Chefarzt Dr. Norden 1164 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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Der April hatte erst begonnen und brachte bereits das sprichwörtlich wetterwendische Wechselspiel am Himmel über München. Eben noch hatten sich die charakteristischen Türme der Liebfrauenkirche hinter dicken, grauen Wolkenpaketen versteckt, aus denen ein feiner, durchdringender Regen geströmt war. Dann hatte eine frische Brise das Grau einfach beiseite geschoben, gleichsam den lichtblauen Frühlingshimmel sauber poliert, als liebliche Bühne für den nun wieder strahlenden Sonnenschein.
Dr. Daniel Norden warf einen langen Blick aus dem Fenster, entdeckte im frischen Grün der Beete hinter dem Haus Regentropfen, Diamanten gleich, die dafür sorgten, dass die zarten Blüten von Narzissen und Tulpen noch schöner schimmerten. Durch das halb geöffnete Fenster strömte frische, klare Luft herein, in der ein süßer, verheißungsvoller Duft lag. Der Frühling ließ sein blaues Band einmal mehr durch die Lüfte flattern…
»Kaffee ist fertig.« Dr. Felicitas Norden, genannt Fee, stellte die Kanne auf den schön gedeckten Frühstückstisch und lächelte ihrem Mann zu. »Kein Hunger?«
»Doch, sicher.« Er schloss den Fensterflügel und gesellte sich zu ihr. Obwohl die Nordens beruflich sehr eingespannt waren, er als Leiter der Behnisch-Klinik, sie als Chefin der Pädiatrie, nahmen sie sich doch stets Zeit für die gemeinsamen Mahlzeiten. Die knappe Freizeit sinnvoll zu nutzen, sodass auch ihr Privatleben nicht zu kurz kam, war wohl eines der Geheimnisse ihrer harmonischen Ehe. Und auch der Grund, dass sie nach vielen Jahren und mit fünf bereits erwachsenen Kindern noch immer nicht nur ein Ehepaar, sondern auch ein Liebespaar waren.
»Der Kollege Sommer macht sich. Es war eine gute Entscheidung, ihn einzustellen«, merkte der attraktive Mediziner in den besten Jahren nun an. »Er kann wirklich etwas auf seinem Gebiet.«
Fee musterte ihren Mann mit einem nachdenklichen Blick ihrer erstaunlich blauen Augen. »Er ist noch ziemlich jung für einen Chirurgen, nicht wahr?«
»Sicher.« Daniel schmunzelte. »Ich kenne deine Vorbehalte gegen Überflieger. Aber Matthias Sommer ist kein Streber. Er ist mit Leib und Seele Chirurg. Der große Eingriff gestern am offenen Herzen, das war eine erstaunliche Leistung. Ich habe mit echter Bewunderung zugesehen.«
»Hört, hört«, kam es da von der Tür her, durch die Désirée Norden das Esszimmer betrat. Das hübsche neunzehnjährige Mädchen gähnte herzhaft und ließ sich dann mit einem Seufzer auf einen Stuhl fallen. Désis Blässe und die Tatsache, dass ihre Augen nur mehr Schlitze zu sein schienen, sprachen für einen deutlichen Schlafmangel. »Auf welchem Kanal lief denn die große OP?«
»Vielleicht solltest du noch eine Runde an deiner Matraze lauschen, Liebchen«, riet Daniel Norden seiner Tochter nachsichtig. »Du siehst sehr mitgenommen aus. Party?«
»Ja, in meinem Zimmer, bis halb drei.« Sie gähnte noch einmal und stellte dann klar: »Aber nicht das, was du denkst, Papilein. Ich hatte sozusagen einen kreativen Schub. Habe zehn Entwürfe fertig gestellt. Unglaublich, aber wahr.«
Dési spielte mit dem Gedanken, Modedesign zu studieren.
»Muss das unbedingt nachts sein?«, wunderte er sich.
»Es muss sein, wenn es sein muss. So was nennt man Kreativität«, erwiderte sie seufzend und trank einen großen Schluck schwarzen Kaffee. »Irgendwann bin ich mit dem Stift in der Hand eingeschlafen. Um halb sechs hat der Professor mich dann ziemlich unsanft geweckt.«
»Wie ist denn das zu verstehen?«, wunderte Fee sich. »Konnte Janni etwa nicht mehr schlafen?«
»Ich nehme es an. Er hat seine Zimmertür zugeknallt und ist dann los marschiert, ausstaffiert wie ein Forscher oder so was.« Dési fielen schon wieder die Augen zu.
»Wohin wollte er denn in aller Frühe?«, forschte Fee nach.
Doch ihre Tochter hob nur die Schultern, legte den Kopf auf die Arme und war bereits wieder auf dem direkten Weg in Morpheus’ Reich. Fee warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.
