Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson

Die Korrupten - Jorge Zepeda Patterson


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zuvor treffend getauft – dem Nazi, dem größten Angeber der Schule, einen Schubs verpasste. Sie wussten, dass das Konsequenzen haben würde. Möhre blickte ungeduldig zur Uhr, die auf einer Seite des Sportplatzes hing, und es war nicht zu übersehen, dass er das erlösende Läuten der Schulglocke herbeisehnte. Die Retourkutsche des Nazis ließ nicht lange auf sich warten: Bei der nächstbesten Gelegenheit stürzte er sich auf sein Opfer und verpasste ihm einen Ellbogenstoß gegen den Kopf. Möhre ging wie ein Mehlsack zu Boden, sein Schädel machte beim Aufprall auf den Bodenplatten ein merkwürdiges Geräusch.

      »Idiot«, sagte Amelia.

      »Mann, Möhre!«, rief Mario entsetzt, unterdrückte aber den Impuls, hinzurennen, als er sah, dass seine Freunde sich nicht rührten.

      »Man müsste ihm das Handwerk legen«, sagte Tomás leise und wünschte sich, er hätte die Muskeln und den Mumm, um sich mit dem Nazi anlegen zu können. Wie in den meisten Fällen war seine Einstellung edler als seine Taten.

      »Keine Sorge, in dem Muskelpaket steckt nur ein armer kleiner Wicht. Er wird sich sein eigenes Grab schaufeln«, warf Amelia verächtlich ein.

      Jaime war sich da nicht so sicher. In mehr als einer Situation hatte er den Nazi um seine breiten Schultern und die Autorität beneidet, die ihm sein Körperbau bei den Mitschülern verschaffte. »Na ja, unter der Dusche ist er alles andere als ein Wicht. Und auf der Toilette weiß man nicht, ob er pinkelt oder eine Kobra in die Tränke hält«, entgegnete er.

      Die drei Jungs feierten den Kommentar unter dem kritischen Blick Amelias.

      »Der Witz ist alt und grottenschlecht. Immer diese Märchen. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die besagen, je größer der Penis, umso wahrscheinlicher ist es, dass der Kerl schwul ist«, setzte sie noch einen drauf.

      Die drei protestierten und waren sich einig, dass sie sich das ausgedacht hatte. Mario jedoch überlegte insgeheim, dass er sich, wenn das stimmte, wenigstens keine Gedanken mehr über seinen winzigen Penis machen musste.

      »Im Ernst, das hab ich in einem Buch von meiner Mutter gelesen«, behauptete Amelia im Brustton der Überzeugung. In Wahrheit erinnerte sie sich nicht mehr genau, ob, und wenn ja, wo sie es gelesen hatte, aber da musste sie jetzt durch. Zurückrudern kam für sie nicht infrage.

      Ihre Freunde wollten jedenfalls nichts davon wissen und verlangten Beweise. Sie versicherte ihnen, Beweise seien überhaupt kein Problem, sie würde sie am nächsten Tag zu Jaime mitbringen, wo sie sich wie jeden Samstag zum Schwimmen und gemeinsamen Mittagessen verabredet hatten.

      Es würde das letzte Treffen sein, bevor sie sich die ganzen Sommerferien über nicht sahen. Amelia würde die nächsten Wochen im Haus der Familie in Malinalco verbringen, keine zwei Stunden von Mexiko-Stadt entfernt. Jaime würde mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern nach Miami reisen und Tomás die Ferien mit seinen Cousins und Cousinen in Puerto Vallarta verbringen. Mario, dessen Eltern weniger wohlhabend waren, würde in der Stadt bleiben, obwohl er den Blauen erzählt hatte, dass ihn ein Onkel auf eine Rinderzuchtfarm in Tamaulipas mitnehmen wollte.

      Amelia hoffte auf einen raschen Themenwechsel, aber die Schulglocke, die sie zurück ins Klassenzimmer rief, machte ihr einen Strich durch die Rechnung.

      Jaime machte jede Ausflucht unmöglich. »Morgen zeigst du uns die Stelle, okay?«

      »Klar. Aber ihr werdet es bereuen«, behauptete Amelia mit ungetrübtem Selbstvertrauen.

      Die anderen drei lachten nervös, machten aber deutlich, dass sie sie nicht davonkommen lassen würden.

      Am Abend studierte Amelia aufmerksam die Abbildungen in den Anatomie- und Aufklärungsbüchern im Arbeitszimmer ihrer Mutter, fand aber nichts, was ihre Theorie gestützt hätte. Jetzt hatte sie ein echtes Problem: Sie wollte nicht als Lügnerin dastehen, schon gar nicht am letzten Tag vor den Ferien. Dann hätte sie nicht einmal die Möglichkeit, das Ganze zeitnah auszubügeln. Ihre Autorität würde einen Knacks bekommen – und das ausgerechnet beim Thema Nummer eins.

