Rückruf Null. Джек Марс
als je zuvor, dass sie an keine glückliche Kindheitserinnerung denken konnte, ohne dabei zu erkennen, dass das Leben ihres Vaters, und damit auch große Teile ihres Lebens, eine riesige Lüge war, eingewickelt in tausende kleinere Lügen. Das hellste Licht ihres jungen Lebens, ihre Mutter, wurde deswegen brutal und kalt ausgelöscht, durch die Hand eines Mannes, dem Maya dummerweise vertraut hatte.
Und ihr eigener Vater wusste nicht nur davon. Er ließ den Mann, John Watson, frei.
„Maya”, begann ihr Vater, „bitte, lass -”
„Du hast hier nichts zu sagen!” blaffte sie ihn an. „Sie ist wegen dir tot!” Sie überraschte sich selbst mit der Intensität und war dann erneut überrascht, dass ihr Vater nicht in Wut ausbrach. Stattdessen wurde er still und starrte auf den Tisch wie ein getretenes Hündchen.
„Schaut mal, ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht”, sagte Greg leise, „aber ich glaube, ich mache mich besser auf den Weg.”
Er wollte gerade aufstehen, als Maya einen drohenden Finger in sein Gesicht hielt. „Setz dich! Du gehst nirgendwo hin."
Greg setzte sich sofort wieder auf seinen Stuhl, als sei sie eine Militärausbilderin, die einen Grenadier herumbefahl. Maria beobachtete sie distanziert, eine Augenbraue ein wenig hochgezogen, als wartete sie darauf, herauszufinden, wie dies enden würde. Die Schultern ihres Vaters fielen vornüber und sein Kinn berührte fast sein Schlüsselbein.
„Verdammt”, murmelte Maya, als sie sich mit den Händen über ihr kurzes Haar fuhr. Sie dachte, dass sie damit schon durch wäre, dass sie dieses emotionale Aufbrausen, das wie fehlgeleitete Welle über ihr zusammenbrach, schon überwunden hatte, dass sie es nicht mehr versuchte, den lächelnden, humorvollen Professor, den sie Papa nannte, mit dem tödlichen Geheimagenten zu vereinbaren, der für das Trauma verantwortlich war, das sie für den Rest ihres Lebens hätte. Sie dachte, dass die Weinkrämpfe tief in der Nacht vorbei waren, wenn sie sich umzog und die dünnen weißen Narben der Nachricht sah, die sie in ihr eigenes Bein geritzt hatte, damals als sie dachte, dass sie stürbe und ihr letztes Bisschen Kraft dazu verwendete, um ihm einen Hinweis auf den Aufenthaltsort ihrer Schwester zu geben.
Wage es nicht zu heulen.
„Das hier war ein Fehler.” Sie stand auf und ging auf die Tür zu. „Ich will dich nie wieder sehen.”
Sie war zu wütend, um zu weinen, bemerkte sie. Zumindest war sie darüber hinweg.
Maya setzte sich hinter das Steuer des Mietwagens und drehte die Schlüssel im Zündschloss um, bevor Greg hinter ihr herausgejoggt kam.
„Maya!” rief er. „Hey, warte!” Er versuchte, den Türgriff auf der Beifahrerseite zu ziehen, doch sie hatte schon die Türen verschlossen. „Mach schon. Lass mich rein.”
Sie begann, rückwärts aus der Einfahrt zu fahren.
„Das ist nicht lustig!” Er schlug mit der Hand gegen eine Scheibe. „Wie soll ich denn wieder zurückkommen?”
„Deine Mama kann dir bestimmt dabei helfen”, rief sie ihm durch das geschlossene Fenster zu. „Versuch doch, sie anzurufen.”
Und dann fuhr sie weg, die Straße hinunter. Im Rückspiegel sah sie, wie Greg, mit seinen Händen ungläubig am Kopf, immer kleiner wurde. Sie wusste, dass sie dafür an der Akademie die Hölle erwartete, doch in diesem Moment war es ihr egal. Als das fremde Haus ihres Vaters kleiner hinter ihr wurde, fühlte es sich an, als ob ein Gewicht von ihren Schultern fiele. Sie war aus Familiensinn, aus Verantwortungsgefühl an diesem Tag hierhergekommen. Es war eigentlich eine Last.
Doch jetzt bemerkte sie, dass es in Ordnung für sie wäre, wenn sie die beiden oder dieses Haus nie wiedersähe. Es ginge3
ihr auch allein gut. Es gab keine Ende dafür und es würde niemals eines geben. Ihre Mutter war tot und ihr Vater war für sie ebenfalls gestorben.
