Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel
erzählte schon weiter.
„Man hatte Frau Weimersheimer vertraulich bedeutet, dass die beantragte Ausreisegenehmigung wohl in Kürze erteilt werde. Die entstandene Unruhe und Aufregung im Kinderheim war unbeschreiblich, fast täglich reisten ratlose Eltern an, um sich mit Frau Weimersheimer zu besprechen. Auch für sie selbst war das eine äußerst schwierige Geschichte. Bedenken Sie nur, Viktor, diese Ausreisegenehmigung galt nur für eine begrenzte Anzahl von Kindern und reichte nicht für alle aus. Wichtig war für sie, möglichst bei allen jüdischen Kindern, die ja die eigentlich gefährdeten waren, die Zustimmung der Eltern zu erlangen, was offenbar in den meisten Fällen gelungen ist. Bei den anderen Kindern waren dann alle möglichen sonstigen Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen, und die beiden kleinen Hossenlopps standen als elternlose Kinder ohnehin an bevorzugter Stelle. Aber du glaubst nicht, was wir für ein Theater hatten mit den Vormundschaftsgerichten und dem Tribunal des tutelles, mit Deutschland und Frankreich und Hin und Her.
Am einfachsten wäre es wahrscheinlich gewesen, wir hätten die beiden adoptiert, aber wir sahen gleich, dass das in der kurzen Zeit, die vermutlich noch blieb, wohl nicht mehr zu schaffen war. Außerdem belastete uns ein anderes Problem noch viel mehr: Frau Weimersheimer hätte unseren Sohn Siegfried gern nach Palästina mitgenommen, denn sowohl sie als auch wir sahen immer wieder, dass er am besten noch in ihrem Kinderheim gedieh. Marianna, also meine Frau, geriet in einen fürchterlichen Konflikt. Sie hing an ihrem Sohn, gerade weil er so benachteiligt war. Schon dass sie ihn seinerzeit in das Kinderheim weggeben musste, war ihr manchmal wie ein Abschieben vorgekommen. Ihn jetzt aber nach Palästina mitzuschicken, das schien ihr der komplette Verrat. Aber dann nahm die Geschichte eine plötzliche Wendung, indem sich ziemlich gleichzeitig zweierlei ereignete. Das eine war: Wir hatten Siegfried, weil das in Herrlingen zurückbleibende Rest-Kinderheim eine ungewisse Zukunft hatte, wieder zu uns nach Hause genommen und versuchten nun, ihn hier regulär einzuschulen. Bei der Untersuchung durch den Amtsarzt –“, und an dieser Stelle unterbrach er sich und rief in plötzlichem Zorn:
„Oh, ich kenne diesen Herrn Kollegen sehr wohl!“, und fuhr dann mühsam beherrscht mit immer noch bebender Stimme fort, „da erklärte doch dieser Kerl Marianna abschätzig, die eine Hand dabei in der Hosentasche, ihr Siegfried sei ‚rassenhygienisch und somit für den deutschen Volkskörper eine bloße Ballastexistenz und nichts weiter‘. Man sollte es nicht glauben, Viktor, eine ‚Ballastexistenz‘ hat er Siegfried genannt, das ist ein Lieblingswort dieser Herrschaften! Ihn interessiere nicht der Einzelne. Der einzelne Patient – das sei früher gewesen. Den modernen Mediziner, und allen voran den nationalsozialistischen Amtsarzt interessiere in erster Linie die Gesundheit des Volkskörpers, und dieser habe sich alles andere unterzuordnen – und lauter solches Geschwätz. In der gesamten Geschichte der Medizin habe es noch keine so radikale Veränderung der Sichtweise gegeben, jetzt erst beginne das Zeitalter der modernen Medizin, sicherlich noch nicht von allen heutigen Ärzte richtig begriffen, die den Eid des Hippokrates schülerhaft viel zu vordergründig verstünden – das war der kleine Hieb gegen mich. Und als dann Marianna in ihrer Empörung und Verzweiflung mit Freunden darüber sprach, da erfuhr sie, das Gerücht gehe, dass solchen Kindern, wenn erst einmal der Amtsarzt darum wisse, die Sterilisierung und eines Tages möglicherweise sogar der Tod drohe.“
Danach sprach Fellgiebel wieder ganz ruhig.
