Die Korrupten. Jorge Zepeda Patterson
Was hat Cristina Kirchner, was ich nicht habe?, fragte sich Amelia, während sie sich vor dem Spiegel die linke Augenbraue nachmalte. Es kostete sie von Tag zu Tag mehr Zeit, den Schminkplan ihrer Stylistin zu befolgen, alle Cremespuren zu beseitigen und die letzte fettige Hautstelle abzudecken.
Am Vorabend hatte sie an einem exklusiven Empfang zu Ehren der argentinischen Präsidentin in Los Pinos teilgenommen. Da sich der Generalstab zur Einhaltung der Frauenquote verpflichtet gefühlt hatte, war sie sogar am zentralen Tisch platziert worden, wo sich die ranghöchsten Politiker um die südamerikanische Staatschefin versammelten. Als Vorsitzende der PRD, der derzeit größten Oppositionspartei, war Amelia die wichtigste Frau in der mexikanischen Politik, aber das hieß noch nicht, dass sie bei Präsidialangelegenheiten in die erste Reihe gebeten wurde. Mit dem Einzug der PRI ins Parlament war auch die Frauenfeindlichkeit dorthin zurückgekehrt, obwohl die Institution in Amelias Augen davon noch nie völlig frei gewesen war. Normalerweise wurde die Frauenquote durch die Ehegattinnen der Minister erfüllt – die Anwesenheit einer ausländischen Präsidentin hatte endlich zum Bruch dieser Tradition geführt.
Während des ganzen Abends hatte sie die Witwe und Nachfolgerin von Néstor Kirchner aus nächster Nähe unter die Lupe genommen und es nicht vermeiden können, Vergleiche zwischen sich und der Präsidentin anzustellen. Die Kirchner verfügte über die nötige Erfahrung und Führungsqualitäten, aber ihre mangelnde Schlagfertigkeit und ihr spärlicher Sinn für Humor gaben Amelia das Gefühl, sich geschickter auf der politischen Bühne zu bewegen. Sie überlegte sich eine Reihe von möglichen Spitznamen für Doña Cristina, aber am Ende dachte sie, dass »die Stute«, wie man die Argentinierin in ihrer Heimat nannte, doch am besten zu ihr passte. Die für ihre schmale Statur viel zu breiten Hüften – und das wiehernde Lachen – erinnerten tatsächlich an ein Pferd.
Das Einzige, was sie hat und ich nicht, ist ein toter Ehemann, der ihr die Macht vererbt hat, resümierte Amelia am Ende des Abends. Sie empfand sich selbst als eloquenter, belesener und versierter im Umgang mit der Öffentlichkeit als die Frau, die ihr da gegenübersaß. Und obendrein auch hübscher.
Das bestätigte sie in ihrer Entscheidung, in der Politik aktiv geworden zu sein, eine Aufgabe, die sie im Großen und Ganzen eher frustrierte.
Doch schon am folgenden Tag, ohne Kirchner direkt vor Augen, war sie sich ihrer selbst wieder weniger sicher. Die politischen Zeiten waren nicht gerade die besten, um Oppositionsführerin zu sein. Die PRI war im Kongress die stärkste Fraktion und offenbar immer weniger an einer Einigung mit den anderen Parteien interessiert. Ihr Sieg war so deutlich gewesen, dass sie die Stimmen der anderen nicht brauchte.
Die haben mehr Angst vor einem kritischen Hashtag als vor der PRD und der PAN zusammen, sagte sich Amelia, während sie sich ein letztes Mal mit dem Pinsel über das Gesicht strich. Sie begegnete der bevorstehenden Schlacht mit einem entschlossenen Blick, der zu ihrem Markenzeichen geworden war, seit sie sich in ihren frühen Tagen als Aktivistin wegen ihrer Unbeugsamkeit einen Namen gemacht hatte. Ihr »Powerpuff-Girl-Gesicht« hatte die regierungskritische Presse es getauft, nach den drei Superheldinnen aus der Cartoonserie, worüber sie sich insgeheim freute.
Nach einem letzten Blick auf ihren straffen, anmutigen Körper ging sie durch die Wohnung in ihr Schlafzimmer, einen kämpferischen Slogan auf den Lippen: Höchste Zeit, sie zu stoppen, bevor Salazar aus dem Präsidenten einen mexikanischen Putin macht. Und damit fielen ihr die Nachrichten über den amtierenden Innenminister wieder ein: Seine riesenhafte, eiserne Gestalt schien endlich Risse zu bekommen, irgendetwas im Zusammenhang mit dem Tod von Dosantos hatte in dem Pressespiegel gestanden, den sie wie fast immer morgens noch vor dem Aufstehen im Bett überflogen hatte. Sie musste dringend ein paar Anrufe tätigen, dachte sie, während sie zügig in ihre Kleider schlüpfte.
»Alicia, verbinde mich bitte mit Tomás«, bat sie ihre Assistentin von ihrem Bürohandy aus.
