Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson
Filadelfia gelten sollte, vierzig Meter vom Fundort des Opfers entfernt.
Tomás musste einräumen, dass ein seriöser Journalist das Gebäude zuerst überprüft hätte, bevor er es in einem Zeitungsartikel erwähnte; er selbst hätte genau das vor ein paar Jahren noch getan. Aber er war schon seit einiger Zeit ziemlich frustriert wegen seiner Kolumne, die niemand zu lesen schien – außer Mario und vielleicht einem Dutzend Bekannter, und die auch nicht immer mit dem größten Wohlwollen.
Er verspürte wieder das unangenehme Stechen, das ihn schon am Vortag heimgesucht hatte, als er die Hausnummer erwähnt hatte, ohne den Bewohner des Hauses zu kennen. Noch hatte er genügend Skrupel, dass die Alarmglocken läuteten, wenn er gegen journalistische Grundregeln verstieß, doch manchmal überwog sein Zynismus. Jedenfalls führten die Gewissensbisse nicht mehr zwingend zur Selbstzensur. Tomás erinnerte sich jetzt, dass es in demselben Artikel noch eine weitere Stelle gab, die ihm Bauchschmerzen bereitet hatte. Er hatte geschrieben: »… so würde es am Ende doch niemanden überraschen, wenn wir nach erfolgreichem Abschluss der Ermittlungen feststellten, dass das Leben wieder einmal die Kunst nachahmt.« Ihn hatte nicht nur das alberne Klischee gewurmt, sondern auch die Andeutung, Dosantos’ Filme hätten etwas mit Kunst zu tun. Dennoch hatte er den Satz stehen lassen und den Text abgeschickt.
»Wem gehört denn das Haus?«, fragte Tomás inzwischen doch nervös.
»Du weißt es wirklich nicht?«, erwiderte Mario ungläubig und stellte die Geduld seines Freundes einmal mehr auf die Probe.
»Raus damit, wer wohnt da?«, bellte Tomás verärgert, weil Mario ihn so lange hinhielt.
»Wie zum Teufel konntest du eine Adresse veröffentlichen, ohne vorher zu überprüfen, wer da wohnt?«, gab Mario zurück und rächte sich für die jahrelange Demütigung, immer nur das fünfte Rad am Wagen zu sein.
Tomás war inzwischen so aufgebracht, dass er unwillkürlich Marios versehrtes Bein anstarrte, über das nie gesprochen wurde. Als er ihm wieder in die Augen sah, war dessen Blick wie gewohnt ausweichend.
Immerhin lieferte Mario ihm jetzt die gewünschte Information. »Wie es aussieht, befindet sich in dem Haus seit Kurzem das Ersatzbüro des Innenministers. Du hast also praktisch Salazar öffentlich an den Pranger gestellt.«
Das saß. Augusto Salazar war der meistgefürchtete Mann der neuen Regierung. Die PRI war nach zwölf Jahren in der Opposition unter einer schwachen, ineffizienten PAN-Regierung wieder in Los Pinos eingezogen. Der deutliche Sieg des neuen Präsidenten Alonso Prida war in den Augen vieler ein Zeichen dafür, dass das Land sich nach einer starken Führung sehnte. Die Opposition sowie zahlreiche Politikbeobachter waren der Auffassung, Salazar, als rechte Hand des Präsidenten, sei entschlossen, den Volkswillen als Vorwand zu missbrauchen, um ein autoritäres Regime aufzubauen und der PRI über mehrere Amtszeiten hinweg eine stabile Herrschaft zu garantieren.
Tomás klopfte Mario auf die Schulter und ließ sich auf einen Sessel sinken. Er brauchte jetzt einen Freund und keinen Sparringspartner. Er konnte sich zwar nicht denken, was Salazar mit dem Mord an Dosantos zu tun haben könnte, aber ihm war klar, dass er sich mit der Andeutung eines Zusammenhangs eine hübsche Grube gegraben hatte.
»Vielleicht sollte ich für eine Weile ins Ausland gehen, bis sich alles geklärt hat«, sagte Tomás wenig überzeugt. Mit den achthundert Dollar, die er zurückgelegt hatte, würde er nicht weit kommen.
»Jetzt warte erst mal ab«, erwiderte Mario. »Du bist im Moment der Einzige, der vermeintlich über den Tatort Bescheid weiß. Wenn du jetzt abhaust, könnte die Polizei annehmen, dass du selbst in die Sache verwickelt bist. Als Flüchtiger machst du dich verdächtig.«
»Mach keine Witze, ich hab mit der Sache nichts zu tun. Das Detail hab ich von einem Freund, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, es in meinen Artikel einzubauen, das ist alles«, verteidigte sich Tomás.
»Und wer ist dieser ominöse ›Freund‹?«, erkundigte sich Mario und malte Anführungsstriche in die Luft.
