Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel

Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel


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schien Bienchen die richtige Phrasierung gefunden zu haben und wiederholte die paar Takte noch einige Male mit nun kaum mehr erkennbaren Modifikationen. Dann spielte sie im großen Zusammenhang weiter.

      Viktor zögerte zu läuten, er wollte das Spiel nicht stören, läutete dann aber doch, was er im gleichen Augenblick fast schon wieder bereute, aber Bienchen spielte zum Glück weiter. Dafür kam eine ältere Frau in blauer Kittelschürze, die er nicht kannte, aus dem Haus, um ihm das Gartentor zu öffnen. Nach wem sollte er jetzt verlangen? Nach Bienchen? Das ging ja nicht! Oder nach Sabine, das brachte er kaum über die Lippen; oder womöglich nach Fräulein Strauss? Vielleicht am besten ganz offiziell nach ‚Fräulein Sabine Strauss‘ fragen, als ob er es ablese. Aber da nahm ihm die Haushälterin, um die es sich wohl handelte, die Entscheidung schon ab.

      „Sie wollen sicherlich zum Fräulein Bienchen. Der Herr Doktor ist nämlich verreist“, rief sie ihm auf den letzten Schritten zu.

      Sabine erkannte ihn sofort.

      „Der Viktor! Der Viktor!“, rief sie ganz aufgeregt, „wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen!“

      Viktor dagegen hatte im ersten Augenblick Schwierigkeiten, er schien verwirrt.

      „Du bist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, Bienchen, mindestens doppelt so groß geworden!“, sagte er lachend und wie zur Entschuldigung, war doch Sabine, die er als kugeliges Bienchen in Erinnerung hatte, jetzt fast ebenso groß wie er, und der ganze Kälberspeck war verschwunden. Er fand, sie hatte jetzt fast etwas Ätherisches.

      Sie tauschten noch lange Erinnerungen aus, doch dann sagte Sabine, dass sie jetzt wieder arbeiten müsse. Viktor fragte, ob er noch eine Weile zuhören dürfe.

      „Ja, gerne. Früher habe ich das gar nicht gemocht, dabei tut es mir sogar gut, ich übe konsequenter und ich gewöhne mich an Publikum. Du kannst ja dann einfach raushuschen, wenn du weg musst oder wenn es dir zu viel wird.“

      Viktor setzte sich in den dunklen Hintergrund des großen Raumes und lauschte. Es dauerte eine Weile, bis Sabine anfing – was Bienchen da wohl noch gemacht hat die ganze Zeit? Dann spielte sie, sicherlich länger als eine gute Stunde, mit nur kurzen Pausen zwischen den einzelnen Stücken. Viktor kannte nicht ein einziges, aber manche begann er kennenzulernen, weil es häufig genug Wiederholungen gab, oft drei oder vier Mal hintereinander, von dazwischengestreuten Wiederholungen einzelner Passagen ganz abgesehen. Aber die Wiederholungen, auch dieses endlose Wiederholen kurzer Taktfolgen, wieder und wieder, störten ihn nicht – befand er sich doch in der Werkstatt, nicht im Konzertsaal, und da klang alles viel unmittelbarer.

      Sabine schien ihn völlig vergessen zu haben. Ob sie bei ihrem Spiel vielleicht manchmal für ein paar Takte an ihn dachte, ob sie ihm dann vorspielte und gar für ihn spielte? Nein, den Gedanken verwarf er sogleich wieder, das sollte sie nicht, und das wollte er auch nicht. Er mochte nur der stille Zuhörer sein; zuhören, nur zuhören, nichts als zuhören wollte er, und dabei nicht einmal anwesend sein. Viktor spürte, wie verzaubert er war. Leise schob er sich dann doch aus seiner dunklen Ecke heraus weiter nach vorn, um Sabine besser sehen zu können. In einem Adagio-Satz schien ihr Gesicht so gelöst, als ob sie schliefe, die Augen waren fast geschlossen, ihr lockerer Mund wirkte träumend und zeigte manchmal, so zart, dass man es nur ahnen konnten, ein verklärtes Lächeln. –

      Irgendwann am späten Nachmittag schlich sich Viktor hinaus, weil er den Dr. Fellgiebel, der ihm die Geschichte mit der Adoption in Aussicht gestellt hatte, nicht verpassen wollte. Als er zu Hause eintraf, war Fellgiebel schon oben bei seinem Vater. Er wartete in einem Sessel unten in der Halle, die eigentlich nichts anderes als ein geräumiges Treppenhaus war mit einer umlaufenden Galerie auf der ersten Etage.

      „Ah, Viktor, das ist gut, dass ich Sie treffe“, rief ihm Dr. Fellgiebel von oben zu, während er die Treppe herunterkam, „ich muss Ihnen doch die Geschichte von der Adoption Jans noch erzählen!“

      Und unten bei Viktor angekommen, fuhr er etwas irritiert fort: „Können wir uns nicht irgendwo reinsetzen?“

      Offenbar war ihm die Unterhaltung in der Halle allzu öffentlich, und leise sprechen war seine Sache nicht. Sie verschwanden in einem kleineren Raum mit verglaster Tür, der merkwürdigerweise Schreibzimmer genannt wurde, und Fellgiebel begann zu erzählen, noch ehe sie recht saßen.