      Sie suchte nach einem Ausweg. Ihr fiel ein, dass auch ihr Vater eine Reihe von Büchern über Sexualität besaß. Vor einiger Zeit hatte sie mal darin geblättert, aber es gab keine Abbildungen und die Texte waren voll von Freud’schem Kauderwelsch. Damals hatte sie das Versteck der Bücher interessanter gefunden als ihren Inhalt. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die völlig ungezwungen über alles sprach, was den Körper betraf, wirkte die Gelassenheit ihres Vaters bei solchen Gesprächen eher aufgesetzt. Amelia hatte schon als kleines Mädchen durchschaut, dass er sich hinter seiner psychoanalytischen Fachsimpelei nur verschanzte, um das Thema möglichst abzukürzen.

      Sie öffnete die dritte Schublade des Schreibtischs, der kaum benutzt wurde, weil ihr Vater die moderne Ausstattung seines Büros in Santa Fe bevorzugte, dem »mexikanischen San Diego«. Wie beim letzten Mal nahm sie die schweren Aktenmappen heraus, die die drei Bücher mit festem Einband verbargen. Eins war in englischer Sprache, und Amelias Hoffnungen, darin etwas Brauchbares zu finden, hielten sich in Grenzen. Während sie die Bücher aus dem hinteren Teil der Schublade fischte, fiel ihr auf, dass deren Boden mit einem kaffeebraunen Fotokarton ausgelegt war. Darunter fand sie in einem improvisierten Versteck zwei Zeitschriften. Erst verwundert, dann fasziniert, sah sie sich die Hefte genauer an und stellte fest, dass es sich um pornografische Zeitschriften mit ausschließlich männlichen Protagonisten handelte.

      Zwar sagte sie sich, dass der Fund auch mit einem homosexuellen Klienten zu haben könnte, aber sie wusste, dass ihr Vater keine Patientenakten oder sonstiges Material aus den Therapiesitzungen mit nach Hause brachte. Allmählich dämmerte es ihr, und ihr kamen immer mehr Bilder in den Sinn, die sie vorher nicht bewusst wahrgenommen hatte: die grellbunten Hemden, die er trug, der übertrieben gespitzte Mund beim Trinken und der kühle Umgang zwischen ihm und ihrer Mutter.

      Amelia sank auf dem Schreibtischstuhl zusammen. Nie hatte sie sich ihrem Vater näher gefühlt als in diesem Moment. Ihr rebellisches Wesen hatte über die Jahre allzu viele Reibungen mit einem Menschen verursacht, der von Ordnung und Ästhetik wie besessen zu sein schien. Er war nicht wirklich streng, ließ aber doch keine Gelegenheit aus, seine Tochter sanft, aber bestimmt für die Spuren zu tadeln, die sie in ihrem kindlichen Übermut auf der Tischdecke oder den Wohnzimmermöbeln hinterließ. Der Waffenstillstand bestand schließlich darin, dass sie einander friedlich aus dem Weg gingen.

      Die Entdeckung warf Amelia dennoch ziemlich aus der Bahn. Sie ermahnte sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen; sie wollte die Sache erst bestätigt wissen, bevor sie sich mit den emotionalen Konsequenzen der Entdeckung auseinandersetzte, dass ihr Vater schwul war. Sie unterdrückte den Schauder, der sie überkam, als sie sich ihren Vater nackt vorstellte, und wandte sich schnell wieder den Zeitschriften zu. Doch ihr war die Lust vergangen, das Verhältnis von Penisgröße und Homosexualität zu untersuchen.

      Am nächsten Tag opferte Tomás seine alte Jeans und funktionierte sie zu einer Badehose um. Angesichts von Jaimes stylischen kurzen Streifenshorts hatte er sich in seiner altmodischen Badehose zunehmend unwohl gefühlt. Er zog sich sein weites Dallas-Cowboys-T-Shirt an und beschloss, es nur zum Schwimmen auszuziehen. Sooft er auch in den Spiegel schaute, seine Brust- und Bauchmuskeln wollten sich einfach nicht entwickeln – im Gegensatz zu Jaimes.

      Amelia hatte er sich schon immer enger verbunden gefühlt als den anderen Blauen. Bei ihr spürte er eine besondere Komplizenschaft, die sich nicht zuletzt auf ihrer beider Überzeugung gründete, die Intelligentesten der Klasse zu sein. Was nicht hieß, dass sie die besten Noten hatten – Tomás war zu faul und Amelia zu rebellisch –, aber sie brachten es ohne viel Mühe auf Achten und Neunen. Sie hatten eine deutlich schnellere Auffassungsgabe als ihre Mitschüler und stellten die klügsten Fragen – im Unterricht, aber auch sonst. Selbst innerhalb der Gruppe glaubte Tomás, dass seine Verbindung zu Amelia etwas Besonderes war. Angesichts Jaimes Übertreibungen, seiner mitunter heftigen Ausbrüche oder Marios Missgeschicken und Irrtümern wechselten sie verschwörerische Blicke und verstanden sich auch ohne Worte. Vielleicht gab es zwischen ihnen auch eine Art Seelenverwandtschaft, an der Mercedes ihren Anteil hatte. Amelias Mutter hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihr Tomás der liebste von Amelias Freunden war.

      Doch in den letzten Wochen hatte er


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