr – so lange hatte er Herkommer nicht mehr gesehen. Viktor war wirklich traurig, Frau Herkommer, gewiss nur eine einfache Frau, hatte dem ganzen großen Haus nach dem plötzlichen Verschwinden seiner Mutter einen gewissen Halt gegeben, und sie hatte ihm, den sie besonders ins Herz geschlossen hatte, immer wieder einmal per Post, mit unbeholfener Schrift, eine ihrer selbstgemachten Köstlichkeiten ins Internat geschickt, was ihn manchmal fast zu Tränen gerührt hatte; und schließlich, nicht zu vergessen, musste sie doch wohl, obgleich man nicht darüber sprach, anstelle seiner Mutter seine Amme gewesen sein, denn sonst wäre ja Ludwig nicht sein Milchbruder.

      Herkommer brachte ihn, als ob er ein Fremder sei, nach oben zu seinem Vater, der momentan etwas erkrankt sei, und erklärte ihm auf dem Weg dahin, anstatt ihm Näheres über den Zustand seines Vaters zu sagen, dass es in Deutschland unglaublich aufwärts gehe – in Deutschland, sagte er, als ob Viktor all die Jahre im Ausland zugebracht hätte.

      Sein Vater lag im Morgenrock auf dem Sofa, hustete fürchterlich, als er ihn sah, und konnte sich nur mit Mühe aufsetzen.

      „Hätte dich doch abholen lassen, Viktor!“ krächzte der Konsul, der sich zu freuen schien, „kleine Erkältung, nichts weiter Schlimmes. Ich dachte, du kämest erst nächste Woche und würdest dich schon noch melden.“

      „Ich wollte keine Umstände machen, Vater“, antwortete Viktor ein wenig steif, „und ich wollte dich überraschen!“

      „Das ist dir gelungen“, lachte der Konsul und musste schon wieder husten und fuhr schließlich fort, „ich warte auf Dr. Fellgiebel. Der war zu deiner Zeit noch nicht zugange hier. Ein tüchtiger Arzt.“

      „Fellgiebel? Fellgiebel – da gab es einen Schüler bei uns, bei den Kleinen, der hieß so. Ich kann mich nur an den Namen erinnern, ich kannte ihn nicht, ich glaube, er war sogar hier aus der Gegend.“

      „Ja, ich bin ganz sicher, das muss Dr. Fellgiebels Sohn sein, Jan mit Vornamen. Wenn ich es richtig weiß, hat er diesen Jan adoptiert. Ich kann ihn nachher ja mal vorsichtig nach Jan fragen.“

      Dr. Fellgiebel war dann gar nicht zufrieden gewesen mit dem Zustand des Konsuls und perkutierte ihn minutenlang, während Viktor unschlüssig an der Tür stand. Man mochte kaum glauben, dass ein menschlicher Körper so viel an Resonanz hergeben kann, das fiel selbst Viktor als medizinischem Laien auf, und dass sich offenbar klangliche Unterschiede erkennen lassen. Danach, während sein Patient skeptisch dreinschaute, verkündete Dr. Fellgiebel streng und sachlich das Ergebnis, erteilte fast im Befehlston seine Anweisungen, verschrieb noch ein paar Arzneien und verabschiedete sich schon bald wieder. Die Frage nach dem kleinen Jan hatte sein Vater vergessen.

      „Ich glaube, ihr Sohn Jan – ist vielleicht Ihr Sohn Jan ein Schulkamerad von mir gewesen?“, fragte Viktor etwas schüchtern, als er Dr. Fellgiebel nach unten brachte.

      „Ja, richtig!“, dröhnte Dr. Fellgiebel doppelt so laut zurück, „Jan kennt Sie sogar! Er hat mir von Ihnen erzählt! Aber, mein Lieber, das war schon immer so, dass die Sextaner eher irgendwelche aus der Oberprima kennen als umgekehrt.“

      „Haben Sie denn noch mehr Kinder, Herr Doktor?“, wollte Viktor noch wissen.

      „Oh ja, wir haben einen Haufen Kinder – eigene und mitgebrachte, zugeteilte und zugelaufene, ausgeliehene –“, und dann zögerte er für einen Augenblick, „und angenommene.“

      Das war eine dieser Übertreibungen Fellgiebels, die ihm selbst am meisten Spaß machten; dabei hatte er überhaupt nur drei Kinder, davon war eines von seiner Frau in die Ehe mitgebracht worden und eines hatte er vor noch nicht allzu langer Zeit adoptiert.

      Unten an der Haustür sagte er dann noch: „Ich habe noch einige Hausbesuche zu machen, aber morgen, wenn ich gegen Abend wieder nach Ihrem Herrn Vater sehe, dann erzähle ich Ihnen die Geschichte von Jans Adoption.“ –

      Ich sollte erst einmal ein paar alte Freunde von früher aufsuchen, überlegte sich Viktor am nächsten Morgen, was sich jedoch als gar nicht so einfach erwies, denn entweder waren sie fortgezogen, wie er gleich bei zweien hören musste, oder sie waren weg zur Arbeit oder waren überhaupt nicht mehr aufzufinden – er ist einfach zu lange fort gewesen von zu Hause. Dann erst war ihm Bienchen in den Sinn gekommen, was ihn für einen Augenblick glücklich machte. Aber er fand es seltsam, dass ihm Bienchen, wo Straussens doch so nahe wohnten, erst als Letztes eingefallen war. Das kam ihm vor wie ein Verstoß gegen die Regeln familiär begründeter Freundschaften. Ja, wie eine besondere Form der Untreue oder Treulosigkeit, wo doch Familienfreundschaften stets – oder jedenfalls in aller Regel – höher einzustufen waren als gewöhnliche Einzelfreundschaften. Aber Bienchen gehörte für ihn eben nirgendwohin, nicht zu den Klassenkameraden von früher, nicht zum 1846er, dem Sportverein, und schon gar nicht zu seinen Freunden aus dem Internat, dachte Viktor, und zwei Jahre älter als er war sie außerdem … Aber nun machte er sich gleich auf den Weg.

      Das Strausssche Anwesen lag in mittäglicher Ruhe und wirkte verlassen; der Garten, obwohl immer noch schön, war nicht mehr so perfekt gepflegt wie in früheren Jahren. Als Viktor fast schon am Gartentor stand, hörte er von drinnen Musik. Das musste Bienchen sein. Das konnte nur Bienchen sein – ja, es war Bienchen! Er ging noch ein paar Schritte am Zaun entlang, um näher unter ihrem Fenster zu stehen, das nur angelehnt war. Bienchen spielte in einem fort immer wieder dieselben paar Takte, aber wie sie diese spielte! Sie variierte sie unausgesetzt, jedes Mal wieder anders, aber nur in Nuancen unterschieden – was sich da doch alles verändern lässt! Und jedes Mal trat ein etwas anderer Charakter zu Tage.


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