      „Ja, diese Adoption! – Also: Letztes Jahr im Spätsommer kündigte mein alter Freund Dr. Hossenlopp aus Colmar seinen Besuch an. Wir haben zusammen in Würzburg und München studiert und sind dicke Freunde geworden; durch ihn übrigens habe ich meine Frau Marianna kennengelernt. Er war ja inzwischen zu einem richtigen Franzosen geworden“, lachte Fellgiebel, „und wollte in seinem neuen Auto eine Deutschlandreise mit seiner Frau machen, als erster Anlaufpunkt waren wir hier in Mannheim vorgesehen. Es war alles so schön geplant. Weil herrliches Sommerwetter war und weil das Wochenende bevorstand, haben wir ausgemacht, uns im Michelstädter Stadion zu treffen. Du kennst dieses herrlich gelegene Freibad dort, direkt am Wald? Das schönste Schwimmbad im ganzen Odenwald!“

      Fellgiebel kam mit ‚Sie‘ und ‚du‘ durcheinander, aber darüber freute sich Viktor.

      „Dort wollten wir dann den Tag an der frischen Luft und in der Sonne verbringen, und erst gegen Abend zusammen nach Mannheim zurückfahren. Ich fuhr mit dem Auto schon am zeitigen Vormittag mit den Kindern und einer Tante und deren Mann voraus, meine Frau blieb zu Hause zurück, um Hossenlopps in Empfang zu nehmen und sie nach Michelstadt zu geleiten. Wir verbrachten im Stadion einen vergnügten Vormittag, Hossenlopps schienen sich Zeit zu lassen. Gegen Mittag wurde ich ans Telefon gerufen. – ‚Hallo?‘, ich hörte nur jemanden schwer atmen und spürte im gleichen Augenblick, dass das meine Frau sein musste, ‚Hallo! Marianna!‘, und dann hörte ich sie nach ein paar Sekunden sagen – langsam, ausdruckslos und nicht einmal verzweifelt – ‚er ist tot, sie schwerverletzt.‘“

      Fellgiebel fiel es auch jetzt noch schwer, darüber zu sprechen.

      „Sie waren in Oggersheim, wenige Kilometer vor ihrem Ziel, in einer Kurve gegen eine steinerne Haustreppe geprallt. In der Handtasche von Frau Hossenlopp fand sich ein Zettel mit der Adresse und der Telefonnummer von uns, sodass man die wartende Marianna benachrichtigen konnte. Sie ist mit einem Taxi sofort ins Krankenhaus nach Ludwigshafen gefahren, gerade noch rechtzeitig wohl, um der Sterbenden ihr Wort zu geben, sich um die beiden zu Hause gebliebenen Kinder Jean und Germaine zu kümmern – ‚als ob es meine eigenen wären‘, hat ihr meine Frau versprochen.“

      „Ah – und das ist der Jan?“

      Fellgiebel nickte und fuhr fort: „Nach einigen Verwicklungen mit den französischen und deutschen Behörden und endlosen Laufereien meiner Frau – du machst dir da keinen Begriff! – landeten die beiden in dem jüdischen Kinderheim von Claire Weimersheimer in Herrlingen. Herrlingen liegt am Rand der Schwäbischen Alb, in der Nähe von Ulm. Zu diesem Kinderheim hatten wir eine enge Verbindung, weil wir dort schon Jahre vorher unseren behinderten Sohn Siegfried untergebracht haben und sich ein fast freundschaftliches Verhältnis, vor allem durch meine Frau, zu Claire Weimersheimer entwickelt hatte. Ein Glück war, dass dieses Geschwisterpaar, bei dem es sich übrigens nicht um die leiblichen Kinder von Hossenlopps handelt, sondern das von ihnen adoptiert worden war, zweisprachig aufgewachsen ist. Die beiden waren noch keine zwei Monate in Herrlingen, da wurde plötzlich die schon lange erwogene Auswanderung des ganzen Kinderheimes nach Palästina aktuell …“

      Viktor hörte mit sichtlichem Interesse zu und freute sich, dass ihn dieser wichtige Herr in seinem Erzähldrang so ernst nahm, und Fellgiebel tat es wohl, einen so aufmerksamen Zuhörer gefunden zu haben, und so holte er weit aus.

      „Vielleicht hätte Frau Weimersheimer diesen Entschluss schon viel früher fassen sollen, aber sie schaffte das einfach nicht, hat sie sich doch tatsächlich immer wieder die Frage gestellt, auch in langen Nachtgesprächen mit uns, ob sie Deutschland denn aufgeben soll. Deutschland aufgeben, hat sie gesagt; du musst das verstehen, Viktor, im Sinne von ‚Deutschland preisgeben‘, es seinem Schicksal überlassen, sich zurückziehen, das hat sie monatelang umgetrieben. Frau Weimersheimer war nicht die einzige, die so dachte. Das waren deutsche Juden. Die verließen nicht Feindesland, obwohl sie allen Grund gehabt


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