Flucht. Benjamin Withmer

Flucht - Benjamin Withmer


Скачать книгу
mein Ernst«, sagte Checkers. »Jeden Tag versuche ich, etwas zu lernen. Heute also über Vögel.«

      Jim schnürte sich die Arbeitsstiefel auf. Er lehnte sich gegen einen Spind und zog sie mit Druck auf den Absatz aus.

      »Da drüben gibt’s einen Rasierer und Wasser, wenn du dich rasieren willst«, sagte Checkers. »Und irgendwo können wir sicher einen Rasentrimmer finden.«

      Jim zog seine Zivilsachen aus dem Spind. Ein grünes Leinenhemd, braune Drillichhosen und eine Carhartt-Jacke aus etwas hellerem Braun, Ärmel und Kragen schon in der Auflösung, die Ellbogen bis zum Futter durch. Er warf den Haufen auf eine Bank, ein Geruch von Lagerfeuer und fauliger Erde stieg auf wie eine Wolke.

      »Du könntest dir sogar den Hintern waschen«, sagte Checkers. »Du riechst wie einer, der zum Kacken ins Freie geht.«

      Ohne den Knoten aufzumachen, zog Jim die Uniformkrawatte aus und hängte sie an den Kleiderhaken.

      Checkers sagte: »Kann ich dich mal etwas fragen, Jim?«

      Das Wärterhemd und die Uniformjacke folgten der Krawatte, dann die Hosen. In seinen langen Unterhosen drehte Jim sich um und sah Checkers an.

      Der hob sich die Hand vor die Nase, wedelte damit. »Ich meine das wirklich ernst, mit dem Hinternwaschen«, sagte er.

      »Stell deine Frage.«

      »Ich und ein paar von den Jungs haben sich neulich über dich unterhalten. Darüber, warum du so geworden bist, wie du bist.«

      Dieses Mal spuckte Jim den Tabaksaft auf den Boden, einen halben Meter vor Checkers nackten Füße.

      »Eine der Sachen, die ich gehört habe, ist, dass dein Vater dich nie ins Haus gelassen hat. Dass du draußen bei den Hühnern schlafen musstest. Das würde jeden verändern, zwischen Hühnern aufzuwachsen.

      »Ich verstehe nicht, warum ihr alle immer nur herumhockt und über andere Leute redet«, sagte Jim. »Das kapiere ich nicht.«

      »Das ist es, was Leute tun, Jim. Zusammenhocken und über andere Leute reden«, sagte Checkers und zog sich die Socken an. Aber er machte keine Anstalten, in die Schuhe zu schlüpfen. Er saß nur da und beobachtete Jim. Gluckste manchmal.

      Also zog Jim sich seine Sachen an und ging. Vor dem Tor zog er sich die Strickmütze über die Ohren und ließ das Old Lonesome hinter sich. Wie jedes Mal wollte etwas in ihm, dass er sich umdrehte, aber er tat es nicht. Er konnte es hinter sich spüren, direkt hinter seiner Schulter, breit und enorm. Aus Granitblöcken, groß wie Automotoren gebaut, die Häftlinge selbst hatten die Steine aus dem Dos Tortugas Mountain herausgehauen. Ob man zurückschaute oder nicht, war egal. Man konnte es überall spüren.

      Er durchquerte den kleinen Park neben dem Gefängnis und dachte dabei an Checkers. Vorbei an den eng stehenden Ziegelgebäuden und Fassaden lief er die Hauptstraße hoch, alle Straßenlampen waren mit Schleifen und Weihnachtsschmuck verziert. Noch immer dachte er an Checkers.

      Ein paar Blocks weiter war The Yard. Jim spielte mit dem Gedanken, dort aufzukreuzen. Er stellte sich vor, wie er selbst durch die Tür tritt, seine Kontur verschwommen in der von Zigarettenqualm und Bratendunst geschwängerten Luft, und wie alle Gefängniswärter sich umdrehen, um zu sehen, wer da kommt. Und wenn dann nach ihm Checkers hereinkommt, ist Jim schon in Wartestellung und rammt ihm eine Flasche zwischen die Zähne. Besorgt es dem Kerl so, dass der es sein Lebtag nicht vergessen wird.

      Jim verscheuchte den Gedanken. Er wusste, dass er besser daran tat, ihn zu vergessen. Alles, was er an Problemen mit nach Hause brachte, bedeutete langwierige Diskussionen mit Ruby. Für heute stand ihm eh schon eine schwierige Unterredung bevor. Dieselbe Diskussion, die sie jedes Silvester führten. Warum wollte er mit ihr nicht ausgehen, nie?

