Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel

Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel


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man war doch offen und aufgeschlossen einander gegenüber. Und da wird ihr dann plötzlich abverlangt, etwas Schönes zu verbergen, es vor den anderen zu verstecken, zu vertuschen, so zu tun, als ob man sich nicht kenne. –

      Wahrscheinlich war die strenge Geheimhaltung und das strikte Verbergen für Herkommer noch viel wichtiger als für sie, dachte Violet. Schützen wird er mich natürlich nicht können, wie er meint, da ist er naiv. Aber das Naive in so vielen Dingen, das Unbefangene, das ist ja immer wieder auch das Schöne an ihm. Ist er auf die Braunen hereingefallen oder ist er vielleicht doch fanatisch, wie Tante Constanze gefragt hat? Ich werde nicht klug aus ihm.

      Violet wusste nicht so recht, ob sie sich über Ludwig oder sich selbst ärgern sollte. Es gab Augenblicke, da hasste sie ihn geradezu, aber zugleich wusste sie, dass sie nicht wieder von ihm loskommen würde. Aber loskommen, das wollte sie doch gar nicht, wie sie sich gleich wieder selbst versicherte.

      Sie hielt die Augen immer noch geschlossen und spürte, dass Herkommer noch immer auf dem Bettrand saß.

      „Ich weiß, Ludwig“, rief sie plötzlich laut und setzte sich mit einem Ruck auf, sodass Herkommer fast erschrak, „ich werde eine Porträtreihe von dir machen!“

      „Machst du denn auch Porträts? Ich habe bei dir immer nur an wilde Landschaften gedacht.“

      „Oh doch, schau nur in den zwei Bildbänden, die ich dir geschenkt habe, die Menschen einer Landschaft sind mir genauso wichtig. Sie gehören zur Landschaft und die Landschaft zu ihnen, und manchmal erklären sie einander sogar. Wenn ich von einem Menschen ein Porträt gemacht habe – das sind ja meistens gleich mehrere –, verstehe ich das Gesicht danach besser als vorher; und wenn ich ein Gesicht erst einmal wirklich verstanden habe, dann verstehe ich die ganze Person.“

      „Aha, deshalb willst du mich porträtieren“, lachte Herkommer.

      „Ja, tatsächlich! Eben das ist der Grund! Wir kennen uns ja schon seit einiger Zeit, aber ich kenne dich noch immer nicht genug. Ich werde einfach nicht klug aus dir.“

      Und dann zärtlich: „Ich will dich doch ganz genau kennenlernen, Ludwig.“

      Die Aufnahmen dauerten Stunden. Violet war mit einer bemerkenswerten Konzentration bei der Sache, wie er das an ihr gar nicht kannte. Sie sprach kaum ein Wort und huschte lautlos zwischen Kamera, Scheinwerfern und Reflexionsflächen hin und her, um immer wieder, kaum erkennbar, eine Stellung oder eine Einstellung um eine Nuance zu verändern. Herkommer hätte nie gedacht, dass das eines solchen Aufwandes bedarf.

      „Da ginge ja malen schneller“, spottete er.

      „Soll ich dich knipsen“, hielt Violet für einen Augenblick mit ihren Vorbereitungen inne, „oder dich porträtieren?“

      Ludwig ließ alles mit sich geschehen, und zum Schluss wollte sie dann noch ein Bild von ihm machen in einer kühn wirkenden Position. Das war ihr alles irgendwie zu lahm bis dahin, zu unbeteiligt, obwohl sich Herkommer alle Mühe gab.

      „Setz deinen rechten Fuß hier auf den Stuhl! Und jetzt beugst du dich etwas vor und stützt dich mit dem rechten Unterarm auf dem Knie ab – den Unterarm abwinkeln! Ja, so.“

      „Kopf etwas höher“, rief sie und kam unter ihrem schwarzen Tuch hervor, „schau etwas mehr über die rechte Schulter, ja, ein Stück an mir vorbei! Den Blick noch ein wenig höher! Sehr gut! Du musst entschlossen hinausblicken ins Land! Du musst spähen! – Spähe!“

      Mein Gott, jetzt sieht er aus, als ob er von Thorak geschaffen sei, dachte Violet, als sie wieder hinter ihrem Apparat hervortrat und Herkommer so dastehen sah.