»Kennst du nicht«, antwortete der Journalist düster. Bei dem Gedanken an seinen Informanten wurde Tomás klar, dass es sich bei der Grube wohl eher um einen Abgrund handelte.
»Man hat dir eine Falle gestellt. Wir müssen uns mit Amelia und Jaime treffen.«
3
1984
Gefangen im Überschuss der Hormone scharwenzelten die drei Jugendlichen um Amelia herum. Seit der Grundschule war sie die Anführerin der Gruppe, die sich die Blauen nannte. Der Name rührte von der Farbe der französischen Notizbücher her, die ihnen Jaimes Vater von seinen Reisen mitbrachte.
Tomás und Jaime versuchten gelegentlich, Amelia die Führung streitig zu machen, doch deren Schlagfertigkeit war nach wie vor konkurrenzlos. Jaime hatte einen reichen Vater, eine Riesenvilla mit Swimmingpool im Garten und immer die neuesten Sachen aus dem Ausland auf seiner Seite, und Tomás punktete mit seiner Sanftmut und Warmherzigkeit. Mario hatte nichts vorzuweisen, aber er war ein treuer Freund und machte bei allen Schandtaten mit, die seinen Kameraden so einfielen. Amelia war diejenige, die sie alle als Gruppe zusammenhielt. Im Schutz ihrer schlagfertigen Antworten, mit denen sie ihnen so manchen Typen an der Schule vom Leib hielt, verbrachten sie ihre Kindheit. Mit ihrer Begabung, Lehrern und Schülern bleibende Spitznamen zu verpassen, verschaffte sie sich allgemeinen Respekt. Mit vierzehn kam ein weiteres schlagendes Argument hinzu: ihr Körper, der sich schneller entwickelte als der ihrer Freunde.
Damals redeten die vier über kaum etwas anderes als Liebe und Sex, und auch auf diesem Gebiet war Amelia den anderen um Längen voraus. Als Tochter einer feministischen Sexualwissenschaftlerin wuchs Amelia in einem Haushalt auf, in dem die Kinder so offen über ihren Penis beziehungsweise ihre Vagina redeten wie andere über eine Halsentzündung oder das rasante Wachstum der Fingernägel. Anfangs war sie überrascht über die verärgerten und manchmal sogar aggressiven Reaktionen ihrer Mitschüler, wenn sie über diese Dinge sprach. Doch als sie in die Pubertät kamen, wurde ihr zunehmend bewusst, welche Vorteile ihr die Ungezwungenheit und das Wissen auf einem Gebiet verschafften, das alle faszinierte. Sie hielt Vorträge und schüchterte ihre Kameraden ein, für die sie zu einer Art Orakel wurde, das ihnen offenbarte, was sie von den dunklen, unbekannten und unwiderstehlichen Gefilden ihres zukünftigen Sexuallebens zu erwarten hatten.
Aber die Rolle brachte sie mitunter auch in Schwierigkeiten. An einem Freitagmittag zwischen zwei Unterrichtsstunden sahen die vier Freunde ihren Klassenkameraden bei einem leidenschaftlich ausgetragenen Basketballspiel zu. Die Blauen verstanden sich selbst als kultivierte Intellektuelle. Ein paar Monate zuvor hatte sich Tomás mit seiner Auffassung durchgesetzt – vor allem gegen Jaime –, Sport zu treiben sei widernatürlich. Tomás selbst war durchaus athletisch, doch er entwickelte eine Vorliebe fürs Lesen und war zu dem Schluss gekommen, dass er mit seinen sachkundigen und provokativen Aussagen mehr punkten konnte als mit gelegentlichen Korbwürfen.
»Habt ihr jemals eine Kuh gesehen, die wie bekloppt herumrennt, nur damit sie ins Schwitzen kommt? Der Sport ist wider die Natur«, konfrontierte er die anderen mit einem Argument, das diese kaum widerlegen konnten.
»Aber es ist gesund, Sport zu treiben«, entgegnete Jaime, der von allen am sportlichsten war und jeden Nachmittag in einem Karateverein trainierte.
»Klar, aber nur so lange, bis du dir den Knöchel verstauchst oder dir jemand mit einem Kopfstoß die Nase bricht, dann wird es ungesund«, konterte Amelia, die zwar gut im Volleyball war, sich aber über den immer deutlicher hervortretenden körperlichen Nachteil gegenüber ihren männlichen Spielgefährten ärgerte.
»Für den Mann ist der Sport ein Weg, seine Fähigkeiten als Jäger und Krieger zu trainieren und bei Gefahr reagieren zu können«, verteidigte sich Jaime mit einem Satz, den er von seinem Karatelehrer gehört hatte.
»Schwachsinn«, hielt Amelia dagegen. »Die Zivilisation hat mit der Entwicklung des Gehirns zu tun, nicht mit der der Muskeln. Auf Bäume klettern zu können, ist kein zivilisatorischer Vorteil.« Und damit war die Diskussion beendet.