„Das andere, was zur gleichen Zeit geschehen war, betraf Jan. Am gleichen Tage, oder höchstens einen Tag vorher, während sich die ganze Reisegruppe, zum großen Teil zusammen mit den Abschied nehmenden Eltern, schon zur Einschiffung in Bremerhaven zu versammeln begann, wurde bei Jan eine beginnende Diphtherie diagnostiziert, sodass er nicht mit ausreisen konnte. Frau Weimerheimer, die natürlich die Ausreisegenehmigung mit der mühsam ausgehandelten Anzahl der Kinder möglichst ausschöpfen wollte, wandte sich in alter Freundschaft, wie sie sagte, noch einmal an uns, ob wir Siegfried nicht doch mitgeben wollten. Das war für Marianna in ihrer panischen Angst, in die sie durch die Bemerkung dieses Amtsarztes geraten war, ein Zeichen des Himmels, und sie brachte Siegfried unter Tränen noch in der gleichen Nacht nach Bremerhaven.“
„Jetzt hoffen wir nur“, fuhr Dr. Fellgiebel fort, „dass wir ihn eines Tages gesund wiedersehen.“
„Und Jan?“, fragte Viktor. Da leuchteten Fellgiebels Augen leuchteten wieder auf:
„Es erschien uns nur konsequent, ja es war für uns geradezu selbstverständlich, nun den armen zurückgelassenen Jan zu adoptieren. Das war nicht einfach – war es doch für Jan eine nochmalige Adoption und diesmal sogar über eine Staatengrenze hinweg –, aber wir taten alles für ihn, wo er uns doch anstelle von Siegfried in den Schoß gefallen war.“ –
Viktor war von Sabines Geigenspiel so entzückt, ja hingerissen, dass er schon zwei Tage später erneut bei ihr erschien, diesmal mit einem Sträußchen, wie ihm das sein Vater schmunzelnd angeraten hatte.
„Ich hoffe, ich gehe dir nicht auf die Nerven, Bienchen, wenn ich schon wieder frage, ob ich dir zuhören darf.“
Sabine schien sich zu freuen, war aber nicht so ausgelassen froh wie bei seinem letzten Besuch.
„Ich sagte dir doch vorgestern schon, Viktor, es tut mir sogar gut, wenn ich nicht ganz für mich allein üben muss. Aber hast du denn so viel Zeit?“
„Das Semester geht erst in ein paar Wochen los. Ich werde in Erlangen vielleicht Naturwissenschaften studieren. Oder vielleicht doch Geschichte, ich weiß noch nicht so genau.“
„Nun ja, Studium, das habe ich hinter mir.“ Und dann mit einem tiefen Seufzer: „Es hatte sich nach meinen beiden Preisen alles so schön angelassen, meine Agentur schleifte bald mehr Engagements und Konzerte heran, als ich packen konnte. Aber in den letzten Wochen kommt eine Absage nach der anderen. Das sind nicht Absagen auf Anfragen von uns oder auf irgendwelche Bewerbungen, nein, sondern Absagen für schon fest vereinbarte Konzerte – feste Verträge werden einfach annulliert!“
„Das darfst du dir nicht gefallen lassen, Bienchen. Vertrag ist Vertrag!“
„Aber mein Agent meint, übrigens sogar mein Vater als Jurist, dagegen sollte man auf keinen Fall klagen, sonst sei man endgültig draußen. Mich ärgert mehr noch als die Absagen selber die Art und Weise, wie da abgesagt wird! Gestern kam wieder eine.“
Sabine zog einige Briefe hervor, das waren offenbar solche Absagen.
„Entweder sind sie kurz und schroff, ohne jede Begründung oder Entschuldigung oder gar Bedauern, gewöhnlich mit ‚Heil Hitler!‘ drunter. Oder es werden irgendwelche windigen Vorwände ins Feld geführt und eine Verschiebung bis auf Weiteres angekündigt. Besonders schäbig die scheinheilige Anfrage, ob eine Mitgliedschaft in der neu geschaffenen Reichskulturkammer respektive in der Reichsmusikkammer besteht, um dann fortzufahren“, Sabine beugte sich vorlesend über den Brief, „‚wobei wir darauf aufmerksam machen möchten, dass wir andernfalls das Konzert nicht durchführen können resp. nicht durchführen dürfen‘. Ein aufrichtiges Bedauern, Viktor, war eigentlich nur in einer einzige Absage zu spüren, und da merkte man auch, welch rücksichtsloser Druck von oben auf die Veranstalter ausgeübt wird. Und meinen Mendelssohn darf ich schon gar nicht mehr spielen!“
Viktor schaute sich die Absagebriefe an, dann fuhr Sabine fort: „Ich habe eigentlich nur noch im Ausland Chancen. Mein Agent ist Österreicher, das ist schon mal gut, und ein Konzert in Graz ist bereits unter Dach und Fach, und eines in Genf und Zürich ist fest abgesprochen und muss nur noch unterschrieben werden. ‚Dich bring ich ganz groß raus!‘, hat mein Agent gesagt, und er hat ja schon damit angefangen. Vater wollte mir von nun an sogar die Guarneri geben, wenn sie demnächst wieder zurück ist. Die habe ich ja bisher nur zu Hause gelegentlich mal spielen dürfen – einfach unerreicht! Da bin ich inzwischen schon voll drin! Aber das ist jetzt in diesen unruhigen Zeiten einfach zu gefährlich, die kommt hier in den Tresor.“
„Ist es für dich nicht ein bisschen – wie könnte man sagen? – schmerzlich, oder ein enttäuschend vielleicht, wenn du jetzt, wo du die Guarneri schon so gut kennst, bei Konzerten auf deinem Instrument spielen musst?“
„Nein, meine Geige ist ja nicht schlecht, da ist alles da – es fehlt nur dieses ganz Besondere, was die Guarneri ausmacht.