»Soll ich sie in ihr Bett tragen?«, scherzte Daniel.
In diesem Moment wurde die Haustür aufgeschlossen und Désis Zwillingsbruder Janni erschien. Tatsächlich bot er an diesem Morgen einen eher ungewöhnlichen Anblick. Zu seiner überaus wetterfesten Kleidung hatte er sich ein Fernglas und eine Kamera um den Hals gehängt. Noch auffallender waren allerdings der entrückte Gesichtsausdruck und das milde Lächeln. Beides fiel Fees mütterlich geschultem Blick natürlich sofort auf.
Janni wollte gleich in seinem Zimmer verschwinden, doch Fee rief ihn und bot an, mit ihnen zusammen zu frühstücken.
»Danke, ich habe gar keinen Hunger, vielleicht später«, murmelte er aber nur zerstreut und war gleich darauf über die Treppe im oberen Stockwerk verschwunden.
»Siehst du, was ich sehe?«, fragte Fee ihren Mann.
»Kommt darauf an. Was meinst du, Liebes?«
»Unser Sohn ist verliebt, Dan. Man sieht es ihm an der Nasenspitze an. Es ist, als hätte er ein großes Schild umhängen, auf dem ein dickes, rotes Herz prangt.«
»Ziemlich plastisch. Und woraus schließt du das?«
Sie verdrehte die Augen. »Männer! Keinen Sinn für die Dinge des Lebens. Es war doch nicht zu übersehen.«
Dési hob den Kopf und gähnte. »Ich sollte mich noch mal aufs Ohr hauen, tut mir leid, dann bis später…«
»Warte mal einen Moment«, bat ihr Vater. »Wieso geht dein Bruder in aller Herrgottsfrühe mit Kamera und Fernglas aus dem Haus? Will er vielleicht neuerdings Wildbiologe werden?«
Das Mädchen lachte leise. »Der mit all seinen Allergien? Ein Wespenstich und das Studienjahr ist gelaufen.« Sie streckte sich. »Nein, er ist verliebt. So ein Mädchen, das morgens in aller Frühe Vögel im Englischen Garten beobachtet. Ich glaube, sie studiert wirklich Biologie.«
»Aber wie … ich meine, wo ist Janni ihr über den Weg gelaufen?«, wunderte Fee sich.
Dési erhob sich und zuckte die Schultern. »Er kam von einer Party bei einem Kumpel und ist ihr im Park begegnet.«
»Und hat dieses Mädchen auch einen Namen?«, fragte Daniel.
»Sie heißt Sissi Berger, ist hübsch und nett. Leider eine eingefleischte Frühaufsteherin, also nicht ganz passend für meinen Freundeskreis.«
»Und Janni steht nur für sie so früh auf?«, hakte Fee nach, die ihre Zwillinge als ausgesprochene Langschläfer kannte.
»Das tut er.« Dési grinste. »Er ist total verschossen in sie.«
Daniel musste schmunzeln, seine Frau hingegen schien das gar nicht lustig zu finden. Auf der Fahrt zur Behnisch-Klinik gab Fee sich auffallend wortkarg. Und als ihr Mann den Wagen auf dem reservierten Platz hinter dem Klinik-Gebäude abstellte, seufzte sie: »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Irgendwann musste das ja passieren. Es ist der Lauf der Welt«, versuchte er, sie zu beruhigen.
»Was meinst du?«, wunderte Fee sich.
»Dass der Junge sich verliebt hat …«
»Ach, Dan, halte mich doch nicht für naiv. Mir geht es um etwas ganz anderes. Wenn Janni diesem Mädchen nachläuft, das wir nicht mal kennen, wenn er seine Gewohnheiten für sie ändert, dann sollten wir vielleicht …«
»Dann sollten wir uns ganz bestimmt heraushalten«, mahnte er sie mit verständnisvoller Nachsicht. »Janni ist erwachsen, er wird sich mit Recht jegliche Einmischung in sein Intimleben verbitten.«
»Ich möchte doch nur sicher gehen, dass er nicht enttäuscht wird, er ist sehr sensibel.«
»Fee, mein Herz, du bist eine wunderbare Mutter. Du hast Janni die ersten Schritte beigebracht, warst immer für ihn da, hast ihn getröstet, wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte oder wenn die Gedichte von Rilke ihn zur Verzweiflung gebracht haben. Du hast ihn geführt und ihm die lange Leine gelassen. Du hast alles richtig gemacht als Mutter. Jetzt ist es an der Zeit, die Leine los zu lassen, damit dein »Kind« seine eigenen Erfahrungen machen kann. Und dazu gehört nun auch mal ein bisschen Liebeskummer.«
»Ich