KAPITEL VIER
Karina Pavlo saß in der hintersten Ecke der Theke, wurde zwar von Bierzapfhähnen verdeckt, doch hatte eine klare Sicht auf den vorderen Eingang. Sie hatte einen Ort gewählt, an dem niemand sie jemals vermutete, eine heruntergekommene Bar im südöstlichen Teil von Washington DC, nicht weit entfernt von Bellevue. Es war nicht gerade die feinste Nachbarschaft und die Abenddämmerung setzte allmählich ein, doch sie war nicht über Taschendiebe oder Straßenräuber besorgt. Sie hatte ein größeres Problem.
Außerdem hatte sie gerade selbst einen Kleindiebstahl begangen.
Nachdem sie den Geheimdienstagenten abgehängt und sich eine Weile in einem Bücherladen versteckt hatte, war Karina wieder hinaus auf die Straße gegangen, doch für nur weniger als einen Block, bevor sie ein Kaufhaus betrat. Abgesehen davon, dass sie barfuß ging, war sie immer noch schick bekleidet und mit hocherhobenem Kopfe und einem selbstbewussten Gang, den sie einlegte, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sah sie wie jegliche Geschäftsfrau der gehobenen Mittelklasse aus.
Sie ging direkt auf die Frauenabteilung zu und nahm ein paar Stück lässige Kleidung von der Stange, Stücke, die keine Aufmerksamkeit erregten. Sie hinterließ ihren Rock, ihre Bluse und ihren Blazer in der Umkleidekabine, zog ein Paar Turnschuhe an und nahm eine andere Tür wieder hinaus auf die Straße, ohne dass sie jemand zwei Mal angeblickt hätte. Zwei Häuserblocks weiter machte sie bei einem anderen Geschäft Halt, gab vor, sich für ein paar Minuten umzusehen und verließ es wieder mit einer gestohlenen Sonnenbrille und einem Seidenschal, den sie über ihr dunkles Haar gebunden hatte.
Zurück auf der Straße erblickte sie einen pummeligen Mann in einem gestreiften Polohemd mit einer Kamera, die um seinen Hals hing. Er sah wie der absolut typische Tourist aus. Sie rempelte ihn rau an, als sie aneinander vorbeigingen, schnappte nach Luft und entschuldigte sich sofort. Sein Gesicht wurde rot und er öffnete seinen Mund, um sie anzuschreien, bis er sah, dass sie schlank, hübsch und braunhaarig war. Er murmelte eine Entschuldigung und eilte davon, bemerkte nicht, dass sein Portemonnaie verschwunden war. Karina war schon immer geschickt mit ihren Händen gewesen. Sie hieß Stehlen nicht gut, doch dies war eine Notlage.
In dem Portemonnaie waren fast hundert Dollar Bargeld. Sie nahm das Geld und warf den Rest - den Ausweis, die Kreditkarten und die Fotos von Kindern - in einen großen blauen Briefkasten an der nächsten Ecke.
Schließlich nahm sie ein Taxi auf die andere Seite der Stadt, in Richtung Osten, wo sie in die Spelunke ging, deren Fenster verdunkelt waren und die nach billigem Bier roch. Sie setzte sich an die Theke und bestellte ein Erfrischungsgetränk.
Der Fernseher hing über den Zapfhähnen. Er war angeschaltet und zeigte einen Nachrichtenkanal, der über die Sportergebnisse des vorherigen Abends berichtete. Sie nippte an ihrem Getränk, beruhigte ihre Nerven und fragte sich, was sie als Nächstes täte. Sie konnte nicht zurück zum Hotel, das wäre eine dämlich Idee. Außerdem konnten sie dort nichts finden, außer Kleidung und Toilettenartikeln. Sie kannte eine Telefonnummer auswendig, doch sie wollte nicht hinaus, um ein öffentliches Telefon zu finden. Es gab immer weniger von ihnen, selbst in der Stadt. Der Geheimdienst hatte ihr Handy und sie könnten die öffentlichen Telefone überwachen.
Sie dachte darüber nach, den Barkeeper darum zu bitten, sein Telefon zu benutzen, doch ihr Kontakt war eine internationale Nummer und das hätte ungewollte Aufmerksamkeit auf sie ziehen können.
Das nächste Mal, als Karina auf den Fernseher hochblickte, hatte der Beitrag sich geändert. Ein Nachrichtensprecher, den sie nicht erkannte, sprach und auch wenn die Lautstärke zu niedrig war, um ihn zu verstehen, konnte sie ganz klar die Worte auf der unteren Bildleiste erkennen: HARRIS UND KOZLOVSKY HALTEN PRIVATES TREFFEN.
„Korva”, seufzte sie. Scheiße. Dann auf englisch: „Können Sie das bitte lauter machen?”
Der Barkeeper, ein lateinamerikanischer Mann mit einem Schnauzbart, blickte sie für einen Moment finster an, bevor er sich umdrehte, um ihr zu zeigen, wie offensichtlich er sie ignorierte.
„Zalupa”