»Tomás Arizmendi?«
»Wen sonst?«, antwortete Amelia ungeduldig. Für sie gab es keinen anderen Tomás als den Freund, mit dem sie so viele prägende Phasen ihres Lebens verband, von denen manche auch Spuren hinterlassen hatten. Als ihr jedoch bewusst wurde, dass es schon ein paar Jahre her war, seit sie zuletzt mit Tomás gesprochen hatte, bereute sie ihren gereizten Ton.
»Warte, Alicia! Nehmen wir doch lieber die sichere Verbindung mit Mario Crespo. Tomás’ Leitung ist bestimmt schon angezapft.«
Der gute Mario, dachte Amelia. Er war der Einzige der vier Blauen, der versucht hatte, ihre Freundschaft am Leben zu halten, selbst dann, als sie und Jaime sich durch ihr obsessives Studium mehr und mehr von ihm entfernt hatten. Nur Tomás ließ ihn noch an seinem Leben teilhaben, obwohl das wohl mehr mit dem gutmütigen Charakter des Journalisten zu tun hatte als mit ehrlichem Interesse.
»Auf dem Handy geht niemand ran, und zu Hause hatte ich nur seinen Sohn am Telefon. Anscheinend ist Mario heute ganz früh aus dem Haus. Soll ich dir den Wagen schicken? Dein Frühstück mit Senator Carmona ist in fünfzehn Minuten.«
»Versuche es weiterhin bei Mario und stell ihn zu mir durch, sobald du ihn am Apparat hast. Ich breche gleich auf.«
Die Fahrt durch die Colonia Roma hatte diesmal nicht den gewohnten Effekt. Normalerweise schätzte sie das chaotische Straßenbild mit den baumbewachsenen Grünstreifen, die herrschaftlichen Villen im französischen Stil, zwischen denen sich winzige Kramläden und bescheidene Wohnhäuser drängten, ein getreues Abbild der glücklichen und weniger glücklichen Zeiten, die die Colonia seit ihrer pompösen Gründung hundert Jahre zuvor erfahren hatte. Die Gegend erschien ihr wie ein Symbol für das ganze Land. Doch mehr noch als den Anblick der Gebäude genoss Amelia den der vielen verschiedenen Menschen. Es verging nicht eine Woche, in der sie nicht Zeugin einer neuen Geschäftsidee wurde, die sich auf der Straße darbot. Der Einfallsreichtum, mit dem sich die Leute aus dem Nichts eine Beschäftigung suchten, überraschte sie immer wieder aufs Neue.
An diesem Morgen aber fehlte ihr jeglicher Sinn für soziologische Betrachtungen. Die Sorge um Tomás beherrschte ihre Gedanken. So wie sie den Innenminister kannte, würde der den Angriff auf seine Person nicht tatenlos hinnehmen. Sie musste mit ihrem Freund sprechen, um die Gefahr abzuschätzen, in der er sich befand. Und gleichzeitig musste sie die Gelegenheit nutzen, die ihr ein Skandal dieses Ausmaßes auf politischer Ebene bot. Das ganze Land sprach vom Tod der Schauspielerin. Die Welle der Erschütterung könnte der Moment sein, auf den sie alle gewartet hatten, um die neue Regierung zumindest in die Defensive zu drängen. Amelia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das Frühstück mit Carmona würde interessanter werden als gedacht.
»Danke, Herr Senator, dass Sie mich in meinem Viertel besuchen«, begrüßte Amelia einen eleganten und – trotz seines fortgeschrittenen Alters von über siebzig – sehr stattlichen Mann, der vom Tisch aufgestanden war und ihr die Hand gab.
»Um mit der schönsten meiner Kolleginnen zu frühstücken, würde ich bis nach Timbuktu reisen«, erwiderte Carmona.
Eigentlich ließ sich Amelia von Politikern nicht umgarnen, nicht einmal mit Worten. Im Laufe ihrer Karriere hatte sie schon unzählige Kübel kaltes Wasser über Männer ausgeschüttet, die versucht hatten, sie in geschäftlichen Angelegenheiten um den Finger zu wickeln oder durch geschicktes Bezirzen herabzuwürdigen. Natürlich wusste sie, dass sie attraktiv war, und spielte auch gern damit: Ohne sich provokant zu kleiden oder zu schminken, setzte sie ihre Schönheit gekonnt ein, wenn sich ein dafür empfänglicher Gesprächspartner durch ihr Auftreten einschüchtern ließ. Die Verhandlungen verliefen in solchen Fällen in der Regel zu ihrem Vorteil. Dennoch achtete sie konsequent darauf, dass ihr Äußeres in ihren Geschäftsbeziehungen lediglich ein Subtext war und nicht die Basis, auf der sich diese Beziehungen entwickelten.
Ramiro Carmona hingegen hatte ein beinahe geschlechtsneutrales Auftreten. Mit seiner förmlichen, fast schon übertrieben zuvorkommenden Art war er alles andere als ein Verführer-Typ. Er gehörte nicht zu der Sorte von Politikern, die sich von einem tiefen Ausschnitt blenden ließen, und auch nicht zu den noch zahlreicheren, die eine sexuelle Anspielung mehr oder minder geschickt in einem höflichen Lob versteckten. Amelia schätzte ihn dafür, dass er sie so behandelte wie alle anderen