      Er bog nach rechts in die Fifth Street ein. Die Straßenlaternen an der Ecke und die Außenbeleuchtungen der Häuser erwachten zum Leben und rissen Pappeln und Ulmen aus der Dämmerung.

      Er spuckte aus.

      Und dann heulte die Sirene.

image

      Jim ist jetzt unterwegs auf dem Highway 19, von hier ist es nur noch eine Meile bis nach Hause. Wenn die Sirene heult, sollte man nicht einfach weiterlaufen. Man sollte sich im Gefängnis zurückmelden, egal wo man gerade ist. Aber nichts kann Jim dazu bringen, in diesen Umkleideraum zurückzukehren.

      Dann hört er den Wagen hinter sich.

      Er weiß genau, was es ist.

      Zu seiner Linken ragen die Berge auf, machen ihn krank vor Sehnsucht danach, sie hochzukraxeln. Ein kleines Lager zu bauen, eine Falle für das Abendessen aufzustellen. Das Wochenende dort zu verbringen. Jim bleibt stehen und pafft seinen Atem in den Schnee.

      Es ist ein Chrysler Coupé. Der Fahrer beugt sich hinüber und öffnet die Beifahrertür. Es ist der stellvertretende Direktor Adam Bellingham. Ein teigiger Mann in den frühen Fünfzigern, ein Kinn, das sorgenvoll auf die Krawatte fällt, bemitleidenswerte braune Augen, die einen anbetteln, nicht bemerkt zu werden. Aber man darf ihn nicht nach seinem Äußeren beurteilen. Vor vierundzwanzig Jahren hat Bellingham sich nach Frankreich abgesetzt und ist mit mehr Medaillen zurückgekommen, als in einen Eimer passen. Wenn Jim jetzt eine Person absolut nicht sehen will, dann ihn.

      »Genau der, den ich suche«, sagt Bellingham. »Steig ein.«

      Jim kann den Temperatursturz fühlen. Der erste Schnee flüstert um ihn herum, schneidet durch seine Jacke. Die Espen am Straßenrand ächzen und knacken mit ihren kahlen Ästen. »Du bist extra hergefahren, um mich zu holen?«

      »Ich bin hergefahren, um dich zu holen, ja.«

      »Du solltest besser weiterfahren. Ich sag es auch nicht weiter.«

      »Steig ein.«

      Auf dem Beifahrersitz liegt ein Stadtplan. Jim schiebt ihn beiseite und steigt ein.

      »Hast du nicht die Sirene gehört?«, fragt Bellingham.

      »Doch, hab ich.«

      »Aber du bist in die falsche Richtung unterwegs.«

      »Das hängt von der Sichtweise ab«, entgegnet Jim. »Von wo sind sie ausgebrochen?«

      »Aus dem Nordtor. Sie haben Wärter als Geiseln dabeigehabt, und einige von ihnen haben selber auch Uniformen getragen. Die Wachen auf den Schießtürmen hatten Sorge, die eigenen Leute zu treffen.«

      »Weil sie gedacht haben, es sind Wärter?«

      »Was denkst du?«

      »Was hat Direktor Jugg dazu gesagt?«

      »Ich kann mir vorstellen, er hätte sie erschießen lassen, wenn man sie nicht für die Verfolgung brauchen würde.«

      »Verstehe.«

      »Wir werden dafür bezahlt, dass sie nicht ausbrechen. Ich habe nicht besonders viel Sympathie für die, die sich dieser Pflicht entziehen.« Bellinghams Augen sind auf Jim gerichtet. »Wie viele Bier hast du gehabt?«

      »Keins.«

      »In deinem Bart hängt ein Zweig. Ich dachte, du hast im Yard vielleicht ein paar gezischt und bist dann in einen Ringkampf mit einem Busch geraten.«

      »Ich geh nicht in den Yard. Da sind nur Wärter.«

      »Du bist auch ein Wärter, Jim.«

      Jim hebt den Stadtplan hoch. »Haben sie schon bei den Bensons gesucht?«

      »Keine Ahnung.«

      Jim studiert die Landkarte. Er ist gut im Kartenlesen, wenn er Zeit hat. »Du weißt es nicht?«

      »Siehst du ein Funkgerät in diesem Auto? Direktor Jugg gibt die Neuigkeiten über das Lokalradio durch. Anders können wir uns nicht auf dem Laufenden halten, aber er hat nichts über die Bensons gesagt.«

      »Nun, Jugg ist nicht dumm. Ich bin sicher, dass er daran gedacht hat.


Скачать книгу