      „Mal gespannt. Das letzte Bild kannst du deinen Parteibonzen vorlegen, wenn sie mal ein Bild von dir brauchen.“

      „Ach, das sind keine Bonzen, das sind ganz natürliche Menschen. Pfundsleute, zum Teil!“

      Später, noch in der Dunkelkammer, schaute sie sich dann die Bilder in immer wieder anderer Reihenfolge nachdenklich an und schließlich befand sie mit großer Gewissheit: Er ist nicht fanatisch. Er kann gar nicht fanatisch sein. Dazu brauchte es ein ganz bestimmtes böses Feuer, das er nicht hat. Er ist nicht böse. Aber er ist eiskalt. Oder richtiger: nicht einmal im Affekt zu erhitzen und aus der Balance zu bringen. –

      Ein paar Wochen später hörte Violet beim Friseur, dass der Konditor Rothenburger auswandert. Die Friseuse sprach unablässig, machte aber, auch mitten im Satz, immer wieder einmal eine kleine Pause, um, etwas zurückgebeugt, ihre letzten Schnitte zu überprüfen. Es war schon recht, man merkte genau, dass ihr der Fassonschnitt wichtiger war als das Schwätzen.

      „Wissen Sie, das ist nämlich ein Jud – nur fort damit! Aber sein Café bleibt! Da bin ich froh, ich bin all die Jahre immer gern hingegangen –

      Die schönen Kirschbaummöbel und alles so hell –

      Sein Konditormeister, der soll das Café weiterführen –

      Das ist eine Goldgrube, man kann hinkommen, wann man will, sind immer Leute da –

      Der Herr Mönch, das ist nämlich der Konditormeister, der kommt zum Haarschneiden immer zu uns –

      Der hat schon beim Rothenburger gelernt, dazwischen war er dann ein paar Jahre in Zürich in den feinsten Cafés dort –

      Das Café Rothenburger ist wirklich eines der schönsten Cafés bei uns hier in Nürnberg.“

      Violet traf Rothenburger am Tag darauf auf dem Markt. Der sonst so fröhliche und stattliche Mann wirkte niedergeschlagen und kam armselig gebeugt daher.

      „Stimmt es, dass Sie auswandern wollen?“

      „Ja, das stimmt schon“, sagte Rothenburger schwer atmend, „nach Österreich. Ich kann ja keine Fremdsprachen.“

      „Herr Rothenburger!“, richtete sich Violet auf, „wir dürfen die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen! Gut, so schön wie vorher wird’s nimmer, aber das renkt sich wieder ein. Das sind die Auswüchse am Anfang.“

      „Ich kann nicht mehr lange warten, ich habe die Verglasung der Terrasse noch nicht ganz bezahlt, und seit dem Boykott-Samstag kommen fast keine Gäste mehr. Ich hätte mich vielleicht früher trauen sollen, den Davidstern gleich wieder wegzumachen, wie der Buchhändler Waldteufel vis-à-vis, de Farbe ging verdammt schlecht wieder runter! Aber auch jetzt noch ist das Café wie ausgestorben. Und wenn halt immer nur so wenig Gäste da sind, kommen bald überhaupt keine mehr. Die Menschen wollen im Kaffeehaus nicht allein sein. Ich brauche gegenwärtig jeden Tag ungefähr das Doppelte von dem, was ich einnehme. Ich kann Ihnen im Kalender fast auf den Tag genau zeigen, wann ich Konkurs mache, wenn ich dableibe.“

      Er machte eine Pause, aber dann kehrte schon wieder ein wenig Farbe in sein trauriges Gesicht zurück:

      „Ich könnte vielleicht in St. Pölten, das ist ein Stück vor Wien, ein kleines Café am Rathausplatz übernehmen. Ich muss freilich alles wieder neu aufbauen, das sind alte Leute, da war in den letzten Jahren nicht mehr viel los. Wegen der Konditorei mache ich mir keine Sorgen, da kann ich gut mithalten, nur die vielen Kaffeesorten und Zubereitungsarten in Österreich, die muss ich noch studieren. Aber das geht schon. Der Mönch wird das Café hier übernehmen. Das ist ein rechtschaffener Mann und ein ganz ausgezeichneter Konditor. Der hat bei mir gelernt. Der junge Kerl hat natürlich nicht viel Geld, müssen wir mal sehen, wie wir das machen. Aber er hat mir versprochen, wenn es mal wieder besser wird und das alles vorbei ist hier, machen wir’s wieder rückgängig. Dann kriegt er sein Geld von mir zurück und ich werde ihm zum Dank noch obendrauf mein kleines Café in St. Pölten schenken!“, strahlte Rothenburger.

      Der Gute, er ist noch nicht richtig abgestürzt, da macht er schon wieder die schönsten Zukunftspläne, dachte Violet, aber sie sagte nur: „Passt mir ja auf, so genannte Scheinübertragungen werden streng bestraft!“ –

      3_Ein nationaler Aderlass

      Straussens Hände zitterten, als er am Morgen das gerade erlassene ‚Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘


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